Krieg, Enteignung und Neubeginn
Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen bedeuteten eine Zerreißprobe. Nach Kriegsende wurden das Privatvermögen der Familie und der Produktionsstandort in Königsee von der sowjetischen Besatzungszone beschlagnahmt. 1946/47 gelang – mit Hilfe engagierter Mitarbeiter – ein Neuanfang in Duderstadt (Niedersachsen). Dort baute Dr. Max Näder, Schwiegersohn Otto Bocks, gemeinsam mit seiner Frau Maria Näder den neuen Standort auf.
Da Königsee verloren war, wurde Duderstadt zur Keimzelle eines neuen Wachstums. Die Produktion musste praktisch neu aufgebaut werden – eine schwere, aber letztlich erfolgreiche Phase der „zweiten Geburt“.
In den späten 1940er Jahren folgte ein technologischer Durchbruch: Das sogenannte Jüpa-Knie – ein Bremskniegelenk mit hoher Standsicherheit – brachte der Firma eine wirtschaftliche Wende. In Kombination mit einem neuartigen Balancegerät und weiteren Apparaturen etablierte sich das Produkt auch auf dem US-Markt: 1955 wurden bereits 500 Jüpa-Knie in die USA exportiert. Schon Ende der 1950er Jahre begann die Internationalisierung: 1958 gründete Max Näder die erste Auslandsgesellschaft in Minneapolis, USA.
Innovation und Konsolidierung
In den 1960er Jahren setzte Ottobock entscheidende Impulse in der Orthopädie-Technik. 1965 führte Max Näder myoelektrische Armprothesen ein, eine Technologie, bei der Muskelströme elektrische Impulse erzeugen, die eine Prothese steuern.
1969 patentierte das Unternehmen den Pyramidenadapter – ein Modulbauteil, das Fuß, Knie und Schaft verbindet, statische Anpassungen erlaubt und den Austausch von Modulen erleichtert. Dieses modularisierte System legte das Fundament moderner Prothesenbauweisen und wirkt bis heute nach.
Parallel dazu begann Ottobock, seine internationale Präsenz systematisch auszubauen, strategische Partnerschaften zu suchen und Exportmärkte zu erschließen.
Auch die Verknüpfung von Marke und Öffentlichkeit wurde relevant: Ab 1988 engagierte sich Ottobock erstmals bei den Paralympischen Spielen, indem Techniker vor Ort Unterstützung boten – der – bis heute andauernde – Einsatz unter dem Motto „Passion for Paralympics“.
Rückkehr, Wachstum und technologische Sprünge
Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung boten Ottobock eine historische Chance: In den frühen 1990er Jahren erwarb das Unternehmen das Grundstück in Königsee zurück und integrierte es erneut in die Produktionskette – insbesondere für die Rollstuhlproduktion.
1990 übergab Max Näder die Geschäftsführung an seinen Sohn Hans Georg Näder. Unter dessen Leitung wurde Forschung & Entwicklung deutlich gestärkt, das internationale Netzwerk rigoroser ausgebaut und das Marketing professionalisiert.
Der größte Innovationscoup folgte 1997: Nach fünf Jahren Entwicklungsarbeit präsentierte Ottobock das erste mikroprozessorgesteuerte Kniegelenk C‑Leg auf dem Prothetik-Weltkongress in Nürnberg. Damit gelang der Sprung in eine neue technologische Dimension des Gehens mit Prothese.
In den Folgejahren wurden Weiterentwicklungen wie Genium, Kenevo und mechatronische Prothesenfüße eingeführt, mit denen erstmals Rückwärtsgehen, Hindernisüberwindung oder Treppensteigen möglich wurden – für viele Betroffene ein bedeutender Schritt zu mehr Mobilität und Normalität.
2009 setzte Ottobock auch architektonisch ein Ausrufezeichen mit dem Science Center Medizintechnik in Berlin (nahe Potsdamer Platz). Neben Ausstellungen und Kongressen sollte das Gebäude auch Markenbotschaft sein.
Herausforderungen und Zukunftsvisionen
2017 markierte einen markanten Einschnitt: Der schwedische Private-Equity-Investor EQT stieg mit 20 % bei Ottobock ein. Ziel war eine weitergehende Professionalisierung und Vorbereitung auf einen möglichen Börsengang.
Gleichzeitig tätigte Ottobock Akquisitionen wie etwa die Übernahme der britischen BeBionic-Prothetik (Steeper) und des US-Herstellers BionX (Fuß/Knöchelrobotik).
Doch schon 2019 kam ein Rückschlag: Die US-Wettbewerbsbehörden untersagten den Weiterbestand der Übernahme von Freedom Innovations, und Ottobock musste das Unternehmen wieder veräußern.
In derselben Dekade wurde der Bereich Exoskelette etabliert – 2018 übernahm Ottobock zunächst eine Mehrheitsbeteiligung an Pohlig GmbH, und 2021 folgte der Zukauf von SuitX, Experten für Exoskelettlösungen.
Parallel dazu entwickelte sich der geplante Börsengang zu einem politischen und finanziellen Drahtseilakt: Ursprünglich für 2022 vorgesehen, wurde er mehrfach verschoben – zuletzt 2025 neu angesetzt.
Im März 2024 erfolgte ein eneuter Eigentümerwechsel: Die Näder Holding kaufte die Anteile von EQT zurück – für rund 1,1 Mrd. Euro. Ottobock kehrte damit vollständig in Familienhand zurück. Die Managementstruktur wurde neu geordnet: Seit Juli 2022 leiten vier geschäftsführende Direktoren das operative Geschäft – unter anderem Oliver Jakobi (CEO/CSO), Arne Kreitz (CFO), Arne Jörn (COO/CTO) und Martin Böhm (CXO).
Mit einem Umsatz von rund 1,6 Mrd. Euro und über 9.100 Mitarbeitenden in mehr als 45 Ländern ist Ottobock heute ein globaler Technologieführer in Prothetik, Orthetik, NeuroMobility und Exoskeletten.