Verstärkung aus Deutschland gibt es am zweiten Kongresstag im Rahmen des Symposiums „Sustainable Design of Lower Limb Prosthetic Components for Low-Resourced Regions“. Für die OT gewährt Jochen Weigel, Diplom-Orthopädietechnik- Meister bei „Weigel + medical Stuttgart“, einen Vorgeschmack auf die Inhalte.
OT: Wie hoch ist der Bedarf an Prothesen für die unteren Extremitäten in ressourcenarmen Ländern?
Jochen Weigel: Im Jahr 2013 schätzte die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass etwa 30 Millionen Amputierte in Entwicklungsländern leben, wobei bis zu 95 Prozent keinen Zugang zu Prothesen haben.
OT: Wie läuft der Entwicklungsprozess von Prothesen dort ab? Inwiefern unterscheidet sich dieser vom Entwicklungsprozess in ressourcenreicheren Regionen?
Weigel: Der Entwicklungsprozess von Prothesen kann im Allgemeinen in vier Phasen beschrieben werden. Phase eins ist die Bedarfsanalyse. Der Bedarf an gut passenden, hoch funktionellen Prothesen ist weltweit der gleiche. Jedoch ist die Erfüllbarkeit dieses Wunsches komplett unterschiedlich . Im Vergleich zu Industrieländern, in denen sich betriebswirtschaftlich relativ genau berechnen lässt, ob und wann sich eine Produktentwicklung lohnt, ist die Einschätzung für Entwicklungsländer viel riskanter, weil der Markt anders funktioniert. Wenn in Deutschland ein Anwender seine chipgesteuerte Oberschenkelprothese von der Krankenkasse finanziert bekommt, kauft ein Anwender im Entwicklungsland seine Prothese meist aus der eigenen Tasche oder bekommt sie über eine Hilfsorganisation finanziert. Die üblichen Standard-Passteile werden oft überAusschreibungen gekauft, weshalb sie preisgünstig sein müssen, eine individuelle Auswahl von Fuß oder Knie ist daher selten möglich. Phase zwei ist die wissenschaftliche Forschung. Zum Glück gibt es durch das genannte Risiko geförderte Forschungsprojekte, bei denen staatliche Träger einen Anteil der Kosten übernehmen, um Innovationen zu initiieren. Darauf folgt die Produktentwicklung: Wir dürfen stolz auf zwei solche Beispiele zurückschauen, denn der Niagara-Fuß und das All-Terrain-Kniegelenk wurden als solche Projekte mit Hilfe von Forschungseinrichtungen erarbeitet. Im nächsten Schritt geht es um die Herstellung und den Vertrieb. Um diese Produkte in ressourcenarmen Regionen zu vertreiben, wenden wir das Robin-Hood-Prinzip an. Wir nehmen in Industrieländern marktüblich hohe Preise, um in ressourcenarmen Regionen günstig verkaufen zu können. Dies setzt aber eine sehr hohe Produktqualität voraus, weshalb wir „Made in Germany“ für wichtig erachten.
OT: Während des Symposiums werden das All-Terrain-Knie und der Niagara-Fuß genauer vorgestellt. Was zeichnet diese Produkte aus? Und warum eignen sie sich für den Einsatz in ressourcenarmen Ländern?
Weigel: Der Niagara-Fuß ist weltweit der einzige der eine individuelle Anpassung seiner Festigkeit durch das Abtragen von Kunststoffschichten ermöglicht. Das kann mit einer Trichterfräse oder genauso gut mit einer Holzraspel gemacht werden. Entwickelt wurde er als robuster, wasserfester Fuß, der im Roll-Over-Design sehr wenig Kraft beim Gehen erfordert. Neu ist hierbei eine Elastomer-Federung, die den Übergang in der mittleren Standphase geschmeidiger gestaltet. In Entwicklungsländen wird oft nur die Länge und die Festigkeit eingeschliffen und eine Gummi-Laufsohle darunter geklebt, in Industrieländern wird natürlich lieber die von uns angebotene Kosmetikhülle benutzt. Das mit 150 Kilogramm belastbare All-Terrain-Knie ist ein hoch funktionelles, salzwasserfestes Gelenk, welches mit der schaltbaren Verriegelung vom Üben bei der Erstversorgung bis zum Einsatz für hoch aktive Anwender Verwendung findet. Es sieht wie ein Ein-Achs-Gelenk aus, in Wirklichkeit hat es aber eine zweite Achse, die den automatischen Mechanismus steuert, der es bei Fersenauftritt komplett verriegelt und bei Ballenlast wieder öffnet – ähnlich wie bei chipgesteuerten Kniegelenken. Deshalb wird es hierzulande in Kombination mit dem Niagara-Fuß sehr gerne für Badeprothesen eingesetzt, was damit keine große Umstellung für den Anwender darstellt.
OT: Welche Eigenschaften müssen Hilfsmittel mitbringen, die in ressourcenarmen Ländern eingesetzt werden?
Weigel: Die Prothesenteile müssen gleichzeitig funktionell und kostengünstig, aber vor allem sehr robust sein, weil dort häufig Patienten mit hoher Aktivität damit versorgt werden und dabei den regionalen Umweltgegebenheiten trotzen müssen. Stellt man sich den vietnamesischen Reisbauern im gefluteten Feld vor, wird klar, dass wasserfeste Materialien gefordert sind und ein SACH-Fuß mit Gummiferseund Holzkern die falsche Wahl wäre. Denkt man an trockene Regionen, in denen Sand wie ein Schleifmittel wirkt, versteht man, dass dort ein Carbonfuß zu schnell durchgeschmirgelt wäre.
OT: Welchen Herausforderungen stehen Sie dabei gegenüber?
Weigel: Meist ist die Finanzierung das größte Problem. Eine typische Prothese, die in einem Entwicklungsland hergestellt wird, kostete vor zehn Jahren schon zwischen 125 und 1.875 US-Dollar. Das Jahreseinkommen eines Menschen mit einer Amputation in einem Entwicklungsland lag jedoch im Durchschnitt bei 300 US-Dollar. Man könnte jetzt schnell denken, dass gespendete Lieferungen helfen würden, jedoch kam es schon vor, dass die gut gemeinten Spenden den betreffenden Markt zerstört haben, weil dann die Orthopädietechniker vor Ort nichts mehr verdient haben. Wir bieten deshalb kostenlose Workshops an, um sie mit Know-how zu unterstützen. Hinzu kommt, dass es meist nur orthopädische Werkstätten in der Hauptstadt gibt und die Amputierten aus ländlichen Gebieten oftmals keinen Zugang zur Versorgung haben. Deshalb haben wir eine preisgünstige, mobile Werkstatt entwickelt.
OT: Welcher Stellenwert kommt bei der Versorgung dem Thema interdisziplinäre Zusammenarbeit zu?
Weigel: Die ist essentiell, denn vielerorts werden Prothesen von Therapeuten, Ärzten oder Helfern von Hilfsorganisationen angepasst. In Deutschland wäre dies unvorstellbar, aber dort ist alles besser, was mobil macht. Toll ist, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit nach deutschem Vorbild bei einem Projekt in El-Salvador von 1993 bis 2008 durch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gefördert wurde. Die heute, nach 15 Jahren noch gelebte Zusammenarbeit, wird in Berichten nach wie vor als Goldstandard beschrieben, weshalb wir die gemeinsame Ausbildung am Patienten heute immer noch gerne in Kursen anbieten.
Das gesamte Programm des ISPO-Weltkongresses ist auf der Website zu finden.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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