OT: Der Austausch und die Zusammenarbeit sind für eine optimale Versorgung von Patient:innen essentiell. Die Corona-Pandemie hat dies allerdings erschwert. Wie ist es Ihnen gelungen trotzdem in Verbindung zu bleiben?
Maria del Pilar Andrino: Es sind sehr häufig medizinische Themen und Anliegen von Patienten, die uns in Verbindung bleiben lassen, da wir uns netzwerkgebunden unterstützen, wenn es darum geht, eine Versorgung zu optimieren. Ein gutes Netzwerk bedeutet, sich ärztlicherseits und ebenso im interdisziplinären Setting zugunsten eines Versorgungsthemas zu unterstützen. Das kollegiale Miteinander mit den verschiedenen Fachdisziplinen der Ärzteschaft, mit den Therapeuten aus Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Heilpädagogik und Hilfsmittelversorgenden, aber insbesondere auch mit der Selbstvertretung und den Familien selbst ist unverzichtbar.
OT: Konnte auch der hybride Inspiration Day im März 2022 dazu beitragen?
Andrino: Der Inspiration Day war ein absolutes Muss. Wir haben viel positives Feedback erhalten mit einer Multiplikation an Ideen und neuen Themen. In der Netzwerkzunahme mit vielen neuen Akteuren, in zahlreichen nachfolgenden Kontakten auf der Suche nach immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Optimierungen von Diagnostik und Therapie ist deutlich geworden, dass auch dieses hybride Format einen hohen interdisziplinären und netzwerkorientierten Wert hatte. Inspiration durch und durch.
OT: Auf was freuen Sie sich nach dieser Pause am meisten?
Andrino: Auf persönliche Gespräche und neue Gesichter, auf ein Vis-à-vis ohne Kacheln und Bildschirm, auf die kleinen persönlichen Momente, die ein fachliches Telefonat in der Zukunft noch unkomplizierter werden lassen. Wenn ich auch ehrlicherweise eingestehe, dass ich zugunsten von Patienten zur Not „jede Person“ erreiche. Wenn man sich aber kennt, dann ist es immer einfacher.
OT: Das Kongressthema ist: „Wir bewegen – gemeinsam unterwegs“. Welche Botschaft möchten Sie damit transportieren?
Thomas Dreher: Bewegung spielt eine große Rolle in der Teilhabe der Kinder und Jugendlichen, welche wir täglich behandeln und die wir mit ihren Familien auf ihrem Weg unterstützen. Bewegung bedeutet Lebensqualität und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, hierfür alle Energie zu investieren, um diese für das Individuum so optimal wie möglich zu erreichen. Gemeinsam bedeutet transprofessionell, das heißt ohne Geheimnisse im Konsensus mit den verschiedenen ärztlichen Disziplinen und Berufsgruppen sowie selbstverständlich zusammen mit den Eltern und dem „Big Boss“, dem Kind beziehungsweise Jugendlichen, Entscheidungen über Behandlungen zu treffen. Dafür stehen wir im Alltag vorbehaltlos ein und das spiegelt sich in diesem Kongress perfekt wider.
„Dramatische Fehlentwicklung“
OT: Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen in der Kinder- und Jugendmedizin?
Rüdiger Krauspe: Die dramatische Fehlentwicklung in der Medizin und speziell in der Kinder- und Jugendmedizin verdeutlicht die Gefahren durch die Dominanz der Ökonomisierung. Es werden durch die Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendmedizin kranke Kinder gefährdet und das darf nicht hingenommen werden. Es muss wieder der ärztliche Sachverstand für die medizinischen Anforderungen, aber auch für die damit erforderlichen Ausstattungen bei Personal und Sachmitteln Vorrang haben. Die Schwächsten der Schwachen, die Kinder mit Behinderung, benötigen unser aller ärztliche und therapeutische Unterstützung, um das persönliche individuelle Schicksal zu lindern und die bestmögliche Partizipation gemäß UN-Behindertenrechtskonvention zu ermöglichen.
OT: Auf welche bewährten Programmpunkte setzen Sie in diesem Jahr?
Andrino: Es sind die vielen pädiatrischen, neuropädiatrischen, orthopädischen, therapeutischen, rehabilitativen und technischen Programmpunkte, die im bekannten mehrzügigen Format mit rund 150 Referenten innerhalb von Plenarsitzungen, Workshops, Seminaren und spannenden Ausprobiersessions sehr viele Fachdisziplinen mit rund 1.200 Teilnehmern anlocken. Neuigkeiten aus der KI, Robotik und Genetik etc. dürfen nicht fehlen, wenn es auch darum geht, im internationalen Vergleich up to date zu sein.
OT: Was ist neu?
Andrino: Neu ist, dass wir die Teilhabeaspekte deutlich pointierter und in mehreren Settings aufgenommen haben. Das ist unabdingbar, da wir als Gesellschaft leider weit weg davon sind, die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen. Barrieren in der Gesellschaft verhindern Inklusion und lassen zu, dass auch Kinder mit Behinderung und ihren korrelierenden Komorbiditäten ihr Teilhaberecht häufig nicht umsetzen können. Weil dieser Rechtsanspruch zweifelsfrei garantiert ist, sind wir dankbar, den Perspektivwechsel im Kongress vorzunehmen und zugleich die Besonderheiten der Transition – des Übergangs zum Erwachsenenalter – zu beleuchten.
Möglichkeiten und Grenzen modernster Technologien
OT: Beim Thema „Mobile Ganganalyse“ haben Sie, Herr Prof. Dreher, als einer der Chairs den Hut auf. Wo unterstützt die Ganganalyse den Therapieprozess von Bewegungsstörungen bei Kindern und wie innovationsfreudig ist dieser spezielle Bereich?
Dreher: Gehfähigkeit und Art sowie Qualität des Gangbildes spielen in der Neuroorthopädie eine zentrale Rolle. Es existieren diverse Möglichkeiten, diese Funktion therapeutisch zu beeinflussen. Oft fehlt jedoch die Möglichkeit zu objektiver Beurteilung des Effektes von Therapien auf die Optimierung des Gangbildes. Die Gang- oder besser Bewegungsanalyse hat hier in den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren sehr viel Innovation und neue Erkenntnisse geliefert , stellt jedoch immer noch ein recht aufwändiges Untersuchungsverfahren dar. Der Trend geht zunehmend in Richtung simplifizierte Funktionserfassung im Alltag unter Verwendung moderner Technologien. Hier möchten wir die Kongressteilnehmer informieren und spüren sowie direkt erleben lassen, was modernste Technologien leisten können und wo deren Grenzen aktuell noch liegen. Dass die Miteinbeziehung der Daten von Bewegungsanalysen in Therapieentscheidungen eine maßgebliche Veränderung des ursprünglichen Therapieplanes mit sich bringt, ist klar wissenschaftlich belegt. Daher sind Therapie-Indikationen zur Veränderung des Bewegungsmusters stets interdisziplinär und unter Berücksichtigung der Bewegungsanalyse zu treffen.
OT: Interdisziplinarität ist ein gutes Stichwort. Das Thema wird auch beim Fokus-CP-Rehakind-Kongress innerhalb vieler Programmpunkte gelebt. Warum ist Ihnen das ein Anliegen?
Dreher: Die Behandlung der Kinder- und Jugendlichen mit Zerebralparese oder anderen Grundsituationen kann niemals von einer Disziplin bestritten werden. Hierfür sind die medizinischen, sozialen und Zukunftsfragestellungen viel zu komplex. Selbst eine perfekt durchgeführte orthopädische Operation kann das schlimmste Ergebnis haben, wenn die Indikation zu dieser Operation nicht im Rahmen des Gesamtkontextes gemeinsam gestellt wurde. Gleichermaßen gilt dies für konservative Therapien, welche ohne Einbeziehung von chirurgischen Disziplinen, ohne durchgreifenden Erfolg oder sogar unter Verschlechterung der Situation aufrechterhalten werden, z. B. aufgrund fehlender oder mangelnder Zusammenarbeit oder sogar Konkurrenzsituation mit anderen Disziplinen. Nur „gemeinsam“ sind wir stark. Dazu gehört auch das gegenseitige Verständnis für Indikationen und Behandlungsalgorithmen. Nur so ist eine Diskussion auf Augenhöhe möglich. Dieser Leitgedanke bildet einen zentralen Teil unseres Kongresses.
OT: Welche Veranstaltung dürfen die Besucher:innen auf keinen Fall verpassen?
Krauspe: Dieses Kongressformat bietet ein breites Spektrum an Vorträgen zu neuesten Forschungsergebnissen, zu relevanten klinischen Fragestellungen sowie an Seminaren und Kursen zu Therapieverfahren. Ich erwarte eine ganz besondere Eröffnungsveranstaltung unter Beteiligung von Betroffenen. Bei den wissenschaftlichen Sitzungen sind mehrere hochkarätige zu empfehlen, bei den interdisziplinären Themen berichten so z. B. Spezialisten am Samstag über neuronale Netzwerke sowie Langzeiterfahrungen aus dem jeweiligen Fachgebiet und beleuchten Grenzen und Optionen bei der Behandlung von Kindern mit neuro-muskulären Erkrankungen.
Perspektivwechsel ist hoher Wissensgewinn
OT: Die Gespräche auf dem roten Sofa, die stellvertretend für Gespräche auf Augenhöhe stehen, dürfen selbstverständlich nicht fehlen. Wer nimmt neben Ihnen in diesem Jahr Platz? Und welche Themen stehen im Fokus?
Andrino: Das rote Sofa ist für mich ein Höhepunkt unseres Kongresses! Genau hinhören heißt es, wenn betroffene Familien mit ihren Kindern im Gespräch ihre Alltagsprobleme und Teilhabebeschränkungen darstellen. Dieser Perspektivwechsel ist ein hoher Wissensgewinn für jede Fachdisziplin. Dabei ist Heidi Mensing von der Stiftung „Bunter Kreis“ mit Familie Kiel im Gespräch. Ebenso gibt es ergreifende Filmbeiträge des „Bunten Kreises Münsterland“. Auf dem Sofa nehmen auch Eltern der Düsseldorfer Selbsthilfegruppe für Kinder mit seltenen genetischen Erkrankungen sowie Vertreter des Elternnetzwerkes „Gemischte Tüte“ aus Düsseldorf Platz. Das sollte keiner verpassen!
OT: Am Freitag beschäftigt sich ein Themenblock mit „KI/AI Robotik – Möglichkeiten und Grenzen der technischen Entwicklung“, bei dem Sie, Herr Prof. Krauspe, zu den Chairs zählen. Können Sie uns schon einen kleinen Vorgeschmack auf die Inhalte geben?
Krauspe: Die Entwicklung von diagnostischen und Roboter-gestützten Therapieverfahren mit lernenden Systemen kann bei Bewegungsstörungen neue Ansätze liefern. Dabei sind ethische Fragen ebenso bedeutsam wie der Aspekt, dass Errungenschaften aus diesem neuen Gebiet auch für Menschen mit Behinderung zur Anwendung kommen und auch für diese Gruppe von Patienten dieses neue Gebiet beforscht wird. Dazu werden erste neue Forschungsergebnisse und mögliche Anwendungen vorgestellt und diskutiert.
Angst vor Operationen nehmen
OT: Was erwartet die Besucher:innen in der Ausstellung?
Krauspe: Die Ausstellung bietet ein breites Spektrum an Medizinprodukten, ausgewählten Medikamenten, Hilfsmitteln und Hilfen für den Alltag sowie einen Überblick über diverse Hilfsangebote für Rehabilitation, Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Fachpersonal zur Beratung der Besucher über die jeweiligen Produkte.
OT: Was ist Ihr persönliches (Veranstaltungs-)Highlight?
Dreher: Als Kinder- und Neuroorthopäde freue ich mich insbesondere auf eine absolute Neuheit: das Surgical cinema – eine moderierte Reise in die „schneidenden“ Sphären, welche kind‑, jugend- und elterngerecht vermittelt werden und maßgeblich dazu beitragen, dass Indikationen transparent gestellt werden können und dass die Leistung im Operationssaal nachvollziehbar und reproduzierbar ist. So soll maßgeblich die Angst vor Operationen und deren Misslingen genommen oder mindestens maßgeblich reduziert werden. Am meisten freue ich mich auf den Dialog mit den Teilnehmern, Kindern, Eltern, Therapeuten und Kollegen. Nach dieser ermüdenden Zeit der Pandemie ist nun endlich die Gemeinsamkeit wieder möglich.
OT: Welches Resümee hoffen Sie am Ende des Kongresses ziehen zu können?
Krauspe: Wir hatten bedingt durch die Pandemie eine längere Zeit ohne wissenschaftlichen und persönlichen Austausch. Ich hoffe, dass die Teilnehmer sowohl einen Erkenntnisgewinn als auch bereichernde persönliche Kontakte von diesem Kongress mitnehmen und bei der täglichen Arbeit für die Patienten gewinnbringend einsetzen können. Und dass wir – wie beim vorherigen Kongress – eine überwältigende Rückmeldung bekommen, dieses interdisziplinäre Kongressformat unbedingt fortzusetzen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Veranstaltet wird der Focus-CP-Rehakind-Kongress von der Internationalen Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation Rehakind e. V., der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) e. V., der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) e. V. sowie der Vereinigung für Kinderorthopädie (VKO) e. V. Das gesamte Programm ist online unter www.focuscprehakind.de zu finden.
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