Gesund­heits­hand­wer­ke tref­fen den rich­ti­gen Ton

Nur wenige Gehminuten vom Reichstag entfernt befindet sich das Haus der Bundespressekonferenz. Dort, im Herzen des politischen Berlins mit Blick auf die Spree, präsentierten die fünf Gesundheitshandwerke am Donnerstag, 3. April, ihren Branchenreport 2025.

Sei­te an Sei­te saßen Alf Reu­ter, Prä­si­dent des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), Eber­hard Schmidt, Prä­si­dent der Bun­des­in­nung der Hör­akus­ti­ker (biha), Chris­ti­an Mül­ler, Prä­si­dent des Zen­tral­ver­ban­des der Augen­op­ti­ker und Opto­me­tris­ten (ZVA), Jens Schul­te, Prä­si­dent des Spit­zen­ver­ban­des Ortho­pä­die-Schuh­tech­nik (Spi­OST) und Domi­nik Kru­chen, Prä­si­dent des Ver­ban­des Deut­scher Zahn­tech­ni­ker-Innun­gen (VDZI), neben Mar­kus Schä­fer, Zen­tral­ver­band des Deut­schen Hand­werks (ZDH), und spra­chen über die Sor­gen und Her­aus­for­de­run­gen der Gesundheitshandwerke.

Anzei­ge

Büro­kra­tiel­ast erdrückend

Dabei wur­de schnell klar: Zen­tra­le The­men, wie der Fach­kräf­te­man­gel, leis­tungs­ge­rech­te Ver­gü­tung und eine über­bor­den­de Büro­kra­tie betref­fen die Leis­tungs­er­brin­ger land­auf und land­ab. Alf Reu­ter appel­lier­te an die Poli­tik: „Wir kom­men von hier, wir leben hier und wir arbei­ten hier – aber bit­te las­sen Sie uns auch arbei­ten.“  Der BIV-OT-Prä­si­dent nahm in sei­nem State­ment vor allem die Büro­kra­tiel­ast in den Fokus: „Wir erle­ben es tag­täg­lich: Statt Pati­en­ten zu ver­sor­gen, kämp­fen wir mit Papier­ber­gen. Statt inno­va­ti­ve Lösun­gen zu ent­wi­ckeln, ver­lie­ren wir uns in unüber­blick­ba­ren Form­blät­tern. Und statt unser Gesund­heits­sys­tem effi­zi­ent zu gestal­ten, ver­schwen­den wir unzäh­li­ge Stun­den mit einer aus­ufern­den Dokumentationspflicht.“

Man­cher Kol­le­ge, so Reu­ter, ver­su­che auf die­se Pro­ble­ma­tik hin­zu­wei­sen, indem er sich neben dem gan­zen Papier foto­gra­fie­ren lie­ße, das ein OT-Betrieb ver­brau­che, und dies in den sozia­len Medi­en tei­le. Papier ist und blei­be das bevor­zug­te Medi­um bei den Kos­ten­trä­gern. Auch die ver­schie­de­nen Form­blät­ter wür­den für einen enor­men Büro­kra­tie­auf­wand sor­gen, schließ­lich hät­ten ja fast alle 95 Kran­ken­kas­sen ein eige­nes. „Und für was?“, frag­te Reu­ter und berich­tet, dass in sei­ner Bran­che die Betrie­be durch­schnitt­lich mehr als 30 Pro­zent ihrer gesam­ten Arbeits­zeit für die Bewäl­ti­gung der GKV-Stan­dard-Pro­zes­se auf­wen­den. Dazu gehö­ren Rezept­prü­fung, Kor­rek­tur und Ände­rung – Ein­ho­len von Unter­schrif­ten für die Bera­tung, Lie­fe­rung, Mehr­kos­ten­über­nah­me, Ein­zie­hen der gesetz­li­chen Zuzah­lung für die Kran­ken­kas­se, Abwick­lung von Kos­ten­vor­anschlä­gen etc.

Reu­ter erklär­te wei­ter in die­sem Zusam­men­hang: „Die rei­ne Ver­sor­gung eines Pati­en­ten mit einer ein­fa­chen Knie­ban­da­ge dau­ert 22 Minu­ten. Doch die zuge­hö­ri­ge Ver­wal­tung? 31 Minu­ten. Das heißt: Fast 60 Pro­zent der Arbeits­zeit gehen für For­ma­li­tä­ten drauf – nicht für die eigent­li­che Ver­sor­gung. Noch absur­der ist es bei einer Fol­ge­ver­sor­gung mit einem kon­fek­tio­nier­ten Kom­pres­si­ons­wa­den­strumpf der Kom­pres­si­ons­klas­se II: Hier steht der Ver­wal­tung ein nahe­zu iden­ti­scher Anteil wie der eigent­li­chen Ver­sor­gung gegen­über – 42 zu 44 Minu­ten. Wir haben das hoch­ge­rech­net: Allein bei die­sen bei­den Hilfs­mit­teln fie­len 2023 in unse­ren Sanitätshäusern unglaub­li­che 585.200 Stun­den für Büro­kra­tie an. Stun­den, die unse­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten feh­len. Alles in Papier – nicht zugäng­lich für Digi­ta­li­sie­rung und nicht zugäng­lich für KI. Das ist nicht nur inef­fi­zi­ent – das ist ein Skan­dal! Statt wert­vol­le Ver­sor­gungs­zeit sinn­voll zu nut­zen, ver­bren­nen wir Bei­trags­gel­der! Das kön­nen und dür­fen wir nicht län­ger hinnehmen!“

Ver­trags­mas­se nicht zu bewältigen

Auch Jens Schul­te, Spi­OST-Prä­si­dent, nahm in sei­nem State­ment ein Ver­wal­tungs­the­ma auf. Er beschrieb die „Ver­trags­il­lu­si­on“ die auf der Annah­me beruht, dass Leis­tungs­er­brin­ger und Kos­ten­trä­ger auf Augen­hö­he ihre Ver­trä­ge ver­han­deln wür­den. Als Bei­spiel nann­te er, dass es Ver­trags­stra­fen nur für Leis­tungs­er­brin­ger, aber fast nie für die Kran­ken­kas­sen gebe. „Auch dort arbei­ten Men­schen, denen mal ein Feh­ler unter­lau­fen kann“, mahn­te er, dass bei­de Sei­ten ent­spre­chend zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den oder Maß­nah­men ergrei­fen, die das Mit­ein­an­der ver­ein­fa­chen. „Ich for­de­re, dass wir mit gleich gro­ßen Schwer­tern in die Schlacht zie­hen“, benutzt Schul­te ein deut­li­ches Bild.

Rund 100 Ver­trä­ge gibt es in der Ortho­pä­die-Schuh­tech­nik, die meis­ten davon sind meh­re­re Hun­dert Sei­ten lang. Dies ist für klei­ne Betrie­be, teil­wei­se von einer Ein­zel­per­son geführt, kaum zu bewäl­ti­gen. Kur­ze Ver­trä­ge gebe es eben­falls in der OST. „Die sind dann drei Sei­ten lang, ver­wei­sen dann aber auf einen ande­ren – wie­der Hun­der­te Sei­ten lan­gen – Ver­trag einer ande­ren Kas­se. Aber wenigs­tens müs­sen wir uns dann nur auf einen lan­gen Ver­trag kon­zen­trie­ren“, so Schulte.

Gebraucht, aber (zu) wenig beachtet

Auf die Sys­tem­re­le­vanz der Gesund­heits­hand­wer­ker wies Biha-Prä­si­dent Eber­hard Schmidt hin: „Wir sind Hand­wer­ker und dar­auf dür­fen wir auch stolz sein! Kürz­lich ließ sich ein Ber­li­ner Gesund­heits­blätt­chen dazu hin­rei­ßen, uns als ‚Mau­er­blüm­chen‘ zu bezeich­nen. Wir neh­men das als Lob für unse­re seriö­se Arbeit hin, da es im Gesund­heits­we­sen genü­gend ‚Kra­wall­ma­cher‘ gibt. Nur wer laut ist, muss nicht recht haben. Las­sen Sie mich gleich zu Beginn fest­stel­len: Ohne uns Gesund­heits­hand­wer­ke wür­de ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung blind gegen die Tür lau­fen, schwer­hö­rig das kom­men­de Auto nicht hören, mit einem Holz­bein her­um­lau­fen, ohne Zäh­ne am Steak lutschen.“

Das zei­ge die Wich­tig­keit der Bran­chen für Deutsch­land – und vor allem für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in Deutsch­land. Es gin­ge bei der Ver­sor­gung nicht um den wirt­schaft­li­chen Erfolg, son­dern dar­um, den Men­schen zu hel­fen, Behin­de­run­gen aus­zu­glei­chen und Teil­ha­be zu ermög­li­chen. „Wir sind kei­ne Kapi­ta­lis­ten oder Raff­kes. Wir sind sozi­al und nach­hal­tig. Wir sind die ‚Gut­men­schen‘, so wie vie­le ande­re Beschäf­tig­te im Gesund­heits­we­sen auch. Und wenn das mit einem ‚Mau­er­blüm­chen-Dasein‘ etwas zu tun haben soll­te, dann kön­nen wir stolz dar­auf sein.“

Immer­hin arbei­ten in den rund 30.000 Betrie­ben der fünf Gesund­heits­hand­wer­ke fast 100.000 Menschen,17.000 davon sind Aus­zu­bil­den­de, und erle­di­gen etwa 24 Mil­lio­nen Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen jährlich.

Vor­be­rei­tet für den Ernstfall

Alf Reu­ter leg­te auf Nach­fra­ge noch ein­mal den Fokus auf ein ganz aktu­el­les The­ma: den Ukrai­ne-Krieg. Rund 150.000 Majo­ram­pu­ta­tio­nen gab es in der Ukrai­ne seit Kriegs­be­ginn. „Und das ist nur ein lokal begrenz­ter Kon­flikt. Wir müs­sen dar­auf vor­be­rei­tet sein, wenn sich das aus­wei­tet. Und wir Ortho­pä­die­tech­ni­ker gehö­ren dazu, weil wir wis­sen, wie es geht“, so Reu­ter, der auf die lan­ge His­to­rie der Ortho­pä­die-Tech­nik in der Ver­sor­gung von Kriegs­ver­sehr­ten hin­weist und anregt, das Wis­sen von bereits in Ren­te befind­li­chen Tech­ni­kern zu nut­zen, die prak­ti­sche Erfah­run­gen im Umgang mit Ver­sor­gun­gen die­ser Art haben.

Die Gesund­heits­hand­wer­ke prä­sen­tier­ten sich in Ber­lin nicht als „Kra­wall­ma­cher“ oder „Mau­er­blüm­chen“, son­dern tra­fen mit ihren Aus­sa­gen den rich­ti­gen Ton, der – so die Hoff­nung aller – auch bei der Poli­tik das nöti­ge Gehör fin­det, um die Vor­aus­set­zun­gen für Ver­sor­ger und Pati­en­ten zukunfts­fä­hig zu machen und nicht der Musik wei­ter hinterherzulaufen.

Hei­ko Cordes

Der Bran­chen­re­port steht im Inter­net zum Down­load bereit.

Info

Der Bran­chen­re­port 2025 fasst auf 42 Sei­ten die Akti­vi­tä­ten der fünf Gesund­heits­hand­wer­ke zusam­men. Neben einer grund­sätz­li­chen Vor­stel­lung der Gewer­ke und ihrer Ver­bän­de wer­den auch die Not­wen­dig­keit und Ent­wick­lung der Gesund­heits­hand­wer­ke seit 2017 doku­men­tiert. Wie hat sich bei­spiels­wei­se die Anzahl der Betrie­be ent­wi­ckelt? Ins­ge­samt ist ein Rück­gang von 31.049 auf 29.882 in den ver­gan­ge­nen sechs Jah­ren zu ver­zeich­nen. In der Ortho­pä­die-Tech­nik ver­lief der Trend bis 2020 zunächst auf­stei­gend, ehe es nach der Coro­na-Pan­de­mie abfiel. Bis 2023 hat es sich mit einem leich­ten Plus von 15 Betrie­ben eingependelt.

Die Gesund­heits­hand­wer­ke stre­ben fol­gen­de Zie­le an:

  • Die Wür­di­gung der Gesund­heits­hand­wer­ke als uner­läss­li­cher Teil des Hilfs­mit­tel- und Zahn­ersatz­ver­sor­gung von gesetz­lich Ver­si­cher­ten sowie als wesent­li­ches Ele­ment einer mit­tel­stän­di­schen Wirtschaftsstruktur.
  • Fai­re und aus­kömm­li­che Leis­tungs­ver­gü­tung und Ver­trags­ver­hand­lun­gen mit gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen auf Augenhöhe.
  • Abbau von unnö­ti­ger Büro­kra­tie auf natio­na­ler und euro­päi­scher Ebe­ne, um die Zeit der Beschäf­tig­ten sinn­voll für die Her­stel­lung und
    Anpas­sung von Pro­duk­ten sowie die Ver­sor­gung der Pati­en­ten zu gewähr­leis­ten. Allen vor­an die Über­ar­bei­tung des Präqualifizierungsverfahrens.
  • Attrak­ti­vi­täts­stei­ge­rung des Berufs­bil­des Gesund­heits­hand­werk durch fai­re und aus­kömm­li­che Leis­tungs­ver­gü­tung, Abbau von Büro­kra­tie und Kom­pe­tenz­er­wei­te­rung der Gesundheitshandwerke. 

 

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