Hand­pro­the­se mit Spielzeugcharakter

Hero Hand: Mit ihrer kindgerechten Prothese schafft Designerin Erika Hilberg eine kostengünstige, robuste und spielerisch gestaltete Lösung für Kinder mit Amputation – entwickelt für den Einsatz in Ländern mit begrenzten Ressourcen.

Die Pro­the­sen­ver­sor­gung ist inner­halb der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te erheb­lich vor­an­ge­schrit­ten. Funk­ti­on und Optik sind moder­ner und indi­vi­du­el­ler denn je. Doch wäh­rend in Indus­trie­na­tio­nen High-Tech-Model­le gefragt sind, ist andern­orts manch­mal weni­ger mehr. Ein man­gel­haf­tes Gesund­heits­sys­tem, gerin­ges Ein­kom­men und beson­de­re Lebens­be­din­gun­gen stel­len die Ver­sor­ger in Ent­wick­lungs­län­dern vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen. Vor die­sem Hin­ter­grund hat Eri­ka Hil­berg im Rah­men ihrer Bache­lor­ar­beit eine Hand­pro­the­se für Kin­der ent­wi­ckelt, die schnell gefer­tigt, güns­tig und robust ist und durch ihren Spiel­zeug-Look zum Tra­gen moti­vie­ren soll. Dem­nächst soll in Peru der ers­te Pati­ent mit der „Hero Hand“ ver­sorgt werden.

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Ihr Inter­es­se an der Medi­zin­tech­nik ist schon lan­ge groß. So groß, dass sich Eri­ka Hil­berg 2023 auf den Weg nach Cura­hua­si mach­te, um dort ein Hilfs­mit­tel zu ent­wi­ckeln, für das es eine Nische zu fül­len galt. „Men­schen eine Per­spek­ti­ve zu geben und Chan­cen­gleich­heit zu ermög­li­chen – das treibt mich an, gute Arbeit zu leis­ten“, sagt die Indus­trie- und Pro­dukt­de­si­gne­rin, die ihre Zie­le laut eige­ner Aus­sa­ge immer gern eine Schip­pe höher setzt. Zusam­men mit Dani­el Mül­ler, dem dama­li­gen Lei­ter des Ortho­pä­die­tech­nik-Zen­trums am Mis­si­ons­kran­ken­haus Dio­spi Suya­na, und sei­nem Nach­fol­ger Chris­ti­an Haupt dis­ku­tier­te sie, für wel­che Berei­che es neue Ansät­ze braucht: Neben Fuß­pro­the­sen, Unter­arm­grif­fen und einem Ver­leih­sys­tem für Hilfs­mit­tel stell­ten sich Hand­pro­the­sen für drei- bis sechs­jäh­ri­ge Kin­der als beson­ders gefragt her­aus. Was gibt es bereits auf dem Markt? Wel­che Tech­ni­ken eig­nen sich? An wel­chen Stel­len gibt es Ver­bes­se­rungs­be­darf? Und was benö­ti­gen und wün­schen sich Kin­der mit Ampu­ta­tio­nen in Peru? Aus­ge­bil­de­te Ortho­pä­die­tech­ni­ker gibt es dort nur weni­ge. Des­we­gen stand von Anfang an fest, dass die Pro­the­se schnell, ein­fach und ohne gro­ße Vor­kennt­nis­se von unge­lern­tem Per­so­nal gefer­tigt wer­den kön­nen muss – 3D-Druck soll­te es mög­lich machen. Hil­berg recher­chier­te, expe­ri­men­tier­te mit ver­schie­de­nen Dru­ckern und sam­mel­te durch Gesprä­che mit den Tech­ni­kern sowie Kin­dern und Eltern vor Ort wei­te­re Eigen­schaf­ten, die das Hilfs­mit­tel mit­brin­gen soll. „Mein Traum war es eigent­lich, eine Eigen­kraft­pro­the­se mit Seil­zü­gen zu ent­wi­ckeln“, berich­tet die 28-Jäh­ri­ge. Doch je län­ger sie sich in Peru auf­hielt und das Leben der Men­schen ken­nen­lern­te, des­to mehr spür­te sie: „Das ist nicht das, was die Kin­der brau­chen.“ Selbst wenn sie eine gut funk­tio­nie­ren­de, wie eine Hand aus­se­hen­de Pro­the­se hät­ten, wür­den sie nach wie vor als Opfer der Gesell­schaft ange­se­hen – zu groß sei­en dort die Vor­ur­tei­le gegen­über Men­schen mit Behin­de­run­gen. „Wir haben nicht ver­sucht, die Ana­to­mie oder Optik einer Hand zu imi­tie­ren – das wäre in dem Preis­seg­ment auch gar nicht mög­lich gewe­sen. Unse­re Idee war es, die Pro­the­se wie ein Spiel­zeug zu gestal­ten, cool aus­se­hen zu las­sen und damit das Selbst­be­wusst­sein der Kin­der zu stär­ken.“ Da die Pati­en­ten – anders als in Deutsch­land – nur sel­ten die Mög­lich­keit haben, ein Kran­ken­haus auf­zu­su­chen, war zudem der Anspruch, dass der Schaft mit­wach­sen kann. Und wo Kin­der spie­len, braucht es vor allem eins: Robust­heit. Dar­über hin­aus soll­te die Pro­the­se leicht, intui­tiv zu bedie­nen und ein­fach zu repa­rie­ren sein – und all das zum Preis von „so güns­tig wie mög­lich“. Was die dama­li­ge Stu­den­tin wäh­rend ihres Auf­ent­halts fest­stell­te: Kin­der kom­men in Peru sozu­sa­gen mit Stift und Pin­sel in der Hand zur Welt: Malen steht bei jedem Event auf dem Pro­gramm. Wenn die Pro­the­se also eines kön­nen muss­te, dann gezielt Far­be aufs Papier bringen.

Mehrere Monate verbrachte Erika Hilberg in Peru, um eine Prothese zu entwickeln, die für die Kinder dort einen wirklichen Mehrwert bieten soll. Foto: Hilberg
Meh­re­re Mona­te ver­brach­te Eri­ka Hil­berg in Peru, um eine Pro­the­se zu ent­wi­ckeln, die für die Kin­der dort einen wirk­li­chen Mehr­wert bie­ten soll. Foto: Hilberg

Schaft wächst mit

Gern hät­te Hil­berg auf nach­hal­ti­ges Mate­ri­al wie Holz oder alte Auto­rei­fen gesetzt. Doch von die­ser Idee ver­ab­schie­de­te sie sich schnell. Die Bear­bei­tung wäre zu auf­wen­dig, zeit­in­ten­siv und nur mit Fach­wis­sen mach­bar gewe­sen. PLA stell­te sich für den Schaft als zu steif her­aus, TPU brach­te die gewünsch­te Fle­xi­bi­li­tät und der fla­che Druck Sta­bi­li­tät. Durch das ein­ge­ar­bei­te­te Mus­ter ist der Schaft dehn­bar, kann also mit­wach­sen, eben­so durch Klett­ver­schlüs­se. Per Klemm­ver­bin­dung wer­den Schaft und Pro­the­se ver­bun­den. Ver­schie­de­ne Auf­sät­ze wie die „Mal­hand“ kön­nen somit ein­fach gewech­selt wer­den. Als beson­de­res Extra ist ein Anspit­zer inte­griert. Zwei fle­xi­ble „Fin­ger“ machen es mög­lich, Stif­te und Pin­sel zu hal­ten und damit zu malen. Die­se müs­sen die Kin­der mit ihrer zwei­ten Hand in die pas­sen­de Posi­ti­on bie­gen. Der Spiel­zeug­cha­rak­ter spie­gelt sich damit in der Funk­ti­on wider, kommt aber eben­so durch die Optik zum Vor­schein. Ein­fach, weich und glatt, Run­dun­gen statt Ecken und Kan­ten – so beschreibt Hil­berg die Form des Hilfs­mit­tels. Die kügel­chen­ar­ti­gen Fin­ger ähneln optisch zwei Rau­pen oder auch Füh­lern. Es gibt noch die Über­le­gung, Augen auf­zu­ma­len und so in Kom­bi­na­ti­on mit dem Auf­satz als Mund ein Gesicht ent­ste­hen zu las­sen. „Funk­ti­on und Optik müs­sen für mich grund­sätz­lich zusam­men funk­tio­nie­ren“, betont Hilberg.

Per­fek­tes Teamwork

Wäh­rend des Ent­wick­lungs­pro­zes­ses pro­fi­tier­te die 28-Jäh­ri­ge enorm vom Wis­sen der bei­den Ortho­pä­die­tech­ni­ker in Peru, ins­be­son­de­re mit Blick auf die hand­werk­li­che Umset­zung. „Ich hat­te oft abge­fah­re­ne Ideen“, sagt Hil­berg und lacht. Mül­ler dage­gen hat­te oft schon eine genaue Vor­stel­lung im Kopf, Haupt expe­ri­men­tier­te gern mal her­um. „Die­se Kom­bi­na­ti­on hat per­fekt gepasst. Manch­mal brauch­te ich das eine, mal das ande­re. Ich muss­te nur ler­nen, wann ich auf was höre.“

Geplant ist es, die – in der gro­ßen Ver­si­on – rund 93 Gramm leich­te „Hero Hand“ als Dienst­leis­tung in ent­wick­lungs­schwa­chen Län­dern anzu­bie­ten. Die Ver­sor­ger sol­len neben der digi­ta­len Datei eine Bera­tung (z. B. per Online-Mee­ting) erhal­ten, die Schritt für Schritt durch den Ver­sor­gungs­pro­zess führt. Den Eltern soll zudem eine Bedie­nungs­an­lei­tung in der jewei­li­gen Lan­des­spra­che zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Die Kos­ten für die Pro­the­se schätzt Hil­berg auf 4 bis 5 Euro pro Stück.

Die ers­te Ver­sor­gung ist bereits in Pla­nung, das benö­tig­te TPU-Fila­ment auf dem Weg von Deutsch­land nach Peru. Hil­berg ist gespannt auf das Feed­back der Eltern und Kin­der und plant wäh­rend­des­sen schon mög­li­che Opti­mie­run­gen: „Wenn das Pro­dukt gera­de fer­tig gewor­den ist, habe ich immer direkt Ideen, wie es wei­ter­ge­hen kann.“ Als lang­le­bi­ge­re Alter­na­ti­ve für den in den Fin­gern ein­ge­ar­bei­te­ten Alu­mi­ni­um­draht kann sie sich bei­spiels­wei­se Edel­stahl vor­stel­len. Wäh­rend PLA für den Schaft zu steif war, könn­te es sich für den Anspit­zer-Add-on gera­de des­we­gen bes­ser als TPU eig­nen. Zudem ent­wi­ckelt die Desi­gne­rin wei­te­re Auf­sät­ze für die Pro­the­se. Denn neben der Mög­lich­keit zu malen sei es vie­len Kin­dern wich­tig, Gegen­stän­de grei­fen sowie Bäl­le auf­fan­gen und wer­fen zu kön­nen. Hil­berg wird das Pro­jekt zusam­men mit der Unter­stüt­zung aus Peru wei­ter­ver­fol­gen und hofft, lang­fris­tig in der Pro­dukt­ent­wick­lung im Bereich Ortho­pä­die-Tech­nik beruf­lich Fuß zu fassen.

Pia Engel­brecht

 

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