Dieser Frage geht Lindera seit ihrer Gründung 2017 nach. Die Firma ist spezialisiert auf eine KI-basierte 3D-Bewegungsanalyse, die präzise Bewegungs- oder Gangbildanalysen mit jedem Smartphone oder Tablet möglich machen. Mitgründerin und CEO von Lindera, Diana Heinrichs, erläutert im Gespräch mit der OT-Redaktion, welche Rolle Algorithmen unter anderem bei der Sturzprävention älterer Menschen und in der Homecare spielen können.
OT: Wie entstand der Firmenname Lindera?
Diana Heinrichs: Purer Zufall: Auf einer mehrtägigen Wanderung sah ich all die wunderbaren Pflanzen, die im heimischen Boden am besten wachsen. Als Symbol für unsere hoffentlich wachsende Firma suchte ich daher nach einem Pflanzennamen für unser Unternehmen. Per Suchmaschine stieß ich auf den lateinischen Namen des Fieberstrauches „Lindera“. Dass einige Kolleg:innen und Freund:innen damit auch das Wort „lindern“ assoziierten, gefiel mir gut. Außerdem schätze ich den femininen Anklang durch die Endung auf „a“. Schließlich sollte endlich auch eine weibliche europäische Hightechmarke etabliert werden. So wurde Lindera unser Firmenname.
OT: Wie kam es zu Ihrem Schwerpunkt Pflege und Gesundheitswirtschaft?
Heinrichs: Nach sechs Jahren bei Microsoft Deutschland fragte ich mich, warum in Deutschland oft nur Vertrieb und Marketing von Hightechfirmen sitzen, selten aber die Headquarter. Es fehlt die Wertschöpfung, also die Entwicklung digitaler Produkte und Marken. Gleichzeitig wurde meine Oma immer älter und pflegebedürftiger, sodass das Thema Pflege und Unterstützung für ältere Menschen stärker in meinen Fokus geriet. Deshalb wollte ich die etablierten Erfahrungen aus der Informationstechnologie (IT) in die Pflege bringen und Spitzenmedizin für alle nutzbar machen.
OT: Worin liegt der Schwerpunkt Ihrer Firma?
Heinrichs: Wir sind eine Deep-Tech-Firma, ein Start-up-Unternehmen, das Technologielösungen bereitstellt. Dabei verstehen wir uns als Entwickler von 3D-Motion-Tracking-Systemen für die Hosentasche, die unabhängig von Ort und Zeit möglichst barrierefrei genutzt werden können – also ohne teure Hardware oder sonstige große Investitionen. Mittlerweile beschäftigen wir mehr als 35 Mitarbeiter:innen.
Patentierter Algorithmus
OT: An welchen digitalen Lösungen haben Sie bisher gearbeitet?
Heinrichs: Basis all unserer Produkte ist unser 2019 patentierter 3D-Algorithmus, der jede Bewegung millimetergenau erfasst. Wir stellen weltweit als einziges Unternehmen eine wissenschaftlich validierte 3D-Technologie bereit, die über eine einfache Kamera genutzt werden kann – ohne zusätzliche Sensoren oder Mehrfachkamerasysteme. Bisher haben wir unseren 3D-Algorithmus in drei Produkte integriert: die Lindera-SturzApp zur Sturzprävention, die bereits in allen App-Stores erhältlich ist und sich vor allem an Senior:innen sowie ihre privaten oder professionellen Betreuer:innen wendet. Ebenfalls bereits auf dem Markt ist unser Lindera-Software Development Kit (SDK) LTech, mit dem wir unseren 3D-Algorithmus für Fitness- und Therapieapps bereitstellen. So können Physiotherapeut:innen oder Präventions‑, Fitness- oder Rehatrainer:innen ihre Trainings in die digitale Welt bringen und eine smarte Patientenbindung aufbauen. Ihre Patient:innen oder Kund:innen wiederum bekommen Analysen und Feedbacks in Echtzeit, können zum Beispiel sofort auf falsche Bewegungen reagieren. In der Erprobungsphase befindet sich unsere KlinikApp. Sie ist nach dem Modell des Schweizer Taschenmessers aufgebaut, das sämtliche Basiswerkzeuge umfasst. Das bedeutet, die App enthält alle Bewegungsassessments – also Einschätzungen und Bewertungen – für Orthopädie, Geriatrie und Neurologie auf Basis unserer validierten 3D-Technologie.
Sturzprävention für Senior:innen
OT: Welchem Grundgedanken folgt die App zur Sturzprävention?
Heinrichs: Wir möchten dafür sorgen, dass Menschen in jeder Lebensphase mit dem eigenen Körper sicher an die Grenzen dessen kommen können, was für sie möglich ist. Natürlich hat ein älterer Mensch eine andere Belastungsgrenze als Spitzensportler:innen. Mithilfe unserer Anwendung erhalten die Nutzer:innen ihre maximale Bewegungsfreiheit, können effektiver trainieren, schneller genesen und damit letztlich weniger (schlimm) stürzen. Selbstverständlich wird die App mit dem Empfehlungsalgorithmus für Bewegungen und der Integration in die bestehenden Dokumentationssysteme integriert und kontinuierlich weiterentwickelt.
OT: Wie genau funktioniert die SturzApp?
Heinrichs: Nach dem Download nehmen die Nutzer:innen mit der Kamera ihres Smartphones ein 30-sekündiges Video ihres Gangbilds auf – ob im heimischen Wohnzimmer oder in der Pflegeeinrichtung. Mithilfe des 3D-Algorithmus werden alle Bewegungen in Raum und Tiefe millimetergenau erkannt und gescannt. Im Anschluss füllen die Nutzer:innen einen psychosozialen Fragebogen in der App aus. Unsere auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierende Mobilitätsanalyse wertet all diese Daten aus und analysiert das Sturzrisiko. In der App wird ein individueller Maßnahmenplan zur Sturzvermeidung zur Verfügung gestellt. Der Fragebogen und die verschiedenen Risikofaktoren basieren auf dem Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege“.
OT: Seit wann ist die App zur Sturzprävention auf dem Markt und wurde sie seitdem verändert?
Heinrichs: Der Launch fand vor drei Jahren statt. Aber eine App ist immer ein Lernprozess, zumal sich nicht zuletzt die rechtlichen Rahmenbedingungen ständig weiterentwickeln. So haben wir die Präzision der Messungen gemeinsam mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin validiert und auf der Basis der KI eine selbstlernende Empfehlungsdatenbank aufgebaut. Außerdem ist es inzwischen möglich, die Daten mit anderen zu teilen. Der nächste große Schritt ist der Sprung auf die EU-Regulatorik (MDR, Medical Device Regulation), für den wir Ende Mai alle Weichen gestellt haben.
App statt Ganglabor
OT: Inwiefern unterscheidet sich Ihre Lösung von anderen Applikationen im Bereich Gangbildanalyse?
Heinrichs: Unsere Messgenauigkeit schneidet im Vergleich zum Goldstandard aus der Wissenschaft (GaitRite System*) in einem exzellenten Bereich ab. Somit können wir kostspielige Ganglabore mit mehr als 40.000 Euro Investitionskosten ablösen. Wir machen Bewegungsanalysen zeit- und ortsunabhängig zugänglich – und dies mit nur einem Gerät, dem ohnehin zumeist vorhandenen Smartphone. Anwender:innen müssen sich nicht vor der Kamera ausrichten oder teure Hardware kaufen, benötigen weder Multikamerasysteme noch Tiefensensorik. Sie erhalten einen direkten und bezahlbaren Zugang zu Spitzenmedizin. Zudem können sie die Analysen und Empfehlungen mit Betreuer:innen ihrer Wahl teilen sowie ihre Übungen unter Anleitung weiterführen, unter anderem nach Abschluss einer Reha in der häuslichen Umgebung.
OT: Ist Fachpersonal für die Installation und langfristige Nutzung nötig?
Heinrichs: Sowohl Fachkräfte auch als Senior:innen können die App einfach nutzen, da sie selbsterklärend ist. In der App steht ein Guide bereit, der Schritt für Schritt durch die einzelnen Funktionen führt.
Kostenübernahme dank SGB
OT: Wie steht es mit der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung?
Heinrichs: Die Anwendung steht kostenfrei in den App-Stores von Google und Apple zur Verfügung. Damit verdienen diese großen Techkonzerne nicht mit, die ja sonst rund 30 Prozent Gebühren für kostenpichtige Apps einnehmen. Die Bezahlung unserer Anwendung erfolgt über Verträge zur Bereitstellung der Dokumentations- und Analysedaten mit unseren Partner:innen – natürlich gemäß der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Dazu gehören bereits sieben Prozent der stationären Pegeeinrichtungen Deutschlands genauso wie zahlreiche ambulante Dienste und zunehmend Sanitätshäuser wie das Wuppertaler Sanitätshaus Beuthel mit seinen Homecare-Töchtern oder ‑Abteilungen. Stationäre Pegeeinrichtungen können einen Antrag zur Kostenübernahme bei den Krankenkassen über Paragraf 5 „Prävention in Pflegeeinrichtungen, Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation“ des Sozialgesetzbuchs (SGB) Elftes Buch (XI) stellen. Mit ambulanten Pflegediensten und Sanitätshäusern erproben wir gerade die Zusammenarbeit über Paragraf 20a „Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten“ des SGB V und nutzen ab Mitte 2022 die neue gesetzliche Grundlage der Digitalen Pflegeanwendung (DiPA). Im Übrigen wurde unsere Firma von Anfang an von gesetzlichen Krankenkassen wie der AOK Nordost und Audi BKK unterstützt sowie 2018 von der Barmer mit dem „Digital Health Award“ ausgezeichnet.
OT: Wie haben Sie die App getestet?
Heinrichs: Wir kooperieren mit den führenden Krankenkassen sowie mit Leistungserbringern. Mit dem Feedback aus der Praxis und unter den Rahmenbedingungen des Medizinprodukts wurde die SturzApp kontinuierlich weiterentwickelt. Die Forschungsgruppe Geriatrie der Berliner Charité gehört ebenso zu unseren Kooperationspartnern. Bei der Entwicklung der Lindera-KlinikApp arbeiten wir mit führenden Universitätskliniken zusammen, um das Produkt 2022 auf den Markt zu bringen.
Sanitätshandel im Fokus
OT: Ist eine Anbindung an bestehende IT-Systeme im Sanitätsfachhandel bzw. die vom Bund geplante Telematikinfrastruktur (TI) möglich?
Heinrichs: Bestehende IT-Systeme können problemlos angeschlossen werden. Während der Corona-Pandemie haben wir sogar in zahlreichen Häusern die Integration aus der Ferne per Telefon oder Online-Meeting realisiert. Sollte die TI des Bundes für alle Akteur:innen des Gesundheitswesens endlich stehen, wird es dafür eine Integrationslösung geben.
OT: Wie reagieren Betreiber:innen von Sanitätshäusern auf Ihre Angebote?
Heinrichs: Vor der Corona-Pandemie waren gerade Inhaber:innen und Geschäftsführer:innen von Sanitätshäusern dafür nicht sehr offen. Viele argumentierten, sie hätten mehr als genug zu tun, bräuchten nicht die nächste Technik, auf die sie sich und ihre Mitarbeiter:innen einstellen müssten. Während der Pandemie haben viele Menschen auf den Besuch von Fachärzt:innen verzichtet, deshalb weniger Rezepte im Sanitätshandel abgegeben. Damit wurde vielen Sanitätshausbetreiber:innen erst klar, dass sie sich jenseits ihres klassischen Geschäftsfeldes aufstellen müssen. Kundenbindung jenseits vom Rezept ist hier das entscheidende Stichwort. Und genau das liefert ja unsere App.
OT: Wie stark werden digitale Anwendungen in Zukunft Homecare und Geriatrie beeinussen?
Heinrichs: Enorm. Wir haben über die letzten Jahre gesehen, wie stationäre Apotheken vom Onlinehandel und digitalen Mechanismen zur Kundenbindung überrollt wurden. Das E‑Rezept ist unterwegs, unsere alternde Bevölkerung hat spätestens mit der Corona-App gelernt, digitale Gesundheitsanwendungen zu nutzen. Der Zug ist nicht aufzuhalten. Offen ist hingegen, wie gerade der Sanitätsfachhandel damit umgeht. Smarte Fachhändler:innen bestellen ihre Kunden:innen aktiv ein und beraten sie in der Filiale, per Telefon oder zu Hause. Ein solches Konzept zur systematischen Kundenbindung haben wir zum Beispiel mit unserem Kooperationspartner, der Saljol GmbH, erarbeitet. Denn Fakt ist auch, dass gerade ältere Menschen Fachkräfte und Beratung zu digitalen Anwendungen, insbesondere wenn es um Medizinprodukte geht, benötigen. Sanitätsfachhändler:innen entscheiden jetzt, ob sie diesen Bedarf decken und sich digital weiterentwickeln.
*Der Vergleich zum GaitRite System ist in einem Peer Reviewed Journal (Impact Faktor 4,5) publiziert.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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