OT: Herr Müller, wurde Ihnen das OT-Handwerk in die Wiege gelegt?
Jens Müller: Ja, mein Großvater Alfred Giesau sen. war Bandagistenmeister und gründete 1966 seine eigene Firma. 20 Jahre später übernahm er die Oesterreich Orthopädie-Technik die 1987 von meinem Onkel Alfred jun. (ausgebildeter Orthopädietechnik-Mechaniker-Meister) und meiner Mutter Renate (gelernte Banda- gistin) weitergeführt wurde. Heute führen meine beiden Cousins Christian und Andreas das Unternehmen weiter.
OT: Warum haben Sie sich Anfang der 1990er-Jahre dazu entschlossen nach Spanien auszuwandern?
Müller: Ich wollte neue Erfahrungen sammeln und bin in Madrid gelandet. Dort habe ich 14 Jahre für Otto Bock Iberica als Technischer Direktor gearbeitet.
OT: Wie sieht heute Ihr beruflicher Alltag in Spanien aus?
Müller: In Spanien sieht es zurzeit nicht gut aus. Wir haben eine Art Bundesprothesenliste, die von 1986 ist. Diese wurde 1997 preislich aufgestockt, aber seitdem nicht wieder überarbeitet. Zurzeit sind wir dabei mit der spanischen Orthopädie-Innung diese Liste zu überarbeiten und hoffen, dass das Gesundheitsministerium diese akzeptiert. Das heißt beispielsweise, dass eine Oberschenkelprothese mit ca. 5.600 Euro finanziert wird. Den Rest muss der Patient dazu zahlen. Insofern ist es nicht so leicht hochwertige Produkte einzusetzen. Man kann sich vorstellen, wenn ein Patient z. B. eine C‑Leg-Versorgung selbst zahlt, dann sind die finanzielle Belastung sowie der Post-Service sehr hoch. Die Patienten nehmen oft einen Bankkredit auf, um die Versorgung bezahlen zu können. Gerade bei Kindern wird es unangenehm wenn es um Prothesenversorgung geht. Daher ist auch die Fertigung von Sportprothesen ohne die Hilfe eines Sponsors völlig auszuschließen.
OT: Was sind aus beruflicher Sicht die größten Unterschiede zu Deutschland und wie hat sich die Orthopädie-Technik aus Ihrer Sicht entwickelt?
Müller: Das größte Problem ist die Ausbildung. Ein Ausbildungssystem wie in Deutschland gibt es hier nicht. Wir haben keine orthopädischen Fachärzte, welche eine Prothese beurteilen und verschreiben können. Oftmals hilft der Orthopädie-Techniker bei der Verschreibung der Prothese, welche vom Hausarzt für den Rehabilitation-Arzt ausgestellt wird. Wir haben das Problem, dass die Nachsorge der Amputierten in Spanien stark vernachlässigt wird – von ärztlicher aber auch von behördlicher Seite. Ich könnte Stunden über dieses Thema erzählen, was aber den Rahmen sprengen würde.
OT: Sie haben ihr Handwerk in Deutschland gelernt. Wie werden die spanischen Kollegen ausgebildet?
Müller: Es gibt eine zweijährige Ausbildung, welche vorwiegend Theorie ist. Diese wird meistens von privaten Universitäten ausgeführt. Wir Techniker beteiligen uns, um die Ausbildung zu unterstützen.
OT: Sie versorgen auch Para-Spitzensportler wie Dani Molina. Wie ist es zu der Zusammenarbeit gekommen?
Müller: Ich kannte Dani Molina von den Paralympischen Spielen in Athen 2004, wo ich für zwei Wochen in der Werkstatt von Ottobock verantwortlich war. Dani war damals als Schwimmer dabei. Er kam hinterher wegen einer schlechten Schaftversorgung zu mir in die Firma und erzählte, dass er aufgrund seiner Flexionskontraktur zehn Jahre kein Fahrrad mehr gefahren sei. Wir haben dann eine Lösung für ihn gefunden und Dani begann mit dem Triathlon. Im Schwimmen war er bereits sehr gut, er musste also nur das Fahrradfahren und Laufen optimieren.
OT: Wie sieht seine Versorgung konkret aus?
Müller: Zur Passformerstellung benutzen wir das Aqua-Symphonie-System von Romedis, um eine genaue Abformung des Stumpfes unter hydrostatischem Druck zu erreichen. Aufgrund des kurzen Stumpfes und der Flexionskontraktur arbeiten wir mit dem Shuttlelock-System mit Pin. Dani wird gesponsert von der Firma Össur. Wir arbeiten mit deren Sportliner und dem Cheetah-Xtreme-Fuß. Das größte Problem im Wettkampf ist der Austausch der verschiedenen Prothesen. Er kommt aus dem Wasser und muss die Fahrradprothese anziehen und später die Laufprothese. Deshalb trainiert Dani ständig den Wechsel der Prothesen, um sämtlichen Zeitverlust zu vermeiden.
OT: Ist die Versorgung eines Para-Athleten eine besondere Herausforderung?
Müller: Auf jeden Fall, denn bei den Spitzensportlern lasten doch immer andere Kräfte auf die Prothese. So hat Dani auch einen halben „Ironman“ absolviert. Das sind hohe Beanspruchungen auf die Schaftversorgung. Im Endeffekt kommt Schweißbildung, Druckstellen, Muskelschwellung etc. dazu.
OT: Können Sie sich persönlich eine Rückkehr als Orthopädie- Techniker in Deutschland vorstellen?
Müller: Ich denke nicht. Ich bin seit 1992 in Spanien und habe meine berufliche Karriere hier in Spanien gemacht. Außerdem ist meine Frau Spanierin und unser Sohn lebt auch hier.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.