Ein Fach, dem die Fach­kräf­te fehlen

Lange Wartezeiten für eine Versorgung. Weite Anfahrten zum Sanitätshaus. Schmerzen und schwerwiegende gesundheitliche Folgen. Klingt alles nach einem Horror­szenario. Doch sollte sich der derzeitige Trend des anhaltenden Fachkräftemangels fortsetzen, könnte daraus bittere Realität werden. Mit Michael Graf, Obermeister Landesinnung Bayern für Orthopädie-Technik, sprach die OT-Redaktion über die Zukunft des Fachs mit Fachkräften – und ohne.

OT: Herr Graf, was zeich­net für Sie die Attrak­ti­vi­tät des Berufs aus?

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Micha­el Graf: Die Viel­sei­tig­keit. Es gibt mei­nes Erach­tens kei­nen Beruf, der solch ein brei­tes Spek­trum bie­ten kann. Aus mei­nem Berufs­le­ben kann ich sagen, dass ich vom ­einen Tag alten Säug­ling bis zum 104-jäh­ri­gen Seni­or und vom Pfle­ge­fall bis zum Pro­fi­sport­ler ver­sor­gen durf­te. Ver­sor­gun­gen über alle Berei­che des Kör­pers, von Kopf bis Fuß, und das mit dem gesam­ten Spek­trum an mög­li­chen Mate­ria­len wie Holz, Leder, Kunst­stof­fe, Sili­kon, Car­bon und wei­te­re. Wenn man dabei noch bedenkt, dass man Men­schen durch sein Schaf­fen wie­der eine bes­se­re Teil­ha­be am Leben und ihnen mehr Lebens­qua­li­tät ermög­licht, gibt es kei­nen schö­ne­ren und inter­es­san­te­ren Beruf.

OT: Wenn Sie mit Ihren Kolleg:innen in Bay­ern spre­chen, wie vie­le von denen befin­den sich aktu­ell auf der Suche nach aus­ge­bil­de­ten Fachkräften?

Graf: Das ist lei­der ein­fach zu beant­wor­ten: 100 Pro­zent sind auf der Suche.

OT: Sind Ihnen Fili­al­schlie­ßun­gen oder Geschäfts­auf­ga­ben ­bekannt, weil es an geeig­ne­tem Per­so­nal fehlt?

Graf: Ja, es gibt zuneh­mend klei­ne­re Betrie­be, die sich redu­zie­ren oder auch ganz schlie­ßen müssen.

OT: Müss­te hier nicht drin­gend gegen­ge­steu­ert wer­den, wenn man die wohn­ort­na­he Ver­sor­gung gewähr­leis­ten will?

Graf: Da ist mehr als drin­gend Hand­lungs­be­darf. Lei­der fin­den die Hand­lun­gen spe­zi­ell im Poli­ti­schen mehr und mehr in die fal­sche Rich­tung statt. Es ver­geht – zumin­dest gefühlt – kaum ein Monat, ohne dass wie­der neue Auf­la­gen, Regu­la­ri­en, Ver­pflich­tun­gen für die Unter­neh­men raus­ge­ge­ben wer­den. Bei­spiels­wei­se die Euro­päi­sche Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung – kurz MDR –, wel­che über­haupt nicht für unse­ren Bereich ange­dacht war, macht jetzt Auf­wand und Pro­ble­me, wel­che in kei­nem Ver­hält­nis zu der – für unse­ren Bereich nicht vor­han­de­nen – Wir­kung ste­hen. Ein wei­te­res Bei­spiel ist die Rege­lung, wel­che jetzt den Inver­kehr­brin­ger, also das Sani­täts­haus, ver­pflich­tet, sich im Lucid-Ver­pa­ckungs­re­gis­ter zu regis­trie­ren und hier Ver­pflich­tun­gen zu über­neh­men, wel­che eigent­lich dem Her­stel­ler oblie­gen, um nur zwei Bei­spie­le zu nen­nen. War­um soll­te man sich also als jun­ger Mensch sol­che Ver­ant­wor­tun­gen noch antun, wel­che in kei­nem Ver­hält­nis zu dem eigent­lich erlern­ten Beruf ste­hen, denn die­ser ist mitt­ler­wei­le nur noch der gerin­ge­re Teil der täg­li­chen Arbeit.

OT: Wie kön­nen sich Ihrer Mei­nung nach Betrie­be attrak­ti­ver für Orthopädietechniker:innen machen?

Graf: Das ist schwie­rig zu sagen. Grund­sätz­lich muss man an dem Image des Sani­täts­hau­ses arbei­ten, wel­ches immer noch mit „Klo­stuhl und dicken brau­nen Kom­pres­si­ons­strümp­fen für die Oma“ ver­bun­den wird. Hier kann man nur ver­su­chen, auf die Vor­tei­le der Pro­phy­la­xe, das Wohl­be­fin­den und den Mehr­wert an Lebens­qua­li­tät ein­zu­ge­hen. Ich habe den Ein­druck: Für das Auto gibt es nur die bes­ten Rei­fen, denn die sind wich­tig, aber bei den eige­nen Füßen, da braucht es das Gan­ze nicht, sobald es Geld kos­tet. Hier muss man anset­zen und die Sin­ne der Kun­den schär­fen und Fol­gen und Vor­tei­le aufzeigen.

OT: Stich­wort Gehalt. Sehen Sie da die Kos­ten­trä­ger eben­falls in der Pflicht, ihren Anteil zu leis­ten? Schließ­lich ste­hen Sie im Wett­be­werb mit dem frei­en Markt um Ihre Fach­kräf­te, kön­nen aber die Prei­se nicht dyna­misch fest­le­gen und haben dadurch einen Nachteil.

Graf: Das ist genau das gro­ße Pro­blem, was wir spe­zi­ell in der jet­zi­gen Zeit haben. Die Prei­se erhö­hen sich fast schon monat­lich und der Markt hat Ver­trä­ge, wel­che dies nicht kom­pen­sie­ren und sich auch nicht so schnell kün­di­gen las­sen. Eigent­lich müss­te man der­zeit alle Ver­trä­ge, wel­che älter sind als sechs Mona­te, kün­di­gen. Dies hät­te aber am Markt fata­le Kon­se­quen­zen, da dann eine gewis­se Lie­fer­si­cher­heit weg­bre­chen wür­de und gera­de die klei­ne­ren Betrie­be noch weni­ger Chan­cen hät­ten. Ande­rer­seits ist es natür­lich auch kei­ne Opti­on für uns, zu zum Teil unwirt­schaft­li­chen Prei­sen zu ver­sor­gen. Eine sehr schwie­ri­ge Situa­ti­on. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass ein Sach­be­ar­bei­ter bei der Kran­ken­kas­se ein deut­lich höhe­res Gehalt bekommt als ein aus­ge­lern­ter OT-Gesel­le, bekommt das Gan­ze noch eine beson­de­re „Note“.

OT: Wie pas­sen Work-Life-Balan­ce, Vier-Tage-Woche, das ­Ver­ein­ba­ren von Fami­lie und Beruf oder auch Home­of­fice mit dem Beruf der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin bzw. des Orthopädie­technikers zusammen?

Graf: Theo­re­tisch genau­so gut wie mit jedem ande­ren Hand­werks­be­ruf. Prak­tisch gehö­ren wir aber zu den zehn Man­gel­be­ru­fen, was es fast nicht umsetz­bar macht. Die Betrie­be haben ohne­hin schon zu wenig Fach­kräf­te und bräuch­ten ein­fach gesagt bei einer Work-Life-Balan­ce oder Vier-Tage-Woche noch 20 Pro­zent mehr Per­so­nal, um dies zu kompensieren.

OT: In Bay­ern gibt es man­cher­orts mehr Bewerber:innen auf einen Aus­bil­dungs­platz als ver­füg­ba­re Lehr­stel­len. Das ist eine posi­ti­ve Nach­richt. Wie könn­te man es schaf­fen, dass kein ­Bewer­ber oder kei­ne Bewer­be­rin abge­wie­sen wer­den müssen?

Graf: Das ist eine „Ein­stel­lungs­sa­che“ der Betriebs­in­ha­ber. Ich den­ke, die Aus­bil­dung ist sehr wich­tig und der ein­zi­ge Weg, an Fach­kräf­te zu kom­men. Lei­der gibt es aber auch Betrie­be, wel­che sich den Auf­wand der Aus­bil­dung nicht antun wol­len und lie­ber mit Head­hun­tern und Co. die fer­ti­gen Fach­kräf­te zu sich holen.

OT: Wenn in Bay­ern die Aus­bil­dungs­stel­len gut besetzt sind, war­um herrscht dann ein Fachkräftemangel?

Graf: Das hängt an den zuvor bereits ange­spro­che­nen Din­gen. Zum einen ist es uns finan­zi­ell nicht mög­lich mit der Indus­trie mit­zu­hal­ten, da hier zum einen deut­lich höhe­re Gehäl­ter bezahlt und zum ande­ren oft zusätz­lich noch Bene­fits ange­bo­ten wer­den. Als Zwei­tes kommt hier die bereits eben­falls ange­spro­che­ne Work-Life-Balan­ce ins Spiel, wel­che in gro­ßen Betrie­ben meist leich­ter umzu­set­zen ist. Zudem kommt noch hin­zu, dass die Auf­la­gen und Auf­ga­ben abseits des eigent­li­chen Berufs immer mehr wer­den und jün­ge­re Leu­te mitt­ler­wei­le oft lie­ber den ein­fa­che­ren und nicht mit Ver­ant­wor­tung behaf­te­ten Weg gehen wollen.

OT: Was sind die Alter­na­ti­ven zur mensch­li­chen Fach­kraft? Ser­vice­ro­bo­ter? Künst­li­che Intelligenz?

Graf: Das bleibt span­nend. Man sieht ja schon, wie weit es mitt­ler­wei­le mög­lich ist, den Men­schen durch Maschi­nen zu erset­zen. Anhand ange­sam­mel­ter Daten und Algo­rith­men kann die Technik/KI schon eini­ges pro­du­zie­ren, was man vor Jah­ren noch für völ­lig unmög­lich gehal­ten hätte.

OT: Kön­nen Sie sich vor­stel­len, dass das Fach durch den Fach­kräf­te­man­gel in naher oder fer­ner Zukunft mas­si­ve Pro­ble­me bekommt, die Patient:innen ange­mes­sen zu versorgen?

Graf: Ich glau­be nicht, dass es zu Pro­ble­men kom­men wird. Pro­blem wird eher sein, dass die Betrie­be immer weni­ger wer­den, und somit die Flä­chen­de­ckung immer schlech­ter wird. Fol­gen wird dies für die Pati­en­ten haben, wel­che dann deut­lich wei­te­re Wege auf sich neh­men wer­den müs­sen. Pro­ble­ma­tisch wird es für jene, wel­che kei­ne Ange­hö­ri­gen etc. haben, wel­che sie dann auch mal fah­ren können.

OT: Benö­tigt es mehr „fach­frem­des“ Per­so­nal, das den Weg ins Fach fin­den muss?

Graf: Teils kann man es nur kom­pen­sie­ren, indem man fach­frem­des Per­so­nal für spe­zi­el­le Fer­ti­gungs­be­rei­che fit macht.

OT: Vie­le Beru­fe – zum Bei­spiel in der Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer­bran­che – ste­hen auf lan­ge Sicht vor dem Aus. Müss­te es even­tu­ell neue Berufs­bil­der in der Ortho­pä­die-Tech­nik geben, die genau dar­auf zie­len, sol­che qua­li­fi­zier­ten und berufs­er­fah­re­nen Men­schen für Teil­auf­ga­ben im Fach zu gewin­nen und so für Ent­las­tung an ande­rer Stel­le zu sorgen?

Graf: Klar kann und muss man es pro­bie­ren, sol­che Men­schen am Markt zu gewin­nen. Viel Hoff­nung habe ich ­spe­zi­ell in die­ser Rich­tung jedoch nicht, neu­es Per­so­nal zu finden.

OT: Könn­te die von vie­len Ver­bän­den und ­Fach­ge­sell­schaf­ten gefor­der­te Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung bei der Abrech­nung und ­Doku­men­ta­ti­on von Ver­sor­gun­gen zu einer Ent­las­tung des ­Per­so­nals führen?

Graf: Die Büro­kra­tie ist mit eines der größ­ten Pro­ble­me und Zeit­fres­ser in unse­rem Fach. Hier ist sehr viel Hand­lungs­be­darf. Dies jetzt aus­zu­füh­ren, wür­de den Rah­men eines jeden Inter­views sprengen.

OT: Gibt es aus Ihrer Sicht noch wei­te­re Din­ge, die die Poli­tik tun könn­te, um den Fach­kräf­te­man­gel zu beseitigen?

Graf: Ohne abschwei­fen zu wol­len: Die Poli­tik müss­te mal den Mit­tel­stand, wel­cher das Land stark macht und die Steu­ern bezahlt, stär­ken und nicht die gro­ße Indus­trie, wel­che über Schlupf­lö­cher ihre Steu­ern „redu­ziert“ und gleich­zei­tig mit der Dro­hung von Arbeits­platz­ab­bau die über den Staat finan­zier­te Kurz­ar­beit anord­net und dabei dann Rekord­ge­win­ne einfährt.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

 

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