Wor­auf es bei der Ver­sor­gung in res­sour­cen­ar­men Län­dern ankommt

Vom 24. bis 27. April 2023 kommt das „Who’s who“ der Hilfsmittelbranche zum Weltkongress der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO) im mexikanischen Guadalajara zusammen.

Ver­stär­kung aus Deutsch­land gibt es am zwei­ten Kon­gress­tag im Rah­men des Sym­po­si­ums „Sus­tainable Design of Lower Limb Pro­sthe­tic Com­pon­ents for Low-Resour­ced Regi­ons“. Für die OT gewährt Jochen Weigel, Diplom-Ortho­pä­die­tech­nik- Meis­ter bei „Weigel + medi­cal Stutt­gart“, einen Vor­ge­schmack auf die Inhalte.

OT: Wie hoch ist der Bedarf an Pro­the­sen für die unte­ren Extre­mi­tä­ten in res­sour­cen­ar­men Ländern?

Jochen Weigel: Im Jahr 2013 schätz­te die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on WHO, dass etwa 30 Mil­lio­nen Ampu­tier­te in Ent­wick­lungs­län­dern leben, wobei bis zu 95 Pro­zent kei­nen Zugang zu Pro­the­sen haben.

OT: Wie läuft der Ent­wick­lungs­pro­zess von Pro­the­sen dort ab? Inwie­fern unter­schei­det sich die­ser vom Ent­wick­lungs­pro­zess in res­sour­cen­rei­che­ren Regionen?

Weigel: Der Ent­wick­lungs­pro­zess von Pro­the­sen kann im All­ge­mei­nen in vier Pha­sen beschrie­ben wer­den. Pha­se eins ist die Bedarfs­ana­ly­se. Der Bedarf an gut pas­sen­den, hoch funk­tio­nel­len Pro­the­sen ist welt­weit der glei­che. Jedoch ist die Erfüll­bar­keit die­ses Wun­sches kom­plett  unter­schied­lich . Im Ver­gleich zu Indus­trie­län­dern, in denen sich betriebs­wirt­schaft­lich rela­tiv genau berech­nen lässt, ob und wann sich eine Pro­dukt­ent­wick­lung lohnt, ist die Ein­schät­zung für Ent­wick­lungs­län­der viel ris­kan­ter, weil der Markt anders funk­tio­niert. Wenn in Deutsch­land ein Anwen­der sei­ne chip­ge­steu­er­te Ober­schen­kel­pro­the­se von der Kran­ken­kas­se finan­ziert bekommt, kauft ein Anwen­der im Ent­wick­lungs­land sei­ne Pro­the­se meist aus der eige­nen Tasche oder bekommt sie über eine Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on finan­ziert. Die übli­chen Stan­dard-Pass­tei­le wer­den oft über­Aus­schrei­bun­gen gekauft, wes­halb sie preis­güns­tig sein müs­sen, eine indi­vi­du­el­le Aus­wahl von Fuß oder Knie ist daher sel­ten mög­lich. Pha­se zwei ist die wis­sen­schaft­li­che For­schung. Zum Glück gibt es durch das genann­te Risi­ko geför­der­te For­schungs­pro­jek­te, bei denen staat­li­che Trä­ger einen Anteil der Kos­ten über­neh­men, um Inno­va­tio­nen zu initi­ie­ren. Dar­auf folgt die Pro­dukt­ent­wick­lung: Wir dür­fen stolz auf zwei sol­che Bei­spie­le zurück­schau­en, denn der Nia­ga­ra-Fuß und das All-Ter­rain-Knie­ge­lenk wur­den als sol­che Pro­jek­te mit Hil­fe von For­schungs­ein­rich­tun­gen erar­bei­tet. Im nächs­ten Schritt geht es um die Her­stel­lung und den Ver­trieb. Um die­se Pro­duk­te in res­sour­cen­ar­men Regio­nen zu ver­trei­ben, wen­den wir das Robin-Hood-Prin­zip an. Wir neh­men in Indus­trie­län­dern markt­üb­lich hohe Prei­se, um in  res­sour­cen­ar­men Regio­nen güns­tig ver­kau­fen zu kön­nen. Dies setzt aber eine sehr hohe Pro­dukt­qua­li­tät vor­aus, wes­halb wir „Made in Ger­ma­ny“ für wich­tig erachten.

OT: Wäh­rend des Sym­po­si­ums wer­den das All-Ter­rain-Knie und der Nia­ga­ra-Fuß genau­er vor­ge­stellt. Was zeich­net die­se Pro­duk­te aus? Und war­um eig­nen sie sich für den Ein­satz in res­sour­cen­ar­men Ländern?

Weigel: Der Nia­ga­ra-Fuß ist welt­weit der ein­zi­ge der eine indi­vi­du­el­le Anpas­sung sei­ner Fes­tig­keit durch das Abtra­gen von Kunst­stoff­schich­ten ermög­licht. Das kann mit einer Trich­ter­frä­se oder genau­so gut mit einer Holz­ras­pel gemacht wer­den. Ent­wi­ckelt wur­de er als robus­ter,  was­ser­fes­ter Fuß, der im Roll-Over-Design sehr wenig Kraft beim Gehen erfor­dert. Neu ist hier­bei eine Elas­to­mer-Fede­rung, die den Über­gang in der mitt­le­ren Stand­pha­se geschmei­di­ger gestal­tet. In Ent­wick­lungs­län­den wird oft nur die Län­ge und die Fes­tig­keit ein­ge­schlif­fen und eine Gum­mi-Lauf­soh­le dar­un­ter geklebt, in Indus­trie­län­dern wird natür­lich lie­ber die von uns ange­bo­te­ne Kos­me­tik­hül­le benutzt. Das mit 150 Kilo­gramm belast­ba­re All-Ter­rain-Knie ist ein hoch funk­tio­nel­les, salz­was­ser­fes­tes Gelenk, wel­ches mit der schalt­ba­ren Ver­rie­ge­lung vom Üben bei der Erst­ver­sor­gung bis zum Ein­satz für hoch akti­ve Anwen­der Ver­wen­dung fin­det. Es sieht wie ein Ein-Achs-Gelenk aus, in Wirk­lich­keit hat es aber eine zwei­te Ach­se, die den auto­ma­ti­schen Mecha­nis­mus steu­ert, der es bei Fer­sen­auf­tritt kom­plett ver­rie­gelt und bei Bal­len­last wie­der öff­net – ähn­lich wie bei chip­ge­steu­er­ten Knie­ge­len­ken. Des­halb wird es hier­zu­lan­de in Kom­bi­na­ti­on mit dem Nia­ga­ra-Fuß sehr ger­ne für Bade­pro­the­sen ein­ge­setzt, was damit kei­ne gro­ße Umstel­lung für den Anwen­der darstellt.

OT: Wel­che Eigen­schaf­ten müs­sen Hilfs­mit­tel mit­brin­gen, die in res­sour­cen­ar­men Län­dern ein­ge­setzt werden?

Weigel: Die Pro­the­sen­tei­le müs­sen gleich­zei­tig funk­tio­nell und kos­ten­güns­tig, aber vor allem sehr robust sein, weil dort häu­fig Pati­en­ten mit hoher Akti­vi­tät damit ver­sorgt wer­den und dabei den regio­na­len Umwelt­ge­ge­ben­hei­ten trot­zen müs­sen. Stellt man sich den viet­na­me­si­schen Reis­bau­ern im geflu­te­ten Feld vor, wird klar, dass was­ser­fes­te Mate­ria­li­en gefor­dert sind und ein SACH-Fuß mit Gum­mi­fer­se­und Holz­kern die fal­sche Wahl wäre. Denkt man an tro­cke­ne Regio­nen, in denen Sand wie ein Schleif­mit­tel wirkt, ver­steht man, dass dort ein Car­bon­fuß zu schnell durch­ge­schmir­gelt wäre.

OT: Wel­chen Her­aus­for­de­run­gen ste­hen Sie dabei gegenüber?

Weigel: Meist ist die Finan­zie­rung das größ­te Pro­blem. Eine typi­sche Pro­the­se, die in einem Ent­wick­lungs­land her­ge­stellt wird, kos­te­te vor zehn Jah­ren schon zwi­schen 125 und 1.875 US-Dol­lar. Das Jah­res­ein­kom­men eines Men­schen mit einer Ampu­ta­ti­on in einem Ent­wick­lungs­land lag jedoch im Durch­schnitt bei 300 US-Dol­lar. Man könn­te jetzt schnell den­ken, dass gespen­de­te Lie­fe­run­gen hel­fen wür­den, jedoch kam es schon vor, dass die gut gemein­ten Spen­den den betref­fen­den Markt zer­stört haben, weil dann die Ortho­pä­die­tech­ni­ker vor Ort nichts mehr ver­dient haben. Wir bie­ten des­halb kos­ten­lo­se Work­shops an, um sie mit Know-how zu unter­stüt­zen. Hin­zu kommt, dass es meist nur ortho­pä­di­sche Werk­stät­ten in der Haupt­stadt gibt und die Ampu­tier­ten aus länd­li­chen Gebie­ten oft­mals kei­nen Zugang zur Ver­sor­gung haben. Des­halb haben wir eine preis­güns­ti­ge, mobi­le Werk­statt entwickelt.

OT: Wel­cher Stel­len­wert kommt bei der Ver­sor­gung dem The­ma inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit zu?

Weigel: Die ist essen­ti­ell, denn vie­ler­orts wer­den Pro­the­sen von The­ra­peu­ten, Ärz­ten oder Hel­fern von Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen ange­passt. In Deutsch­land wäre dies unvor­stell­bar, aber dort ist alles bes­ser, was mobil macht. Toll ist, dass die inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit nach deut­schem Vor­bild bei einem Pro­jekt in El-Sal­va­dor von 1993 bis 2008 durch die Deut­sche Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit geför­dert wur­de. Die heu­te, nach 15 Jah­ren noch geleb­te Zusam­men­ar­beit, wird in Berich­ten nach wie vor als Gold­stan­dard beschrie­ben, wes­halb wir die gemein­sa­me Aus­bil­dung am Pati­en­ten heu­te immer noch ger­ne in Kur­sen anbieten.

Das gesam­te Pro­gramm des ISPO-Welt­kon­gres­ses ist auf der Web­site zu finden.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

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