Heute sind es 21, Tendenz steigend. Denn der gemeinnützige Verein, der weltweit Fachkräfte für die Hilfsmittelversorgung schult, arbeitet an einer flächendeckenden Ausbildung und Versorgung. Und das – aber nicht nur – vor dem Hintergrund des Angriffskriegs Russlands im Februar 2022. Auch unabhängig von der Invasion ist der Bedarf in der Ukraine groß. Bei der OTWorld wird Christian Schlierf, Geschäftsführer von Human Study, ein Zwischenfazit des Projekts ziehen.
Bereits vor Ausbruch des Krieges benötigten laut Schlierf von den 40 Millionen Einwohner:innen der Ukraine rund 300.000 Menschen orthopädietechnische Hilfsmittel, circa drei Viertel davon eine orthetische Versorgung. „Durch die Invasion seit 2014 und vor allem seit 2022 sind dazu noch Kriegsversehrte hinzugekommen, hauptsächlich Amputierte, sehr viele davon mit sogenanntem Poly-Trauma, also multiple Amputierte“, so Schlierf. Die Gesamtzahl der kriegsversehrten Zivilist:innen und Soldat:innen sei nicht öffentlich, vom ukrainischen Gesundheitsministerium würden Angaben zwischen 40.000 und 90.000 kommuniziert.
Vor Kriegsausbruch gab es 46 orthopädietechnische Werkstätten mit rund 300 Techniker:innen ohne formelle Qualifikation im Land. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre kam es zu einem Boom. Die Zahl ist auf 84 Werkstätten mit rund 500 Techniker:innen gewachsen. Eine positive Entwicklung, findet Schlierf, doch die reiche nicht aus. Denn nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Techniker:innen sei entscheidend. „Unser Ziel ist es, die Techniker nach und nach zu qualifizieren und gemeinsam mit lokalen Partnern langfristig eine nationale Ausbildung auf die Beine zu stellen.“ Nicht nur Kriegsversehrte seien darauf angewiesen, sagt Schlierf und warnt davor, das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Denn entgegen des „Hypes“ rund um die prothetische Versorgung von Menschen mit Amputationen benötige der Großteil nach wie vor Orthesen. „Es gibt in der Ukraine – genauso wie in allen anderen Ländern auch – viele Menschen mit Skoliose, Cerebralparese, Diabetes und allen anderen Pathologien.“ Wer langfristig Versorgung gewährleisten möchte, müsse auch langfristig denken. Deswegen strebt der Verein eine umfassende Ausbildung in allen Versorgungsbereichen und auf drei Niveaus an. Dazu gehören Gesell:innen, Techniker:innen, die für die Koordinierung zuständig sind und den Gesell:innen zuarbeiten, sowie Meister:innen. Die Ausbildung umfasst je nach Stufe zwischen 1.800 und 3.900 Stunden und ist von der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO) zertifiziert.
Human Study setzt bei all seinen Programmen weltweit auf das gleiche Prinzip: Blended Learning. Das bedeutet, es wird berufsbegleitend sowohl online als auch vor Ort gelehrt. Das theoretische Wissen wird multimedial über eine Lernplattform vermittelt, die fachpraktische Ausbildung findet im ukrainischen Lwiw statt. Zurück in der eigenen Werkstatt können die Techniker:innen ihr Wissen dann anwenden und weitergeben. Nicht nur aus der Distanz, sondern zusätzlich vor Ort zu lehren, hält Schlierf für notwendig, um den Techniker:innen das mitzugeben, was sie unter den jeweiligen Gegebenheiten auch tatsächlich umsetzen können. „Wir arbeiten dort in ihrer Realität mit ihren Patienten und mit ihren Materialien“, betont er. Statt hochmoderner, kostspieliger Versorgungen wird eher auf konventionelle Techniken gesetzt. „Das ist vielleicht nicht ganz so funktionell, aber es erfüllt seinen Zweck und ist nachhaltiger. Nicht nur aus finanzieller Sicht, sondern auch vom Handling her. Denn wer repariert ein C‑Leg, wenn es kaputt geht?“ Ziel ist es, die bislang 21 Absolvent:innen als Lehrkräfte weiterzubilden, um die Ukraine so zu befähigen, langfristig ihre eigenen Fachkräfte auszubilden. Dafür arbeitet Human Study mit den medizinischen Universitäten in Kiew, Lwiw und Charkiw zusammen, die ein einheitliches, standardisiertes Curriculum erarbeiten. Der Startschuss soll im Herbst 2024 fallen, die Weiterbildung über einen Zeitraum von zwei Jahren laufen. „Bis dahin bleiben wir die Lehrer“, erklärt Schlierf. Zudem soll von einer der Universitäten das Blended-Learning-Programm übernommen, weitergeführt und parallel zum Vollzeitstudium angeboten werden. Und zwar so lange, bis der bestehende Markt befriedigt ist, also alle aktuell 500 Techniker:innen die Ausbildung durchlaufen haben. „Wenn alles nach Plan läuft, haben wir in fünf Jahren die Fachkompetenz im ganzen Land verankert“, hofft Schlierf.
Bislang scheint dieser Plan tatsächlich aufzugehen. „Aber es ist Krieg. Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Das ist ein Risikofaktor, der über allem schwebt, was wir tun.“ Über den notwendigen strategischen und politischen Willen sowie über ausreichend Fundraising macht sich der Orthopädietechnik-Meister wenig Sorgen. Eine Herausforderung stellt für ihn der Fachkräftemangel dar – und zwar auf deutscher Seite. „Wir haben begrenzte Kapazitäten, was die Ausbildung der Techniker betrifft. Wir brauchen dringend Unterstützung – sowohl bei der inhaltlichen Gestaltung als auch vor Ort.“ Schlierf selbst unterstützt regelmäßig in Lwiw, fühlt sich dort – weil weit weg von der Front – sicher. „Man bewegt sich im Kriegsgebiet. Eine Garantie dafür, dass es keine Treffer gibt, gibt es aber natürlich nicht.“
Wer sich bei Christian Schlierf über die Unterstützungsmöglichkeiten informieren und mit ihm austauschen möchte, hat dazu bei der OTWorld auch abseits seines Kongressvortrags die Gelegenheit. Am Stand von Human Study innerhalb des Sonderausstellungsbereichs OTWorld.campus stehen er und sein Team Rede und Antwort. Und die Chancen stehen gut, ihn hier auch tatsächlich anzutreffen, denn: „Ich habe gelernt, dass es besser ist, statisch an einem Punkt zu bleiben. Irgendwann kommen sie alle bei dir vorbei“, sagt er und lacht.
Pia Engelbrecht
Christian Schlierf stellt das Ausbildungsprogramm von Human Study innerhalb des OTWorld-Symposiums „Hilfsmittelversorgung im Krisengebiet: Was sind die Herausforderungen?“ am Donnerstag, 16. Mai, vor. Dieses findet von 10:30 bis 11:45 Uhr statt.
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