Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung im Krisengebiet

Als Human Study 2017 mit dem Ausbildungsprogramm in der Ukraine startete, gab es keine nach internationalen Standards ausgebildeten Orthopädietechniker:innen im Land.

Heu­te sind es 21, Ten­denz stei­gend. Denn der gemein­nüt­zi­ge Ver­ein, der welt­weit Fach­kräf­te für die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung schult, arbei­tet an einer flä­chen­de­cken­den Aus­bil­dung und Ver­sor­gung. Und das – aber nicht nur – vor dem Hin­ter­grund des Angriffs­kriegs Russ­lands im Febru­ar 2022. Auch unab­hän­gig von der Inva­si­on ist der Bedarf in der Ukrai­ne groß. Bei der OTWorld wird Chris­ti­an Schlierf, Geschäfts­füh­rer von Human Stu­dy, ein Zwi­schen­fa­zit des Pro­jekts ziehen.

Anzei­ge

Bereits vor Aus­bruch des Krie­ges benö­tig­ten laut Schlierf von den 40 Mil­lio­nen Einwohner:innen der Ukrai­ne rund 300.000 Men­schen ortho­pä­die­tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, cir­ca drei Vier­tel davon eine orthe­ti­sche Ver­sor­gung. „Durch die Inva­si­on seit 2014 und vor allem seit 2022 sind dazu noch Kriegs­ver­sehr­te hin­zu­ge­kom­men, haupt­säch­lich Ampu­tier­te, sehr vie­le davon mit soge­nann­tem Poly-Trau­ma, also mul­ti­ple Ampu­tier­te“, so Schlierf. Die Gesamt­zahl der kriegs­ver­sehr­ten Zivilist:innen und Soldat:innen sei nicht öffent­lich, vom ukrai­ni­schen Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um wür­den Anga­ben zwi­schen 40.000 und 90.000 kommuniziert.

Vor Kriegs­aus­bruch gab es 46 ortho­pä­die­tech­ni­sche Werk­stät­ten mit rund 300 Techniker:innen ohne for­mel­le Qua­li­fi­ka­ti­on im Land. Inner­halb der ver­gan­ge­nen zwei Jah­re kam es zu einem Boom. Die Zahl ist auf 84 Werk­stät­ten mit rund 500 Techniker:innen gewach­sen. Eine posi­ti­ve Ent­wick­lung, fin­det Schlierf, doch die rei­che nicht aus. Denn nicht nur die Quan­ti­tät, son­dern auch die Qua­li­tät der Techniker:innen sei ent­schei­dend. „Unser Ziel ist es, die Tech­ni­ker nach und nach zu qua­li­fi­zie­ren und gemein­sam mit loka­len Part­nern lang­fris­tig eine natio­na­le Aus­bil­dung auf die Bei­ne zu stel­len.“ Nicht nur Kriegs­ver­sehr­te sei­en dar­auf ange­wie­sen, sagt Schlierf und warnt davor, das Gesamt­bild aus den Augen zu ver­lie­ren. Denn ent­ge­gen des „Hypes“ rund um die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung von Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen benö­ti­ge der Groß­teil nach wie vor Orthe­sen. „Es gibt in der Ukrai­ne – genau­so wie in allen ande­ren Län­dern auch – vie­le Men­schen mit Sko­liose, Cere­bral­pa­re­se, Dia­be­tes und allen ande­ren Patho­lo­gien.“ Wer lang­fris­tig Ver­sor­gung gewähr­leis­ten möch­te, müs­se auch lang­fris­tig den­ken. Des­we­gen strebt der Ver­ein eine umfas­sen­de Aus­bil­dung in allen Ver­sor­gungs­be­rei­chen und auf drei Niveaus an. Dazu gehö­ren Gesell:innen, Techniker:innen, die für die Koor­di­nie­rung zustän­dig sind und den Gesell:innen zuar­bei­ten, sowie Meister:innen. Die Aus­bil­dung umfasst je nach Stu­fe zwi­schen 1.800 und 3.900 Stun­den und ist von der Inter­na­tio­nal Socie­ty for Pro­sthe­tics and Ortho­tics (ISPO) zertifiziert.

Human Stu­dy setzt bei all sei­nen Pro­gram­men welt­weit auf das glei­che Prin­zip: Blen­ded Lear­ning. Das bedeu­tet, es wird berufs­be­glei­tend sowohl online als auch vor Ort gelehrt. Das theo­re­ti­sche Wis­sen wird mul­ti­me­di­al über eine Lern­platt­form ver­mit­telt, die fach­prak­ti­sche Aus­bil­dung fin­det im ukrai­ni­schen Lwiw statt. Zurück in der eige­nen Werk­statt kön­nen die Techniker:innen ihr Wis­sen dann anwen­den und wei­ter­ge­ben. Nicht nur aus der Distanz, son­dern zusätz­lich vor Ort zu leh­ren, hält Schlierf für not­wen­dig, um den Techniker:innen das mit­zu­ge­ben, was sie unter den jewei­li­gen Gege­ben­hei­ten auch tat­säch­lich umset­zen kön­nen. „Wir arbei­ten dort in ihrer Rea­li­tät mit ihren Pati­en­ten und mit ihren Mate­ria­li­en“, betont er. Statt hoch­mo­der­ner, kost­spie­li­ger Ver­sor­gun­gen wird eher auf kon­ven­tio­nel­le Tech­ni­ken gesetzt. „Das ist viel­leicht nicht ganz so funk­tio­nell, aber es erfüllt sei­nen Zweck und ist nach­hal­ti­ger. Nicht nur aus finan­zi­el­ler Sicht, son­dern auch vom Hand­ling her. Denn wer repa­riert ein C‑Leg, wenn es kaputt geht?“ Ziel ist es, die bis­lang 21 Absolvent:innen als Lehr­kräf­te wei­ter­zu­bil­den, um die Ukra­ine so zu befä­hi­gen, lang­fris­tig ihre eige­nen Fach­kräf­te aus­zu­bil­den. Dafür arbei­tet Human Stu­dy mit den medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten in Kiew, Lwiw und Char­kiw zusam­men, die ein ein­heit­li­ches, stan­dar­di­sier­tes Cur­ri­cu­lum erar­bei­ten. Der Start­schuss soll im Herbst 2024 fal­len, die Wei­ter­bil­dung über einen Zeit­raum von zwei Jah­ren lau­fen. „Bis dahin blei­ben wir die Leh­rer“, erklärt Schlierf. Zudem soll von einer der Uni­ver­si­tä­ten das Blen­ded-Lear­ning-Pro­gramm über­nom­men, wei­ter­ge­führt und par­al­lel zum Voll­zeit­stu­di­um ange­bo­ten wer­den. Und zwar so lan­ge, bis der bestehen­de Markt befrie­digt ist, also alle aktu­ell 500 Techniker:innen die Aus­bil­dung durch­lau­fen haben. „Wenn alles nach Plan läuft, haben wir in fünf Jah­ren die Fach­kom­pe­tenz im gan­zen Land ver­an­kert“, hofft Schlierf.

Bis­lang scheint die­ser Plan tat­säch­lich auf­zu­ge­hen. „Aber es ist Krieg. Wir wis­sen nicht, was mor­gen sein wird. Das ist ein Risi­ko­fak­tor, der über allem schwebt, was wir tun.“ Über den not­wen­di­gen stra­te­gi­schen und poli­ti­schen Wil­len sowie über aus­rei­chend Fund­rai­sing macht sich der Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter wenig Sor­gen. Eine Her­aus­for­de­rung stellt für ihn der Fach­kräf­te­man­gel dar – und zwar auf deut­scher Sei­te. „Wir haben begrenz­te Kapa­zi­tä­ten, was die Aus­bil­dung der Tech­ni­ker betrifft. Wir brau­chen drin­gend Unter­stüt­zung – sowohl bei der inhalt­li­chen Gestal­tung als auch vor Ort.“ Schlierf selbst unter­stützt regel­mä­ßig in Lwiw, fühlt sich dort – weil weit weg von der Front – sicher. „Man bewegt sich im Kriegs­ge­biet. Eine Garan­tie dafür, dass es kei­ne Tref­fer gibt, gibt es aber natür­lich nicht.“

Wer sich bei Chris­ti­an Schlierf über die Unter­stüt­zungs­mög­lich­kei­ten infor­mie­ren und mit ihm aus­tau­schen möch­te, hat dazu bei der OTWorld auch abseits sei­nes ­Kon­gress­vor­trags die Gele­gen­heit. Am Stand von Human Stu­dy inner­halb des Son­der­aus­stel­lungs­be­reichs OTWorld.campus ste­hen er und sein Team Rede und Ant­wort. Und die Chan­cen ste­hen gut, ihn hier auch tat­säch­lich anzu­tref­fen, denn: „Ich habe gelernt, dass es bes­ser ist, sta­tisch an einem Punkt zu blei­ben. Irgend­wann kom­men sie alle bei dir vor­bei“, sagt er und lacht.

Pia Engel­brecht

Zur Info
Chris­ti­an Schlierf stellt das Aus­bil­dungs­pro­gramm von Human Stu­dy inner­halb des OTWorld-Sym­po­si­ums „Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung im Kri­sen­ge­biet: Was sind die Her­aus­for­de­run­gen?“ am Don­ners­tag, 16. Mai, vor. Die­ses ­fin­det von 10:30 bis 11:45 Uhr statt. 

 

Die neusten Beiträge von Bri­git­te Sieg­mund (Alle ansehen)
Tei­len Sie die­sen Inhalt