Ers­te Erfah­run­gen von Osseo­in­te­gra­ti­on beim Daumen

In der Regel hat jeder Mensch zehn Finger, aber zwei davon sind für den Alltag fast unverzichtbar: die Daumen. Durch seine Oppositionsbewegung zu den anderen Fingern ermöglicht er ein sicheres Greifen und ist damit essenzieller Bestandteil vieler alltäglicher Griffe.

Nicht umsonst wird der Inva­li­di­täts­grad beim Ver­lust eines Dau­mens auf 20 Pro­zent vom Gesamt­ver­band der Ver­si­che­rer (GDV) taxiert und ist damit dop­pelt bzw. vier­mal so hoch wie bei den ande­ren Fin­gern. Im Fal­le des Ver­lus­tes eines Dau­mens gibt es die Mög­lich­keit, durch eine Kom­bi­na­ti­on aus ope­ra­ti­ven Ein­grif­fen, pro­the­ti­schen Hilfs­mit­teln und Reha-Maß­nah­men einen Teil der Dau­men­funk­tio­na­li­tät wie­der zu ermög­li­chen. Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on berich­ten Dr. Cosi­ma Prahm, Lei­tung Plas­tisch-chir­ur­gi­sche For­schung der Abtei­lung für Hand‑, Plas­ti­sche, Rekon­struk­ti­ve und Ver­bren­nungs­chir­ur­gie der Uni­ver­si­tät Tübin­gen, sowie Prof. Dr. Jonas Kol­ben­schlag, Lei­ten­der Ober­arzt der Abtei­lung, von aktu­el­len Ver­sor­gun­gen mit osseo­in­te­grier­ten Dau­men, die im Rah­men einer Stu­die eva­lu­iert werden.

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OT: Der Dau­men trägt im Ver­gleich zu den übri­gen Fin­gern mit unge­fähr 40 Pro­zent zur Hand­funk­ti­on bei. Wel­che Ein­schrän­kung bedeu­tet der Ver­lust für den All­tag der Betroffenen?

Dr. Cosi­ma Prahm/Prof. Dr. Jonas Kol­ben­schlag: Der Ver­lust des Dau­mens hat erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf den All­tag der betrof­fe­nen Per­son. Der Dau­men spielt eine ent­schei­den­de Rol­le bei Greif­funk­ti­on, Fein­mo­to­rik, Kraft­über­tra­gung und Hand­ge­schick­lich­keit. Da der Dau­men die Oppo­si­ti­on ermög­licht, also das Zusam­men­spiel mit den ande­ren Fin­gern, ist das Grei­fen und Hal­ten von Gegen­stän­den beein­träch­tigt. All­täg­li­che Akti­vi­tä­ten wie Essen, Schrei­ben und Haus­halts­ar­bei­ten wer­den dadurch erschwert. Pro­the­ti­sche Hilfs­mit­tel, chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe und Reha­bi­li­ta­ti­on kön­nen hel­fen, die­se Ein­schrän­kun­gen zu mildern.

OT: Noch ist das Ver­fah­ren in Deutsch­land recht neu – die Tübin­ger Kli­nik ist eine der weni­gen in Deutsch­land, die mit­tels Osseo­in­te­gra­ti­on ampu­tier­te Dau­men ver­sorgt hat. War­um gelang die Eta­blie­rung des Ver­fah­rens in Schwe­den schnel­ler als in Deutschland?

Prahm/Kolbenschlag: Schwe­den hat sich als Vor­rei­ter auf dem Gebiet der Osseo­in­te­gra­ti­on eta­bliert, und das Kon­zept wur­de maß­geb­lich durch die Arbeit von Per-Ing­var Brå­ne­mark und sei­nem Sohn Rickard Brå­ne­mark vor­an­ge­trie­ben. Per-Ing­var Brå­ne­mark ent­deck­te die bio­kom­pa­ti­blen Eigen­schaf­ten von Titan und führ­te zunächst erfolg­reich Implan­ta­te in der Kie­fer­chir­ur­gie ein, was zur Ent­wick­lung des Kon­zepts der Osseo­in­te­gra­ti­on führ­te. Rickard Brå­ne­mark erwei­ter­te spä­ter die­ses Kon­zept auf die Wie­der­her­stel­lung der Extre­mi­tä­ten­funk­ti­on. Bereits in den 1990er-Jah­ren wur­den in Schwe­den die ers­ten kli­ni­schen Stu­di­en zur Osseo­in­te­gra­ti­on des Dau­mens durch­ge­führt, was die Pio­nier­rol­le Schwe­dens in die­sem Bereich unterstreicht.

OT: Chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe oder pro­the­ti­sche Fin­ger­er­satz­auf­sät­ze kön­nen die­sen Ver­lust auch – zumin­dest teil­wei­se – aus­glei­chen. Wann bie­tet sich eine Ver­sor­gung durch Osseo­in­te­gra­ti­on an? Wel­che Vor­tei­le bie­tet das Verfahren?

Prahm/Kolbenschlag: Die­ser Ein­griff eig­net sich beson­ders für Pati­en­ten, bei denen her­kömm­li­che pro­the­ti­sche Fin­ger­er­satz­auf­sät­ze kei­ne aus­rei­chen­de Funk­tio­na­li­tät wie­der­her­stel­len kön­nen oder nicht gut sit­zen. Dies ist in der Regel der Fall, wenn der Dau­men ab dem Grund­ge­lenk ver­lo­ren gegan­gen ist. Die Vor­tei­le der Osseo­in­te­gra­ti­on umfas­sen ver­bes­ser­te Funk­ti­on durch Oppo­si­ti­ons­mög­lich­keit, Sta­bi­li­tät und Zuver­läs­sig­keit des pro­the­ti­schen Auf­sat­zes sowie eine indi­rek­te tak­ti­le Wahr­neh­mung durch das Kno­chen­im­plan­tat, wel­ches Osse­oper­zep­ti­on genannt wird. Wobei ope­ra­ti­ve Ein­grif­fe natür­lich nicht nur Vor­tei­le, son­dern auch Risi­ken ber­gen. Die Alter­na­ti­ve mit kör­per­ei­ge­nem Gewe­be stellt die Trans­plan­ta­ti­on einer Zehe als Dau­men­er­satz dar. Dies ist jedoch ein deut­lich auf­wen­di­ge­rer Ein­griff und vie­le Pati­en­ten scheu­en die Zehenentnahme.

OT: Sie füh­ren der­zeit eine mul­ti­zen­tri­sche Stu­die mit fünf dau­men­am­pu­tier­ten Patient:innen durch. Mit wel­chen Fra­ge­stel­lun­gen sind Sie an die Stu­die herangegangen?

Prahm/Kolbenschlag: Im Rah­men der Zusam­men­ar­beit mit der BG Kli­nik Duis­burg konn­ten wir bis­lang fünf Pati­en­ten mit die­ser Tech­nik ver­sor­gen. Da es sich um einen noch nicht so häu­fig durch­ge­führ­ten Ein­griff han­delt, wol­len wir die Pati­en­ten natür­lich opti­mal nach­ver­sor­gen und auch die Lang­zeit­ver­läu­fe erfas­sen. Die Nach­un­ter­su­chung umfasst zum Bei­spiel Rönt­gen­auf­nah­men zu defi­nier­ten Zeit­punk­ten, um die Osseo­in­te­gra­ti­on zu veri­fi­zie­ren, oder auch Moti­on-Track­ing der Hand, um auch fei­ne Ver­än­de­run­gen in der Nut­zung der Hand erfas­sen zu können.

OT: Zum Ein­satz kommt das Opra-Implan­tat der schwe­di­schen Fir­ma Inte­grum. Wie funk­tio­niert das System?

Prahm/Kolbenschlag: Das Opra-Implan­tat der Fir­ma Inte­grum für die Ver­sor­gung des Dau­mens besteht aus einer Titan­stan­ge und einem Abut­ment. Die Titan­stan­ge wird chir­ur­gisch im Kno­chen ver­an­kert, wäh­rend das Abut­ment auf der Titan­stan­ge plat­ziert wird und durch die Haut her­aus­ragt. Das Titan­im­plan­tat besitzt eine spe­zi­el­le mikro­raue Ober­flä­che, um eine bes­se­re Haf­tung und Inter­ak­ti­on mit dem umge­ben­den Kno­chen­ge­we­be zu ermög­li­chen. Das Abut­ment dient als Schnitt­stel­le zwi­schen dem Kno­chen­im­plan­tat und dem pro­the­ti­schen Dau­men­auf­satz. Durch die­se Kon­fi­gu­ra­ti­on wird eine sta­bi­le Ver­bin­dung zwi­schen dem Kör­per und der pro­the­ti­schen Kom­po­nen­te her­ge­stellt, wodurch eine ver­bes­ser­te Funk­tio­na­li­tät erzielt wird. Stu­di­en haben gezeigt, dass die Osseo­in­te­gra­ti­on eine direk­te mecha­ni­sche Über­tra­gung von Kräf­ten zwi­schen dem Kno­chen und der Pro­the­se ermög­licht und dadurch ein robus­tes und lang­fris­tig sta­bi­les Ergeb­nis erzielt wer­den kann.

OT: Von zwei Patient:innen lie­gen bereits voll­stän­di­ge Daten­sät­ze vor. Wel­che vor­läu­fi­gen Ergeb­nis­se las­sen sich dar­aus ziehen?

Prahm/Kolbenschlag: Erfreu­li­cher­wei­se haben wir kei­ne Wund­hei­lungs­stö­run­gen oder anhal­ten­de Sekre­ti­on aus der Durch­tritts­stel­le gese­hen. Die Implan­ta­te sind sta­bil ein­ge­heilt und zeit­ge­recht voll­be­last­bar gewe­sen. Bei­de Pati­en­ten nut­zen die Pro­the­se regel­mä­ßig und haben einen deut­li­chen Zuge­winn an Hand­funk­ti­on erfah­ren. Dies sind natür­lich klei­ne Fall­zah­len, aber die ers­ten Ergeb­nis­se sind sehr Erfolg versprechend.

OT: Wel­che Beob­ach­tun­gen haben Sie beson­ders überrascht?

Prahm/Kolbenschlag: Uns hat vor allem die Schmerz­re­duk­ti­on über­rascht, über die die Pati­en­ten berich­te­ten. Sowohl Stumpf- als auch Phan­tom­schmer­zen wur­den deut­lich redu­ziert. Ein Kern­aspekt hier­bei ist aus unse­rer Sicht zum einen die mecha­ni­sche Ent­las­tung des Stump­fes und zum ande­ren die Ver­mitt­lung von Druck und ande­ren Emp­fin­dun­gen über den Knochen.

Die Fra­gen stel­le Pia Engelbrecht.

 

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