Seite an Seite saßen Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), Eberhard Schmidt, Präsident der Bundesinnung der Hörakustiker (biha), Christian Müller, Präsident des Zentralverbandes der Augenoptiker und Optometristen (ZVA), Jens Schulte, Präsident des Spitzenverbandes Orthopädie-Schuhtechnik (SpiOST) und Dominik Kruchen, Präsident des Verbandes Deutscher Zahntechniker-Innungen (VDZI), neben Markus Schäfer, Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), und sprachen über die Sorgen und Herausforderungen der Gesundheitshandwerke.
Bürokratielast erdrückend
Dabei wurde schnell klar: Zentrale Themen, wie der Fachkräftemangel, leistungsgerechte Vergütung und eine überbordende Bürokratie betreffen die Leistungserbringer landauf und landab. Alf Reuter appellierte an die Politik: „Wir kommen von hier, wir leben hier und wir arbeiten hier – aber bitte lassen Sie uns auch arbeiten.“ Der BIV-OT-Präsident nahm in seinem Statement vor allem die Bürokratielast in den Fokus: „Wir erleben es tagtäglich: Statt Patienten zu versorgen, kämpfen wir mit Papierbergen. Statt innovative Lösungen zu entwickeln, verlieren wir uns in unüberblickbaren Formblättern. Und statt unser Gesundheitssystem effizient zu gestalten, verschwenden wir unzählige Stunden mit einer ausufernden Dokumentationspflicht.“
Mancher Kollege, so Reuter, versuche auf diese Problematik hinzuweisen, indem er sich neben dem ganzen Papier fotografieren ließe, das ein OT-Betrieb verbrauche, und dies in den sozialen Medien teile. Papier ist und bleibe das bevorzugte Medium bei den Kostenträgern. Auch die verschiedenen Formblätter würden für einen enormen Bürokratieaufwand sorgen, schließlich hätten ja fast alle 95 Krankenkassen ein eigenes. „Und für was?“, fragte Reuter und berichtet, dass in seiner Branche die Betriebe durchschnittlich mehr als 30 Prozent ihrer gesamten Arbeitszeit für die Bewältigung der GKV-Standard-Prozesse aufwenden. Dazu gehören Rezeptprüfung, Korrektur und Änderung – Einholen von Unterschriften für die Beratung, Lieferung, Mehrkostenübernahme, Einziehen der gesetzlichen Zuzahlung für die Krankenkasse, Abwicklung von Kostenvoranschlägen etc.
Reuter erklärte weiter in diesem Zusammenhang: „Die reine Versorgung eines Patienten mit einer einfachen Kniebandage dauert 22 Minuten. Doch die zugehörige Verwaltung? 31 Minuten. Das heißt: Fast 60 Prozent der Arbeitszeit gehen für Formalitäten drauf – nicht für die eigentliche Versorgung. Noch absurder ist es bei einer Folgeversorgung mit einem konfektionierten Kompressionswadenstrumpf der Kompressionsklasse II: Hier steht der Verwaltung ein nahezu identischer Anteil wie der eigentlichen Versorgung gegenüber – 42 zu 44 Minuten. Wir haben das hochgerechnet: Allein bei diesen beiden Hilfsmitteln fielen 2023 in unseren Sanitätshäusern unglaubliche 585.200 Stunden für Bürokratie an. Stunden, die unseren Patientinnen und Patienten fehlen. Alles in Papier – nicht zugänglich für Digitalisierung und nicht zugänglich für KI. Das ist nicht nur ineffizient – das ist ein Skandal! Statt wertvolle Versorgungszeit sinnvoll zu nutzen, verbrennen wir Beitragsgelder! Das können und dürfen wir nicht länger hinnehmen!“
Vertragsmasse nicht zu bewältigen
Auch Jens Schulte, SpiOST-Präsident, nahm in seinem Statement ein Verwaltungsthema auf. Er beschrieb die „Vertragsillusion“ die auf der Annahme beruht, dass Leistungserbringer und Kostenträger auf Augenhöhe ihre Verträge verhandeln würden. Als Beispiel nannte er, dass es Vertragsstrafen nur für Leistungserbringer, aber fast nie für die Krankenkassen gebe. „Auch dort arbeiten Menschen, denen mal ein Fehler unterlaufen kann“, mahnte er, dass beide Seiten entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden oder Maßnahmen ergreifen, die das Miteinander vereinfachen. „Ich fordere, dass wir mit gleich großen Schwertern in die Schlacht ziehen“, benutzt Schulte ein deutliches Bild.
Rund 100 Verträge gibt es in der Orthopädie-Schuhtechnik, die meisten davon sind mehrere Hundert Seiten lang. Dies ist für kleine Betriebe, teilweise von einer Einzelperson geführt, kaum zu bewältigen. Kurze Verträge gebe es ebenfalls in der OST. „Die sind dann drei Seiten lang, verweisen dann aber auf einen anderen – wieder Hunderte Seiten langen – Vertrag einer anderen Kasse. Aber wenigstens müssen wir uns dann nur auf einen langen Vertrag konzentrieren“, so Schulte.
Gebraucht, aber (zu) wenig beachtet
Auf die Systemrelevanz der Gesundheitshandwerker wies Biha-Präsident Eberhard Schmidt hin: „Wir sind Handwerker und darauf dürfen wir auch stolz sein! Kürzlich ließ sich ein Berliner Gesundheitsblättchen dazu hinreißen, uns als ‚Mauerblümchen‘ zu bezeichnen. Wir nehmen das als Lob für unsere seriöse Arbeit hin, da es im Gesundheitswesen genügend ‚Krawallmacher‘ gibt. Nur wer laut ist, muss nicht recht haben. Lassen Sie mich gleich zu Beginn feststellen: Ohne uns Gesundheitshandwerke würde ein Großteil der Bevölkerung blind gegen die Tür laufen, schwerhörig das kommende Auto nicht hören, mit einem Holzbein herumlaufen, ohne Zähne am Steak lutschen.“
Das zeige die Wichtigkeit der Branchen für Deutschland – und vor allem für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. Es ginge bei der Versorgung nicht um den wirtschaftlichen Erfolg, sondern darum, den Menschen zu helfen, Behinderungen auszugleichen und Teilhabe zu ermöglichen. „Wir sind keine Kapitalisten oder Raffkes. Wir sind sozial und nachhaltig. Wir sind die ‚Gutmenschen‘, so wie viele andere Beschäftigte im Gesundheitswesen auch. Und wenn das mit einem ‚Mauerblümchen-Dasein‘ etwas zu tun haben sollte, dann können wir stolz darauf sein.“
Immerhin arbeiten in den rund 30.000 Betrieben der fünf Gesundheitshandwerke fast 100.000 Menschen,17.000 davon sind Auszubildende, und erledigen etwa 24 Millionen Hilfsmittelversorgungen jährlich.
Vorbereitet für den Ernstfall
Alf Reuter legte auf Nachfrage noch einmal den Fokus auf ein ganz aktuelles Thema: den Ukraine-Krieg. Rund 150.000 Majoramputationen gab es in der Ukraine seit Kriegsbeginn. „Und das ist nur ein lokal begrenzter Konflikt. Wir müssen darauf vorbereitet sein, wenn sich das ausweitet. Und wir Orthopädietechniker gehören dazu, weil wir wissen, wie es geht“, so Reuter, der auf die lange Historie der Orthopädie-Technik in der Versorgung von Kriegsversehrten hinweist und anregt, das Wissen von bereits in Rente befindlichen Technikern zu nutzen, die praktische Erfahrungen im Umgang mit Versorgungen dieser Art haben.
Die Gesundheitshandwerke präsentierten sich in Berlin nicht als „Krawallmacher“ oder „Mauerblümchen“, sondern trafen mit ihren Aussagen den richtigen Ton, der – so die Hoffnung aller – auch bei der Politik das nötige Gehör findet, um die Voraussetzungen für Versorger und Patienten zukunftsfähig zu machen und nicht der Musik weiter hinterherzulaufen.
Heiko Cordes
Der Branchenreport steht im Internet zum Download bereit.
Der Branchenreport 2025 fasst auf 42 Seiten die Aktivitäten der fünf Gesundheitshandwerke zusammen. Neben einer grundsätzlichen Vorstellung der Gewerke und ihrer Verbände werden auch die Notwendigkeit und Entwicklung der Gesundheitshandwerke seit 2017 dokumentiert. Wie hat sich beispielsweise die Anzahl der Betriebe entwickelt? Insgesamt ist ein Rückgang von 31.049 auf 29.882 in den vergangenen sechs Jahren zu verzeichnen. In der Orthopädie-Technik verlief der Trend bis 2020 zunächst aufsteigend, ehe es nach der Corona-Pandemie abfiel. Bis 2023 hat es sich mit einem leichten Plus von 15 Betrieben eingependelt.
Die Gesundheitshandwerke streben folgende Ziele an:
- Die Würdigung der Gesundheitshandwerke als unerlässlicher Teil des Hilfsmittel- und Zahnersatzversorgung von gesetzlich Versicherten sowie als wesentliches Element einer mittelständischen Wirtschaftsstruktur.
- Faire und auskömmliche Leistungsvergütung und Vertragsverhandlungen mit gesetzlichen Krankenkassen auf Augenhöhe.
- Abbau von unnötiger Bürokratie auf nationaler und europäischer Ebene, um die Zeit der Beschäftigten sinnvoll für die Herstellung und
Anpassung von Produkten sowie die Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Allen voran die Überarbeitung des Präqualifizierungsverfahrens. - Attraktivitätssteigerung des Berufsbildes Gesundheitshandwerk durch faire und auskömmliche Leistungsvergütung, Abbau von Bürokratie und Kompetenzerweiterung der Gesundheitshandwerke.
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