OT: Herr Hagemann, was trifft die Branche aus Ihrer Sicht aktuell härter: die Kostensteigerung im Zuge der Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus oder die steigenden Rohstoffpreise?
Michael Hagemann: In einer Ergebnisbetrachtung ergibt es keinen Sinn an dieser Stelle einen Unterschied zu machen. Unseres Erachtens ist wichtig, dass die Kostensteigerungen für die Branche eine zu große Belastung darstellen, deren Entwicklung nicht absehbar war. Problematisch in diesem Zusammenhang ist, dass wir uns in der Welt des Sozialrechts bewegen, die ganz bestimmten Regularien unterliegt. Die Branche kann somit nicht so agil reagieren, wie es im freien Markt üblich ist. Die Heterogenität des Marktes, in Verbindung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, machen es schwer, Kostensteigerungen kurzfristig weiterzugeben. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Liquidität und Rentabilität, sodass einige Marktteilnehmer bei extremen Einüssen schnell mit dem Rücken zur Wand stehen.
OT: Gibt es weitere Kosten, die im Laufe der vergangenen Monate untypisch gestiegen sind?
Hagemann: Ja, absolut. Neben etlichen Hilfsmitteln werden auch wichtige Fertigungsteile in Fernost hergestellt. Die Frachtkosten sind seit dem ersten Quartal 2021 förmlich explodiert. Vor allem die Seewege von China nach Nordeuropa sind davon außerordentlich betroffen. Lag man 2019/2020 im Mittel noch unter 2.000 US-Dollar für einen 40’Container, sind es 2021 im Mittel über 10.000 USD. Im Maximum waren es 15.428 USD – das hat zu empfindlichen Kostensteigerungen geführt. Es gibt derzeit Signale im Markt, dass sich die Lage entspannen würde. Dem ist nicht so, die jüngsten Werte, die uns vorliegen, liegen immer noch bei 15.000 USD. Des Weiteren musste auch unsere Branche auf die Hygienevorgaben durch den Gesetzgeber reagieren. Hier gab es Effekte wie das Zurverfügungstellen von Desinfektionsmitteln, Corona-Tests und FFP2-Masken.
Vor allem zu Beginn der epidemischen Lage nationaler Tragweite war unsere Branche zur Sicherstellung von Versorgungen vor allem in institutionellen Einrichtungen extrem belastet. Trotz des hohen Gefährdungspotentials der Pflegemitarbeiter, trotz des hohen Zeitaufwands, der nötig war, um eine Institution betreten zu dürfen (erst Test, dann Wartezeit) und obschon sowohl Test- als auch Hygieneartikel Mangelware und somit extrem teuer waren, hat unsere Branche weder Kosten noch Mühen gescheut, um den Versorgungsalltag sicherzustellen.
Nicht unerwähnt dürfen die signikanten Preissteigerungen für Energie- und Kraftstoffe bleiben. Für ein Gewerbe, das sich zwangsläug viel auf den Straßen bewegt, hat der Sachverhalt wesentliche Auswirkungen auf die Kosten.
OT: Grundsätzlich müssen Kostensteigerungen in einem gewissen Maße wirtschaftlich „eingeplant“ werden. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wo die gestiegenen Kosten Sanitätshäuser überproportional belasten?
Hagemann: Richtig, die Kostenplanung ist betriebswirtschaftlich ein unerlässlicher Bestandteil der Unternehmensplanung. Die 2021 eingesetzte Dynamik, resultierend aus der globalen Vernetzung der Lieferketten, stellt jedoch eine absolute Ausnahmesituation dar, zu der dem gesamten Weltmarkt Erfahrungswerte fehlen und somit gerade für unsere spezielle Branche unmöglich einschätzbar war. Wir reden in diesem Zusammenhang ja nicht nur von Kostensteigerungen, sondern auch von Güterverknappung. Als konkretes Beispiel mögen derzeitige Gespräche mit wesentlichen Herstellern im Bereich Reha-Technik dienen. Sie verzeihen, dass ich keine konkreten Namen oder Zahlen nenne, zumal die Hersteller selbst auch ganz unterschiedlich mit dem Thema umgehen. So finden sich allgemeine Preiserhöhungen auf das gesamte Portfolio ebenso wie selektive Preiserhöhungen auf bestimmte Produkte oder Produktgruppen. Niedrige Preiserhöhungen bewegen sich im Rahmen von 5 bis 10 Prozent. Hohe Preiserhöhungen bewegen sich durchaus auch im hohen zweistelligen Bereich, in Ausnahmefällen sogar im dreistelligen prozentualen Bereich. Aufgrund der Dynamik und den Preisentwicklungen nehmen Unternehmen sogar auch Deckungskäufe in Kauf. Um die in der Planung vorgesehenen Versorgungen auch tatsächlich vornehmen zu können, stockt man sein Lager mit bestimmten Produktgruppen auf, soweit der Hersteller entsprechende Kapazitäten zur Verfügung stellen kann, um zu verhindern irgendwann mit leerem Lager dazustehen. Zum Teil weicht man sogar von seinem Hauptlieferanten ab und weicht auf alternative Hersteller aus, um das Risiko zu minimieren.
OT: Was ist die Konsequenz aus diesen Kostensteigerungen?
Hagemann: Die Konsequenzen können ganz vielfältig und nach Ausrichtung und Positionierung der jeweiligen Unternehmen am Markt ganz unterschiedlich ausfallen. Jedes Unternehmen wird sich in der aktuellen Lage sehr wohl überlegen, wie und wo man noch effektiv investieren kann. Das betrifft sowohl Investitionen in die Technik und Infrastruktur von Unternehmen als auch die Ausweitung und/oder Qualizierung von Fachpersonal. Zu befürchten steht auch, dass Lohnsteigerungen moderat ausfallen, ggf. sogar ausbleiben werden. Und das trotz einer deutlichen Inflationsrate.
Sicherlich wird auch zur Debatte stehen, das Produktportfolio zu überarbeiten, das man gegenüber Versicherten anbieten kann, beziehungsweise aufzahlungsfrei anbieten kann. Neben der Eliminierung, die die Hersteller aufgrund der MDR-Aufwendungen vorgenommen haben, stelle ich mir vor, dass wir an dieser Stelle weitere Eingrenzungen vorfinden werden.
OT: Wie sieht die Reaktion der Krankenkassen auf die höheren Kosten aus? Tragen Sie ihren „Krisenanteil“?
Hagemann: Es gibt ganz unterschiedliche Reaktionen. Auch die Krankenkassen stehen unter enormem Kostendruck. Während es hier jedoch politische Unterstützung in finanzieller Hinsicht gibt, muss unsere Branche lang und hart kämpfen.
In Bezug auf die gestiegenen Hygienemaßnahmen, die erforderlich sind, um Versorgungen direkt am Patienten vorzunehmen, hat es extrem lange gedauert, bis die Krankenkassen bereit waren entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Dazu bedurfte es allerdings auch erst einer gesetzlichen Anpassung in § 127 SGB V. Bedauerlicherweise hat die Heterogenität unseres Marktes zu vielen Vereinbarungen geführt, die aufgrund des Missverhältnisses zwischen Betrag, den die jeweilige Krankenkasse zu leisten bereit war, und Aufwand, um diesen Betrag auch geltend zu machen, kaum Anwendung finden können. Ein weiteres Thema sind die gestiegenen Beschaffungskosten (Rohstoffe und Frachten). Es bedurfte auf Seiten der Leistungserbringer das Instrument der Vertragskündigungen, um in zeitnahe Verhandlungen mit den Krankenkassen einzutreten. Diese Gespräche muss man dann jedoch bisher ausnahmslos als konstruktiv und zielführend bezeichnen.
OT: Welche kurz‑, aber auch langfristigen Folgen kann die Kostenexplosion auf die Branche haben?
Hagemann: Wenn die Situation noch länger anhalten wird und die Krankenkassen an ihrem jetzigen zögerlichen Kurs gegenüber dem Hilfsmittelmarkt festhalten werden, sehe ich mittelfristig ein weiteres Schrumpfen der Anbietervielfalt. Bereits jetzt erobern kapitalgesteuerte Gesellschaften Marktanteile durch Zukäufe. Durch die Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten aus eigener Kraft wird es einigen mittelständischen Unternehmen vermutlich leichter fallen, den Schritt einer Unternehmensveräußerung zu gehen.
OT: Sehen Sie die qualitative Versorgung durch Lieferengpässe oder Rohstoffknappheit gefährdet?
Hagemann: Vielleicht in wenigen Teilbereichen. Unsere Branche ist fachlich extrem gut aufgestellt. Man ist in der Regel praktisch veranlagt und weiß sich auch zu helfen; nötigenfalls wird jede Schraube zweimal umgedreht, um Geräte und Hilfsmittel in Einsatzbereitschaft zu versetzen. Diesbezüglich muss jedoch auch die Frage erlaubt sein, ob wir, in Anbetracht des Verhaltens, welches die Kassenwelt uns entgegenbringt, an dieser Stelle nicht zu ambitioniert agieren – wobei die Leidenschaft unserer Branche natürlich immer der Versorgungssicherheit unseren Patient:innen gilt. Allerdings sind wir auch darauf angewiesen, dass sich der Weltmarkt erholt. Wenn das kurzfristig nicht passiert, werden aufgrund der zusammenhängenden Lieferketten nach und nach weitere Elemente, die Einfluss auf die Patientenversorgung haben, wegfallen. Vorstellbar in diesem Zusammenhang ist, ähnlich wie man es derzeit in anderen Bereichen sieht (z. B. Autoindustrie), dass bestimmte 10-Steller bis auf Weiteres nicht vorgehalten werden können, sodass sich Wartezeiten für Versorgungen außergewöhnlich verlängern oder man auf Interimslösungen ausweichen muss.
OT: Wie lange halten die Betriebe diese Krisen wirtschaftlich aus?
Hagemann: Das kommt ganz auf die Ausrichtung der einzelnen Betriebe an. Für viele kann man sagen, dass die Luft dünn ist, einigen steht das Wasser bereits regelrecht bis zum Hals. Die Entwicklung des aktuellen Infektionsgeschehens ist der momentanen Situation nicht zuträglich. Erneut werden nicht dringend benötigte Operationen verschoben, erneut ist die Pflicht zum Homeoffice ausgesprochen worden etc. Der Markt wurde 2020 arg belastet, die Erholung, die sich im Laufe von 2021 angekündigt hatte, relativiert sich zusehends. Wann und ob 2022 davon die Rede sein kann, ist aktuell nicht abschätzbar. Es ist entsprechend davon auszugehen, dass die Lage angespannt bleibt.
OT: Glauben Sie daran, dass langfristig das Kostenniveau auf den Vor-Corona/Krisen-Stand fällt?
Hagemann: Nein, absolut nicht. Nach unserem Kenntnisstand waren beispielsweise die Frachtraten vor der Krise unterbewertet. Die Überführungen aus Fernost waren meist, wenn überhaupt, gerade kostendeckend. Sollte die Krise also beizeiten überstanden sein, wird man sehr wohl darauf achten, dass Überführungen im protablen Bereich bleiben.
Die Hersteller haben im Rahmen der Krise alles Erdenkliche getan, um die Steigerung ihrer Kostenstruktur nicht eins zu eins an den Handel weiterzugeben. Auch dort stehen also höhere Kosten im Verhältnis geringeren Einnahmen gegenüber, sodass davon auszugehen ist, dass die Einkaufspreise nicht oder nur in geringem Maße zurückgehen werden.
OT: Welche Stellschrauben kann die Politik beispielsweise drehen, um den Betrieben einen Teil der Last zu nehmen?
Hagemann: Die Politik hat sich bis dato immer recht schwergetan, sich im großen Stil für unsere Branche einzusetzen, bisher fanden wir nur punktuell Unterstützung. Die Lobbyarbeit unserer Branche entwickelt sich aber gerade erst und Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Sehr geholfen hat an dieser Stelle, dass sich die wesentlichen Marktteilnehmer konsolidieren, um politischen Einfluss zu nehmen. Als Beispiel möchte ich „Wir versorgen Deutschland“ nennen. Als Rehavital haben wir im vergangenen Jahr damit begonnen, unsere politische Arbeit gemeinsam mit dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, der Egroh, Sanitätshaus Aktuell und dem Reha-Service-Ring (RSR) zu bündeln. Das Ziel ist es, so gut wie es nur geht mit einer Stimme zu sprechen und gegenüber den politischen Akteuren sowohl geschlossen als auch entschlossen aufzutreten. Wir müssen nun die vielleicht einmalige Chance ergreifen, um der Politik klar zu machen, dass wir uns in unseren Forderungen einig sind und diese auch gemeinsam vertreten werden.
Wichtige Stellschrauben sind unter anderem der Abbau von überbordender Bürokratie, die Festschreibung von Leitverträgen für transparente Versorgungsstandards sowie eine effektive Digitalisierung, die den Fachhandel stärkt. Der „neue“ Koalitionsvertrag enthält anscheinend erste positive Ansätze, die jetzt in konkrete Maßnahmen überführt werden müssen.
OT: Die ARGE Leistungserbringer hat mit der HKK bereits eine temporäre Absprache über Leistungszuschläge getroffen. Wie wichtig ist der geschlossene Auftritt der Branche gegenüber den Kostenträgern?
Hagemann: Wir erachten den geschlossenen Auftritt der Branche als unerlässlich, um in zügigen und zeitnahen Verhandlungen zu einem für den Markt einheitlichen Konsens mit den Krankenkassen zu kommen. Selbstverständlich stets unter Berücksichtigung des kartellrechtlichen Rahmens. Würde jeder einzeln vorgehen, bestünde die Gefahr von zeitlichen Verzögerungen und von völlig unterschiedlichen Vereinbarungen, die dazu führen würden, dass Intransparenz und damit verbundene unnötige Aufwendungen den Hilfsmittelmarkt noch mehr belasten würden. Die derzeitige Situation verlangt allen Beteiligten schon alles ab, so dass eine Konsolidierung an dieser Stelle der genau richtige Weg ist, um den aktuellen Herausforderungen effektiv entgegentreten zu können.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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