Vor acht Jahren wurde die „Hilfsmittelmatrix Cerebralparese – eine Orientierungshilfe für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit CP“ des Vereins „Netzwerk Cerebralparese e. V. – Verein zur Förderung vernetzter CP-Versorgung“ veröffentlicht und ist seitdem eine Leitplanke für alle Beteiligten in der Hilfsmittelversorgung von Kindern und Jugendlichen mit CP. Die multidisziplinäre Arbeitsgruppe des Vereins, bestehend aus Vertreter:innen der Orthopädie-Technik, Orthopädie-Schuhtechnik, Medizin mit dem Schwerpunkt Neuroorthopädie sowie Physio- und Ergotherapie hat sich zusammengetan und ein Update für die Hilfsmittelmatrix erstellt. Dies war nötig, weil es seit der Erstveröffentlichung Feedback aus der Praxis gab, an welchen Stellen die ursprünglich veröffentlichte Matrix noch Potenziale hat.
„An der Struktur und Anwendungsweise der Matrix hat sich nichts geändert und sie wird unverändert fortgeführt“, erklärt Peter Fröhlingsdorf stellvertretend für die Arbeitsgruppe bestehend aus Dr. Björn-Christian Vehse, Stefan Steinebach, Jens Dolligkeit, Burkhard Püttmann, Gunnar Kandel, Andrea Espei und Christof Tenckhoff. Die Hilfsmittelmatrix zeigt, in Abhängigkeit vom GMFCS-Level (Gross Motor Function Classification System) und Alter der Patient:innen, die möglichen Hilfsmittelgruppen auf, die in dem jeweiligen Bereich ein sinnvoller Bestandteil der Therapie und des Alltags sein können. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um Empfehlungen im Sinne von Leitplanken handelt und nicht um eine Standardisierung oder gar um Ausschlusskriterien beziehungsweise eine Negativliste.
Im Bereich der Orthopädie-Technik wurde bei der ersten Fassung der Hilfsmittelmatrix eine differenzierte Unterteilung der Versorgungmöglichkeiten im Bereich der unteren Extremität vorgenommen. Die Versorgungen der oberen Extremität, seien es Funktions- oder Lagerungsorthesen, wurden seinerzeit in einem Punkt zusammengefasst. „Da die Versorgungen der oberen Extremität bei Patient:innen mit Cerebralparese jedoch einen wichtigen Aspekt zur Teilhabe in ihrem Lebensumfeld darstellen, haben wir bei der Überarbeitung der bisher vorliegenden Hilfsmittelmatrix diesen Bereich neu eingeteilt. Die neuen Unterteilungen im Bereich der Versorgungen der oberen Extremität lauten ‚funktionelle Handorthesen‘, ‚funktionelle Unterarm-Handorthesen‘ und ‚Lagerungsorthesen obere Extremität‘“, erklärt Fröhlingsdorf. Die Funktionsorthesen sollen die Aktivität der Patien:innen unterstützen. Ob das definierte Versorgungsziel von einer konfektionierten oder individuell hergestellten Orthese zu erreichen ist, hängt von der jeweiligen Fragestellung des Patienten ab. Individuell hergestellte Orthesen werden überwiegend in Silikontechnik gefertigt. Die „funktionelle Handorthese“ hat überwiegend die Funktion, den Daumen vor dem Einschlagen in die Handinnenfläche zu bewahren und ihn in einer zweckmäßigen Funktionsstellung (Opposition) zu halten. Sie kann zusätzlich, wenn notwendig, die Finger vor einer zu starken Beugung im Fingergrundgelenk schützen und so die Handfunktion bewahren.
Die „funktionelle Unterarm-Handorthese“ kann, über die Funktionen der „funktionellen Handorthese“ hinaus, Einfluss auf die Stellung des Handgelenkes nehmen. Dies ist möglich, weil der Schaft bei dieser Orthese nach proximal über das Handgelenk hinaus am Unterarm anliegt. Dabei richtet sich die Länge des Schaftes nach der aufzubringenden Kraft, die benötigt wird, um das Handgelenk zu korrigieren. Die „funktionelle Unterarm-Handorthese“ kann dadurch bauartbedingt sowohl Einfluss auf die Beugung oder Streckung des Handgelenks als auch auf die Ulnar- oder Radialduktion nehmen.
Rumpforthesen wurden bisher in der Matrix nicht berücksichtigt. Da sie jedoch im Alltag regelmäßig zur Anwendung kommen, wurden sie nun in die Übersicht aufgenommen. Zu den Rumpforthesen zählen einerseits stabilisierend-teilflexible Korsette für die GMFCS-Level III‑V sowie dynamisch-aktivierende für die Level II und III aus elastischem Gewebe oder Gewirk. Teilflexible Korsette haben mehrere Aufgaben. Prinzipiell sollen sie die negativen Auswirkungen der Schwerkraft begrenzen. Sie sollen stabilisieren und die Aufrichtung des Rumpfes unterstützen sowie bimanuelle Aktivitäten und die Kopfkontrolle erleichtern. Durch diese Vorteile ist eine verbesserte Teilhabe zu erwarten. Darüber hinaus können Rumpforthesen durch eine Wachstumslenkung dazu beitragen, Deformitäten des Rumpfes zu vermeiden und die Lungenfunktion zu erhalten. Dynamisch-aktivierende Rumpforthesen können zu einem Ausgleich von Muskeldysbalancen und leichten Fehlhaltungen verhelfen. Die Hauptwirkung liegt in einer verbesserten Propriozeption und Tonusregulation, wodurch gezielte Aktivitäten erleichtert werden können.
Im Bereich der Reha-Hilfsmittel wurde die Badeliege durch den übergeordneten Bereich der Bad- und Toilettenhilfen ersetzt. „In dieser Kategorie ist unbedingt auf die räumlichen Gegebenheiten im häuslichen Umfeld zu achten. Im Säuglingsbereich der GMFCS Level IV und V können Badehilfen eine Entlastung für die pflegenden Angehörigen darstellen“, weist Fröhlingsdorf hin. Im Bereich der Sitzschalen-Versorgung wurde eine Änderung im Bereich Level III des Alterskorridors von 12 bis 18 Jahre vorgenommen. „Wir befürworten Sitzschalen beziehungsweise individuell angepasste Sitz-Rückenorthesen zum Einsatz in Adaptiv- beziehungsweise Aktivrollstühlen, um durch die rumpfstabilisierende Wirkung den Einsatz der Arme zur eigenständigen Fortbewegung zu forcieren“, führt Fröhlingsdorf weiter aus. Um die Bedeutung der eigenständigen Fortbewegung für Patienten in Level III hervorzuheben, wurde der Bereich „Untergestell“ herausgenommen, da sich diese kaum zum Selbstfahren eignen.
Hinzugefügt wurde in Level III für den Alterskorridor 12 bis 18 Jahre eine Schiebehilfe, die für die Erschließung des wohnortnahen Umfeldes von Bedeutung sein kann und somit die Teilhabe positiv beeinflusst.
Die aktualisierte Hilfsmittelmatrix wird weiterhin im DIN-A4-Format ausgegeben, da es sich in der Praxis der interdisziplinären Sprechstunden bewährt hat.
„Die Aktualisierung der Hilfsmittelmatrix markiert aus unserer Sicht einen praxisrelevanten Schritt hin zur kontinuierlichen Verbesserung interdisziplinärer Hilfsmittel-Sprechstunden für Kinder und Jugendliche mit CP. Wir sind davon überzeugt, dass diese Weiterentwicklung der Matrix dazu beitragen wird, die Gewährleistung der ICF-Aspekte von Patient:innen mit Hilfsmittelbedarf zu optimieren. Die Praxis der Orthopädie-Technik ist von Natur aus multidisziplinär, und die Anwendung dieser aktualisierten Matrix soll die Zusammenarbeit zwischen Fachleuten aus verschiedenen Bereichen weiter stärken. Eine effiziente Kommunikation und Abstimmung zwischen den Beteiligten ist von entscheidender Bedeutung, um Patient:innen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen. Wir danken allen Experten des Hilfsmittelmoduls des Netzwerkes Cerebralparese e. V. für die engagierte Zusammenarbeit“, fasst Peter Fröhlingsdorf zusammen.
Die Hilfsmittelmatrix können Sie im Internet abrufen.
Hilfsmittelmatrix Cerebralparese – eine Orientierungshilfe für die Behandlung von Kindern mit CP, P. Fröhlingsdorf, B. C. Vehse, D. Herz, S. Steinebach, Orthopädie Technik, OT Verlag, Ausgabe Juli 2016
Arbeitskreis Neuroorthopädie der Österreichischen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, Standards der orthopädietechnischen Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit neuromotorischen Erkrankungen, 2012
Palisano R et al. (1997) Development and validation of a gross motor function classification system for children with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol 39: 214–223
Klassifikation und Therapiekurven für Kinder mit Cerebralparesen, Version 2009 für Focus Cerebralparesen, Modifiziertes ZEBRA-Consensus-Dokument. http://cp-netz.uniklinik-freiburg.de/cpnetz/live/aerzte-therapeuten/definintionen-erlaeuterungen/gmfcs.html (Zugriff am 05.04.2016)
WHO, World Health Organization. ICF, International Classification of Functioning, Disability and Health. WHO Library Cataloguing in Publication Data, ISBN 92 4154544 5, 2001
World Health Organisation ICF-CY Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen; J, Kraus de Camargo. Hans Huber, Bern (CH) Hogrefe vormals Hollenweger
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