OT: Nach zwei pandemiebedingten Verschiebungen fand der Focus-CP-Rehakind-Kongress im Februar 2023 zum zweiten Mal statt. Knüpfte das Format erfolgreich an die Auftaktveranstaltung an?
Christiana Hennemann: Nach den zwei vergeblichen Anläufen mit pandemiebedingter Absage hatten wir durchaus Respekt vor der erneuten Terminierung – im Nachgang völlig unbegründet: Die rund 1.200 Teilnehmenden, 170 Referent:innen und Aussteller waren einfach nur glücklich, sich in einem fachlichen und persönlichen Rahmen wieder „in echt“ zu treffen und Wissen auszutauschen. Während der Pandemie wurden ja durchaus neue Erkenntnisse gewonnen, auch über das Miteinander der verschiedenen Disziplinen und Professionen in herausfordernden Zeiten und über die Auswirkungen der Pandemie-Schutzmaßnahmen auf die Kinder, Jugendlichen und Familien. Das transdisziplinäre und multiprofessionelle Format hat sich auf alle Fälle erneut bewiesen.
OT: Was kam bei den Besucher:innen besonders gut an?
Hennemann: Eigentlich waren fast alle der über 60 Sessions gut besucht, besondere Highlights – weil sie auch das gesamtgesellschaftliche Interesse spiegeln – waren die Themen „SMA und deren neue Behandlungsoptionen“, Künstliche Intelligenz, Robotik und deren Einsatz in Medizin, Therapie und auch OT- und Reha-Technik. Dauerbrenner sind immer die juristischen Updates zur Hilfsmittelversorgung sowie die Umsetzung des Teilhabeanspruches in allen Lebensbereichen. Die vertiefenden Themen aus den medizinischen Fachgesellschaften der Neuropädiatrie, Kinderorthopädie und Sozialpädiatrie kamen sowohl bei Ärzt:innen als auch bei den besuchenden Therapeut:innen besonders gut an. Netzwerke und die Abstimmung bei Versorgungen auf allen professionellen Ebenen mit den betroffenen jungen Menschen und deren Familien wurden dargestellt, die Chancen daraus, das Recht darauf, aber auch die Probleme damit. Großen Anklang fanden auch die Neuigkeiten aus verschiedenen Therapiebereichen und die Ganganalyse – sowohl beim „praktischen“ Ausprobieren als auch beim mitreißenden Vortrag der „Gait-Instruktorin“ Kirsten Götz-Neumann aus Los Angeles.
OT: Wie war das Feedback seitens der Aussteller?
Hennemann: Die Aussteller waren sehr zufrieden, natürlich gibt es Optimierungspotential. Da wir quasi die Themen aus drei Jahren gesammelt haben, war das Programm so dicht, dass den Kongressbesucher:innen nur sehr eingeschränkte Zeit zum Ausstellungsbesuch verblieb. Zumal wir ja auch noch Workshops während der Mittags- und Kaffeezeit des Kongressprogramms hatten. Das werden wir beim nächsten Mal so nicht mehr planen.
Patient:innen als Expert:innen in eigener Sache
OT: Was war Ihr persönliches Highlight?
Hennemann: Das Miteinander auf Augenhöhe. Jede und jeder konnte Neues erfahren und dies auf den persönlichen Berufsalltag oder auch die Lebenssituation beziehen. Die zahlreichen Referent:innen und Besucher:innen aus der Schweiz z. B. lobten das Kongressformat als einmalig: So etwas hätten sie noch nicht erlebt – hochqualifizierte fachlich-wissenschaftliche Informationen quer durch alle Fachgesellschaften und Berufsgruppen.
OT: Zum Focus-CP-Rehakind-Kongress gehört für Sie auch der direkte Austausch mit Betroffenen und Angehörigen – sowohl auf als auch abseits der Bühne. Was schlussfolgern Sie aus den Gesprächen: Welche Themen liegen den Familien besonders am Herzen?
Hennemann: Ganz deutlich wurden zwei Punkte: Zum einen möchten die jungen Menschen und ihre Zugehörigen gesehen und ernstgenommen werden in ihren Bedarfen, sie möchten nicht als Bittsteller bei Behörden und Kostenträgern auftreten und auch nicht als mitleidig zu betrachtendes „Einzelfallschicksal“ abgestempelt werden. Zum anderen sind sie oft Expert:innen in eigener Sache und müssen mit ihren persönlichen Zielen sowohl in die medizinisch- therapeutische Behandlung miteinbezogen werden als auch bei der Hilfsmittelversorgung, die den Alltag erleichtern und echte Teilhabe selbstverständlich ermöglichen soll. Stark kritisiert wurde die Misstrauenskultur, die von Seiten der Kostenträger gegenüber den Versicherten, aber auch den Leistungserbringern herrscht: Niemand wählt ein Leben mit Rehabilitations- und Hilfsmittelbedarf freiwillig. Aber wenn es Therapien und Hilfsmittelmöglichkeiten gibt, die ein möglichst uneingeschränktes Miteinander in Gesellschaft und Beruf ermöglichen, sollte hier der Zugang erleichtert statt erschwert werden.
OT: Wurde im Rahmen des Kongresses eine Innovation vorgestellt, von der wir künftig noch viel hören werden?
Hennemann: Virtuelle Realität, Künstliche Intelligenz, Robotik, Digitalität, 3D- und 4D-Druck, auch genetische Eingriffe und Medikamentierung – all das wird verstärkt in Therapie, Medizin und Technik einziehen.Damit wird aber das Wissen von Ärzt:innen, Therapeut:innen und Techniker:innen nicht überflüssig – vielmehr gewinnt man durch technische Arbeitserleichterung Zeit für die Patient:innen, alle Fachleute können „am Menschen“ besser auf deren Individualität eingehen. Dies alles kann aber nur in voller Stärke als Benefit bei den Betroffenen ankommen, wenn sich die Disziplinen und Professionen untereinander abstimmen. Das bisherige Gesundheitssystem finanziert zwar das fünfte MRT, welches die Ergebnisse der vier vorhergehenden bestätigt, aber interprofessionelle, multidisziplinäre Gespräche aller an der Versorgung Beteiligten werden nicht bezahlt. Obwohl, und diese Einsicht zog sich durch viele Sessions, dadurch viele persönliche Ressourcen der zu Versorgenden, aber auch der Versorger:innen geschont oder gestärkt würden. Langfristig ist eine solche abgestimmte Behandlung sicherlich auch nicht teurer als ein „Nebeneinander“ der Professionen und Informationen. Unabhängig davon, dass jeder Mensch das Recht auf größtmögliche Teilhabe – ohne Limitation durch Bürokratie und Finanzen – hat. Mehr Plenumssessions mit mehr Zeit und Diskussionsraum
OT: Das Kongressthema war „Wir bewegen – gemeinsam unterwegs“. Was konnten Sie an den vier Kongresstagen bewegen?
Hennemann: Aus dem Kongressbeirat wird mit den aktuellen Erkenntnissen aus dieser Veranstaltung bis zum Sommer eine Resolution hervorgehen, die in die Politik und in alle Fachkreise getragen wird. Ein Forderungspapier, welches Probleme skizziert, aber gleichzeitig realistische Umsetzungsideen liefert. Hier bleiben wir gemeinsam mit den Fachgesellschaften, Rehakind, aber auch den Selbsthilfeverbänden am Ball.
OT: In drei Jahren soll es ein Wiedersehen in Dortmund geben. Gibt es Dinge, die Sie bei der nächsten Ausgabe anders machen oder verbessern würden?
Hennemann: Neben technischen Details, die man bei jeder Veranstaltung im Doing herausfindet und beim nächsten Mal verändern kann, planen wir die Themen anders zu bündeln, um nicht so viele Parallelveranstaltungen und mehr Zeit in den Pausen zu haben. Es wird mehr Plenumssessions mit mehr Zeit und Diskussionsraum geben, um dies dann in gezielten Seminaren zu vertiefen. „Hands-on Sessions“ wie die Femurosteotomie („Knochensägen“ Anm. d. Red.), das Ganglabor, den Rolli-Parcours oder auch neue Formate werden wir sicherlich wieder anbieten. Auch das wissenschaftliche Presymposium hat großen Wert für die Fachleute und ist wichtig als Update. Inhaltlich ist auf alle Fälle eine noch stärkere Interprofessionalität geplant. Wir planen Sessions zu konzipieren, in denen immer das Thema sowohl aus medizinischer als auch therapeutischer Sicht beleuchtet wird und dann ebenfalls immer ein bzw. eine Orthopädie-/Rehatechniker:in dabei ist. Im Abschlussplenum hat das Kongresspräsidium bereits alle Berufsgruppen zur Mitwirkung eingeladen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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