Interessant dürfte dabei auch der Vortrag von Thomas Stief von der Studiengemeinschaft Orthopädieschuhtechnik in Osnabrück werden: „Neue Techniken in der Einlagenversorgung – was bringt das dem Betroffenen“. Thomas Stief ist Biomechanik-Ingenieur, Orthopädieschuhmacher-Meister und Gründer der Firma (ts)². Als Produktentwickler hat er die Einlage „Bow“ ersonnen, die als weltweit erste Einlage den natürlichen Windlass-Mechanismus beim Aufspannen des Längsgewölbes nachahmt. Im Interview spricht er über die Vorteile neuer Fertigungstechniken und darüber, warum manche alte Tradition unabdingbar ist.
OT: Herr Stief, Ihre Einlage „Bow“ verbindet alle möglichen Neuheiten in der Einlagenversorgung. Erklären Sie uns bitte, welche das sind?
Thomas Stief: Da wäre zum Beispiel, dass die Einlage während der Fortbewegung ab dem Bodenkontakt des Fußes Spannung aufnimmt und die Energie von dem Moment an wieder abgibt, wenn die Ferse vom Boden abhebt. Der Bogen im Mittel- und Rückfußbereich der Einlage hebt sich an und richtet das Längsgewölbe auf, der Fuß stabilisiert sich, wird physiologisch belastet und kann im Vorfußbereich nicht mehr nach lateral abweichen: Die Variabilität der Höhe der Unterstützung des Längsgewölbes ist hier die Besonderheit.
OT: Inwiefern?
Stief: Wenn Sie sich auf die Zehen stellen, können Sie sehen, wie stark sich das Längsgewölbe aufrichten kann. Würden Sie auf einer normalen Einlage mit einer Anstützung in dieser Höhe stehen oder gehen, würde das Schmerzen verursachen. Die „Bow“ hebt das Längsgewölbe nur in der Terminal Stance und Pre-Swing so stark an.
OT: Die Einlage speichert im Gegensatz zu herkömmlichen Versorgungen auch Energie und gibt sie wieder ab. Ist das mit den Carbonfedern im Prothesenbau vergleichbar?
Stief: Nicht ganz, das ist eher mit Pfeil und Bogen vergleichbar. Die Einlage besteht aus zwei Schichten, die miteinander verbunden sind. Aus diesem Grund speichert sie Energie sowohl in der Sehne als auch im Bogen und gibt diese während der späten Standphase ab.
OT: Relativ neu ist auch die Technik, in der die Einlage gefertigt wird.
Stief: Ja, sie besteht aus Polyamid, PA 2200 heißt das, und sie wird gedruckt. Es gibt inzwischen die unterschiedlichsten 3D-Druckverfahren, FDM zum Beispiel, wobei ein Filament aufgeschmolzen wird. Bei der „Bow“ wird das PA 2200 im SLS-Verfahren (selektives Lasersintern, Anm. d. Red.) zu einem festen Bauteil schichtweise mittels Laser verschmolzen. SLS ermöglicht komplexe Formen, außerdem ist durch diese Art der Fertigung die „Bow” leicht und belastbar. Das ist wichtig für die Einlage, die nicht brechen darf, wenn sie sich verformt.
OT: Eher neu ist auch das Umweltbewusstsein in der Branche. Das SLS-Druckverfahren ist ressourcenschonend?
Stief: Ziemlich. Es gibt noch Abfälle, etwa wenn man die Einlage für den Kunden zuschleift. Aber insgesamt ist der 3D-Druck ressourceneffizient.
OT: „Bow“ ist jetzt etwas länger als ein Jahr als neue Technik auf den Markt. Welche Rückmeldungen bekommen Sie?
Stief: Wir hatten Ende vergangenen Jahres ein User-Meeting. Das war unglaublich interessant. Uns haben Techniker Anwendungsbereiche vorgestellt, an die wir bei der Entwicklung noch gar nicht gedacht hatten. Zum Beispiel bei der Versorgung einer ausgeheilten Plantarfasziitis, die immer noch Probleme machte. Weil die Einlage die Plantarsehne entlastet, hat der Anwender deutlich weniger Beschwerden als mit einer herkömmlichen Einlage. Bei Schlaganfallpatienten hat die „Bow“ zu einer besseren Gangstabilität geführt, bei Menschen mit Parkinson nahm das Freezing ab, die Bewegungen wurden runder. Das haben uns auch Ärzte aus der Praxis berichtet, und es ist schön, so etwas zu hören. Manchmal muss man seine Erfindung einfach loslassen und sehen, was andere daraus machen.
OT: Ursprünglich angeboten wurde die Einlage ja für Knick- und Spreizfuß und Sportler:innen.
Stief: Sportler nutzen sie auch. Wir haben Informationen von einem Trailrunner, der an einem Lauf im Westen der USA teilnahm. Seine Einlage ging nach 1.200 Kilometern kaputt, er probierte eine andere Einlage aus, ließ sich dann aber von seinem Techniker in Deutschland eine neue „Bow“ nachschicken. Die andere konnte ihn nicht überzeugen. Die Energierückgabe beim Abstoßen ist aber auch für Techniker interessant, die ältere Personen mobilisieren wollen; der zusätzliche Kick hilft ihnen im Alltag. Wieder andere verzichten jetzt auf die Pelotten bei Metatarsalgien, weil sie die Erfahrung machen, dass die Rückfußumstellung und ‑stabilisierung auch zur Schmerzlinderung beitragen. Damit sind diese Techniker aber nicht allein. Es gibt auch Ärzte, die eine Pelotte ablehnen.
OT: Gibt es eigentlich schon wieder neue Techniken, die Sie verfolgen?
Stief: Etwas Neues in Sachen Funktionalität habe ich im Einlagenbereich gerade nicht auf dem Schirm. Aber bei den neuen Techniken, sei es in der CAD-Konstruktion oder im 3D-Druck, tut sich immer etwas. Die Fertigungsgenauigkeit ist dadurch schon stark gestiegen, auch die Reproduzierbarkeit. Aber bei all dem darf man nicht vergessen, dass der Patient im Mittelpunkt steht. Die Einlage ist das Produkt, aber gehen muss es um die Versorgung des Menschen mit seinen individuellen Beschwerden und Bedürfnissen. Man muss auch wirklich sehen, was dem Einzelnen am besten hilft.
OT: Also in guter alter Tradition ran an den Patienten.
Stief: Exakt. Klar kommt das Rezept vom Arzt, aber es ist doch die Kompetenz des Technikers, zu entscheiden, welche Ausführung in der Umsetzung am besten hilft. Dazu kommt noch die Information, die ich bekomme, wenn ich den Fuß zum Beispiel in die Hand nehme und palpiere. Natürlich sind die Informationen über digitale Technik wichtig und Daten aus dem Ganglabor als Add-on wunderbar. Aber ich muss doch nah am Patienten sein, um die individuell beste Versorgung zu finden. Und dazu gehören auch eine gute Anamnese, eine zielführende klinische Untersuchung mit verschiedenen Funktionstests und eine Nachkontrolle, um das Versorgungsergebnis zu überprüfen.
Die Fragen stellte Tamara Pohl.