Der Wissenschaftler gehört zu den Organisatoren des Cybathlons, der am 2. und 3. Mai 2020 in Kloten bei Zürich zum zweiten Mal stattfinden wird. Bei diesem internationalen Wettbewerb messen sich Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Disziplinen, unterstützt von Hightech-Assistenzsystemen wie Exoskeletten oder Brain-Computer-Interfaces.
Im Interview berichtet Dr. Wolf über Forschungsprojekte zu „Exosuits“ als leichtere Variante der Exoskelette und über spannende Entwicklungen, die auch auf dem Cybathlon zu sehen sein werden.
OT: An welchen Forschungsprojekten zu Robotik und Exoskeletten arbeiten Sie gerade?
Dr. Peter Wolf: An Exoskeletten, die nicht mehr so klobig sind, wie man sie zum Beispiel beim ersten Cybathlon gesehen hat. Diese neuen „Exosuits“ werden in Textilien eingearbeitet, sind viel leichter und unauffälliger. An unserem Lehrstuhl haben wir solche Systeme mitentwickelt, inzwischen ist ein Unternehmen daraus entstanden. Diese Exosuits unterstützen Menschen mit Restfunktion in den Beinen beim Gehen. Sie können auch von Rollstuhlfahrern selbstständig benutzt werden, um zeitweise aus dem Rollstuhl aufzustehen. Es gibt sogar Nutzer, die ohne den Exosuit kaum laufen können – und jetzt wieder an einem Marathon teilnehmen.
OT: Nach welchem Prinzip funktionieren die Exosuits?
Wolf: Sie funktionieren wie ein Bowdenzug (Bowdenzug = Seilzug, überträgt mechanische Bewegungen, Druck- und Zugkräfte; benannt nach dem Erfinder Ernest Monnington Bowden; Anm. d. Red.) und unterstützen bestehende Muskelaktivitäten. Für die untere Extremität sind solche Systeme schon auf dem Markt. Aktuell forschen wir daran, dieses Prinzip auch für die obere Extremität anzuwenden. Auch hier besteht das Konstrukt aus einer Art Seilzug mit Motor, das den Bewegungsradius und die Ausdauer beim Heben des Arms vergrößert. Hier gilt ebenso, dass Restfunktionen für die Bewegungsansteuerung noch vorhanden sein müssen. Bis zur Marktreife wird es noch ein paar Jahre dauern.
OT: Wo befinden sich die Motoren bei einem Exosuit?
Wolf: Die Motoreinheit wird auf dem Rücken getragen. Im Gegensatz zu den Exoskeletten, wo sich an jedem Gelenk Motoren befinden und dadurch jedes Gelenk einzeln unterstützt wird.
OT: Werden Exosuits die Exoskelette ersetzen?
Wolf: Nein, da sie ausschließlich bei einer inkompletten Querschnittlähmung einsetzbar sind. Aber auch bei den klassischen Exoskeletten werden die Antriebe in Zukunft kleiner und leichter. Damit wird sich die Zielgruppe dieser Produkte erweitern. Denn bisher müssen die Träger, die sie im Alltag nutzen wollen, schon recht sportlich sein. Noch mehr Gewicht würden kleinere Batterien sparen, jedoch werden diese wohl in näherer Zeit nicht schrumpfen. Die Stromversorgung wird also ein Problem bleiben. Vor allem in der Rehabilitation haben Exoskelette als Therapieroboter allerdings eine spannende Zukunft. Dies ist unser zweites Projekt, das wir gerade vorantreiben.
Roboter als therapeutischer Partner
OT: Welchen Ansatz verfolgen Sie in dieser Hinsicht?
Wolf: Wir arbeiten zurzeit an einem Exoskelett für die Neurorehabilitation, mit dem Armfunktionen trainiert werden. Bisher haben sich Therapieroboter im klinischen Alltag noch nicht durchgesetzt.
OT: Woran liegt das?
Wolf: Zum einen muss das Wissen der Therapeuten noch besser in die Roboter integriert werden. Bislang können Roboter repetitiv arbeiten und den Patienten in gewissem Umfang motivieren. Doch wirklich individuell auf die jeweilige Situation eingehen können sie nicht – für eine entsprechende Programmierung fehlt noch die Datengrundlage. Wir arbeiten daran, dass die Therapeuten künftig intuitiver mit dem Roboter zusammenarbeiten können. Statt die Übungen wie heute üblich am Bildschirm einzugeben, wird der Roboter angefasst und bewegt. Er wird gemeinsam mit dem Patienten vom Therapeuten durch die Bewegung geführt.
Gemeinsame Sprache finden
OT: Der Einsatz von Robotern wird inzwischen oft mit Künstlicher Intelligenz (KI) in Verbindung gebracht …
Wolf: Dafür haben wir bisher viel zu wenige Daten. Deshalb lässt sich KI in der Neurorehabilitation derzeit nicht so umfassend einsetzen wie zum Beispiel in der Krebsmedizin. Das steckt noch in den Kinderschuhen. Außerdem müssen die Roboter noch wissenschaftlich nachweisen, dass sie eine Daseinsberechtigung haben und die robotergestützte Therapie der konventionellen überlegen ist. Die Studienlage ist ambivalent. Nicht zuletzt, weil es nur wenige Studien gibt. Viel zu tun gibt es weiterhin bei der interdisziplinären Kollaboration. Programmierer, Mediziner und Fachleute, die etwas vom Bewegungslernen verstehen, müssen kooperieren. Diese Interdisziplinarität gehört zu den größten Herausforderungen. Eine gemeinsame Sprache zu finden, dauert.
OT: Auch wenn für einen sinnvollen Einsatz der KI in dem Bereich noch die Datengrundlage fehlt – wird sie den Physiotherapeuten, aber ebenso den Orthopädie-Technikern den Platz streitig machen?
Wolf: Nein, deren Erfahrungen, deren Einfühlungsvermögen ist in näherer Zukunft nicht ersetzbar. Selbstverständlicher wird das Zusammenspiel von Mensch und Roboter. Deshalb muss mehr Robotik in die Ausbildung einziehen.
OT: Sie gehören zu den Gründern des Cybathlons, der im nächsten Jahr seine zweite Auflage erlebt. Werden neuartige Exoskelette an den Start gehen?
Wolf: Bei den herkömmlichen Exoskeletten hat sich nicht so viel Neues getan. Da es sich um sehr teure Geräte handelt, ist eine Teilnahme in dieser Disziplin für viele Länder schwierig. Trotzdem gibt es etliche Studententeams, die sich angemeldet haben. Nach wie vor sind die Exoskelette aber sehr langsam, haben Probleme an Schrägen, viel Last auf den Armen. Deshalb sind etliche Nutzer ehemalige Soldaten, die zum Zeitpunkt ihres Unfalls gut trainiert waren.
OT: Welche Hightech-Trends werden sich demgegenüber in den Wettkämpfen widerspiegeln?
Wolf: Sehr viel getan hat sich bei den Rollstühlen. Wir werden etliche Modelle sehen, die Treppen steigen können – aus der Schweiz, aus Asien und einen alttagstauglichen, robusten Rollstuhl aus Russland. Beim ersten Cybathlon 2016 gab es diese ausgereiften Produkte noch nicht. Wir sind stolz, diese Entwicklung durch unsere Veranstaltung gepusht zu haben. Bei den Armprothesen werden wir einen Schub erleben, was das Fühlen und die Motorik betrifft. Gespannt bin ich, welche Neuheiten es hinsichtlich der funktionellen elektrischen Stimulation der Muskeln (FES) gibt. Da liegt das Problem in der Ermüdung der Muskeln. Lösungen braucht es bei der gezielten Ansprache der Muskeln durch die Elektroden und der nötigen Hardware. Die FES-Fahrradrennen werden zeigen, wohin die Reise geht.
OT: Welche Erwartungen haben Sie an den nächsten Cybathlon?
Wolf: Dass es uns wieder gelingt, wegweisende Entwicklungen anzustoßen, die letztlich den Betroffenen nutzen. Dass wir große Aufmerksamkeit für die Hightech-Entwicklungen in der Hilfsmittelbranche wecken und natürlich für die Patientinnen und Patienten. Wir möchten Berührungsängste abbauen und zeigen, was realistisch ist. Welche Technologien es bereits gibt, die körperliche Einschränkungen kompensieren können. Noch gibt es Grenzen der Robotik bei Exoskeletten, bei Rollstühlen, bei Brain-Computer-Interfaces – die wollen wir verschieben. Wir hoffen, dass mehr Entwickler ihre Algorithmen offenlegen. Speziell bei Brain-Computer-Interfaces. Denn unter Laborbedingungen gab es schon gute Ergebnisse zum Beispiel bei der Rollstuhlsteuerung. Diese müssen breit weiterentwickelt werden. Ich würde mich freuen, wenn durch den Cybathlon ein Benchmark der Algorithmen angeregt wird.
OT: Woher kommen die Teams, die am Cybathlon teilnehmen?
Wolf: Aus Europa, Afrika, Asien – und dort nicht nur aus einem Hightech- und Robotikland wie Japan, sondern genauso aus Indien. Das freut uns, denn wir möchten Teams dabeihaben, auf deren Märkten es stark auf die Kosten der Geräte ankommt, die unter extrem schwierigen Marktbedingungen kreativ sein müssen. So ist günstige Arm- und Beinprothetik in Afrika und Indien ein großes Thema. 2016 gehörte eine Eigenkraft-Armprothese zu den Gewinnern. Das Prinzip dahinter war keine hochkomplexe Technik, sondern ein Seilzug, der über die andere Schulter eine Greifzange bewegte. Auch aus solchen einfachen Lösungen kann man lernen.
OT: Wie viele Teams werden bei der zweiten Auflage antreten?
Wolf: Bisher haben sich 77 Teams angemeldet, mehr als zur Premiere. Zu zwei Dritteln sind es Studierende. Das finde ich toll, denn beim Cybathlon werden sie konfrontiert mit den Herausforderungen, die Menschen mit Behinderung meistern müssen – und nehmen diese Sensibilisierung an ihre künftigen Arbeitsplätze mit. Ein unschätzbarer Multiplikatoreffekt, der zur Inklusion beiträgt.
OT: Was wollen Sie durch den Cybathlon in der Gesellschaft bewirken?
Wolf: Wir möchten den Betroffenen helfen, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Das muss gesellschaftlich gewollt sein. Auf der anderen Seite möchten wir niemanden vorschreiben, die Hightech-Möglichkeiten zu nutzen. Es darf keine Diskriminierung, keinen Zwang geben – und ebenso wenig einen Ausschluss von den neuesten Technologien.
Das Interview führte Cathrin Günzel
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