DiGA muss in den Köp­fen ankommen

Die nackten Zahlen sprechen nicht für die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Im Schnitt gehen monatlich 10.000 Verordnungen über die Schreibtische der Ärzt:innen. Dabei sind sich viele Expert:innen sicher: Das Potenzial der DiGA ist groß. Dennoch bleibt es bei vielen Mediziner:innen Routine, zum Beispiel Physiotherapie zu verschreiben, statt auf das digitale Angebot auszuweichen. Deshalb fordert Fabian Schwarz, Geschäftsführer der Prehapp GmbH, dass die Vorteile der „Apps auf Rezept“ besser kommuniziert werden. Im Interview mit der OT-Redaktion plädiert er dafür, dass bereits in der Ausbildung von Mediziner:innen die Themen Digitale Gesundheitsanwendungen, Telemedizin und Digital Health im Lehrplan verankert werden sollen.

OT: Wie schät­zen Sie – ganz grund­sätz­lich – das Poten­zi­al von Digi­ta­len Gesund­heits­an­wen­dun­gen (DiGA) ein?

Fabi­an Schwarz: Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen haben gro­ßes Poten­zi­al, die Pati­en­ten­ver­sor­gung zu ver­bes­sern, da sie neue Wege im Bereich der The­ra­pie bei vie­len Krank­heits­bil­dern eröff­nen. Sie stil­len das Infor­ma­ti­ons­be­dürf­nis von Pati­en­ten zu ihrem Krank­heits­bild, erleich­tern die Kom­mu­ni­ka­ti­on und ermög­li­chen ein eng­ma­schi­ges The­ra­pie-Moni­to­ring. Zudem sind sie ein effek­ti­ves Werk­zeug, um Pati­en­ten an ihrer Behand­lung zu betei­li­gen. Sie stär­ken so das Selbst­ma­nage­ment und unter­stüt­zen und ver­bes­sern die The­ra­pie. Pati­en­ten füh­len sich bestärkt, ihre The­ra­pie bis zum Ende durchzuführen.

OT: Emp­fan­den Sie es als Chan­ce, dass es noch nicht vie­le Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen zum Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung von „Com­pa­n­ion patel­la“ gab, oder war es eher nach­tei­lig, weil Sie kei­ne Ver­gleichs­wer­te hatten?

Schwarz: Es war ein lan­ger, aber sehr span­nen­der Weg, die Ver­sor­gungs­lü­cke für Pati­en­ten mit vor­de­rem Knie­schmerz zu schlie­ßen. Die Mög­lich­kei­ten, die Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen bie­ten, sehe ich als rie­si­ge Chan­ce, Pati­en­ten über Kas­sen­gren­zen hin­weg eine hoch­wer­ti­ge The­ra­pie zur Ver­fü­gung zu stel­len nach dem aktu­el­len Stand der Wis­sen­schaft. Natür­lich sind in einem so inno­va­ti­ven Ver­sor­gungs­be­reich vie­le Unsi­cher­hei­ten vor­han­den und es gibt weni­ge Erfah­rungs­wer­te. Wir haben mit unse­rer ers­ten DiGA „Com­pa­n­ion patel­la powered by Medi – pro­ved by deut­sche Knie­ge­sell­schaft“ unheim­lich viel für wei­te­re Ent­wick­lungs­pro­jek­te in ande­ren Indi­ka­ti­ons­fel­dern gelernt.

OT: Wie lan­ge dau­ert der Ent­wick­lungs­pro­zess von der Idee bis zur fina­len Anmel­dung für das DiGA-Verzeichnis?

Schwarz: Das hängt maß­geb­lich davon ab, ob der Her­stel­ler bei null begin­nen muss oder bereits eine DiGA-kon­for­me Tech­no­lo­gie hat, auf der er für die spe­zi­fi­schen Lösun­gen auf­bau­en kann. Als einem der ers­ten Her­stel­ler ist es uns mit Medi im Okto­ber 2021 gelun­gen, dass unse­re Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dung ins DiGA-Ver­zeich­nis des Bfarm (Bun­des­in­sti­tut für Arz­nei­mit­tel und Medi­zin­pro­duk­te, Anm. d. Red.) auf­ge­nom­men wur­de. Die tech­ni­sche Ent­wick­lung die­ser Digi­ta­len Gesund­heits­an­wen­dung und ins­be­son­de­re des zugrun­de­lie­gen­den KI-basier­ten Algo­rith­mus hat bis zur Auf­nah­me ins DiGA-Ver­zeich­nis meh­re­re Jah­re gedau­ert. „Com­pa­n­ion patel­la“ wur­de mit einem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team aus Phy­sio­the­ra­peu­ten, Sport­wis­sen­schaft­lern und Ärz­ten ent­wi­ckelt und ist die opti­ma­le The­ra­pie-Ergän­zung bei vor­de­rem Knie­schmerz. Ver­schrie­ben wer­den kann sie bei fol­gen­den Indi­ka­tio­nen: Patellaspit­zen­syn­drom, patell­ofe­mo­ra­les Schmerz­syn­drom und Patella(erst)luxation. Ziel des video­ge­stütz­ten hera­pie­pro­gramms ist es, den spe­zi­fi­schen Knie­schmerz zu redu­zie­ren und die Knie­funk­tio­na­li­tät zu ver­bes­sern. Bei der Ent­wick­lung wur­de auf zwei Aspek­te geach­tet: Ers­tens hat bei allen drei Krank­heits­bil­dern die kon­ser­va­ti­ve The­ra­pie einen hohen Stel­len­wert – die­ser ist wis­sen­schaft­lich belegt, was uns die Mög­lich­keit gab, das The­ra­pie­pro­gramm mit der größt­mög­li­chen Evi­denz zu erstel­len. Zwei­tens betref­fen die mit „Com­pa­n­ion patel­la“ behan­del­ten Indi­ka­tio­nen häu­fig jün­ge­re Pati­en­ten, die als Digi­tal Nati­ves ten­den­zi­ell sehr offen für den Umgang mit digi­ta­len Pro­duk­ten sind. Über­dies kann von einer erhöh­ten Adhä­renz durch die zeit- und orts­un­ab­hän­gi­ge The­ra­pie­op­ti­on gegen­über der Regel­ver­sor­gung aus­ge­gan­gen wer­den. Die App kann der­zeit in der The­ra­pie mit den Knie­or­the­sen Genu­me­di PSS und der Genu­me­di­PT von Medi kom­bi­niert werden.

OT: Wel­che Hür­den muss­ten Sie da nehmen?

Schwarz: Die Hür­den las­sen sich in zwei Berei­che unter­glie­dern: Ers­tens tech­ni­sche bezie­hungs­wei­se regu­la­to­ri­sche Hür­den. Zwei­tens der Evi­denz­nach­weis anhand eines oder meh­re­rer soge­nann­ter „posi­ti­ver Ver­sor­gungs­ef­fek­te“. Alle Anfor­de­run­gen zu erfül­len und zu doku­men­tie­ren war ein gro­ßer Auf­wand – auch finan­zi­ell gese­hen. Der Gesetz­ge­ber hat annä­hernd zwei­hun­dert Anfor­de­run­gen aus den Berei­chen Daten­schutz und Daten­si­cher­heit, Funk­ti­ons­taug­lich­keit, Inter­ope­ra­bi­li­tät und Qua­li­tät in Gesetz und Ver­ord­nung ver­an­kert. Die Anfor­de­run­gen an Medi­zin­pro­dukte­her­stel­ler gehen in vie­len Berei­chen weit über die Anfor­de­run­gen der Medi­cal Device Regu­la­ti­on und Soft­ware as Medi­cal Device in Euro­pa hin­aus. Beson­ders hoch sind die Anfor­de­run­gen an die posi­ti­ven Ver­sor­gungs­ef­fek­te, den Evi­denz­nach­weis für Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen. Anders als digi­ta­le The­ra­pie­an­ge­bo­te, die Kas­sen ihren Pati­en­ten auf Basis von Selek­tiv­ver­trä­gen offe­rie­ren, müs­sen Digi­ta­le esund­heits­an­wen­dun­gen einen medi­zi­ni­schen Nut­zen auf Stu­di­en­ba­sis nach­wei­sen. Dar­über hin­aus muss eine Über­le­gen­heit gegen­über der Regel­ver­sor­gung, nor­ma­ler­wei­se durch eine ran­do­mi­sier­te kon­trol­lier­te Stu­die, also dem empi­ri­schen Gold­stan­dard, belegt sein. Bereits vor der Auf­nah­me zur Erpro­bung ins DiGA-Ver­zeich­nis muss im Rah­men einer sys­te­ma­ti­schen Daten­er­fas­sung, einer Art Vor­stu­die, ein glaub­haf­ter posi­ti­ver Ver­sor­gungs­ef­fekt der DiGA nach­ge­wie­sen wer­den. Ins­ge­samt müs­sen Anwen­dun­gen, die als DiGA in die Ver­ord­nung der Regel­ver­sor­gung kom­men wol­len, trotz ihrer nied­ri­gen Risi­koklas­se sehr hohe Hür­den neh­men. Zudem zieht das regu­la­to­ri­sche Umfeld in den nächs­ten Jah­ren wei­ter an mit den bereits ver­öf­fent­lich­ten neu­en Richt­li­ni­en des Bun­des­am­tes für Sicher­heit in der Informationstechnik.

OT: Dass die DiGA noch nicht im Ver­sor­gungs­all­tag ange­kom­men sind, zei­gen die Ver­schrei­bungs­zah­len. Ist es nicht para­dox, dass die Poli­tik ein Fast-Track-Ver­fah­ren instal­liert hat, um die „Apps auf Rezept“ schnell in den Markt zu brin­gen und die Mediziner:innen dann die­se Mög­lich­kei­ten nicht nut­zen? Was muss gesche­hen, dass Mediziner:innen mehr DiGA verschreiben?

Schwarz: Ich wür­de die Zah­len nicht all­zu pes­si­mis­tisch bewer­ten. Wir sehen ein ste­ti­ges Wachs­tum der Gesamt­ver­ord­nun­gen, aber auch an neu zuge­las­se­nen Digi­ta­len Gesund­heits­an­wen­dun­gen. Um die­se noch bekann­ter zu machen, braucht es an ers­ter Stel­le mehr Auf­klä­rung – das The­ma Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen muss in den Köp­fen der prak­ti­zie­ren­den Ärz­te ankom­men. Es geht vor allem dar­um, den Ver­ord­nungs­weg und die Evi­denz der Anwen­dun­gen zu erläu­tern eben­so wie den Leis­tungs­er­brin­gern die Vor­tei­le für Pati­en­ten zu ver­mit­teln. Bei­spiels­wei­se bie­ten die Medi-Han­dels­ver­tre­tun­gen Fort­bil­dun­gen für Ärz­te an, in denen sie Wirk­wei­se und The­ra­pie erklä­ren – um so Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen bekann­ter zu machen. Glo­bal gese­hen wäre es sinn­voll, bereits im Stu­di­um der Human­me­di­zin anzu­set­zen – Wis­sen zum The­ma Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen bezie­hungs­wei­se zu Tele­me­di­zin und Digi­tal Health soll­te inte­gra­ler Bestand­teil des Cur­ri­cu­lums für alle Medi­zin­stu­die­ren­den werden.

OT: Durch Ihre DiGA bei­spiels­wei­se könn­ten ande­re Pro­fes­sio­nen, wie Phy­sio­the­ra­pie, ent­las­tet wer­den. Sind Sie über­rascht, dass die Mediziner:innen nicht den Mehr­wert für ihre Patient:innen erkennen?

Schwarz: Auch wenn Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen mitt­ler­wei­le ver­mehrt auf Zustim­mung bei den Ver­brau­chern sto­ßen, wie eine aktu­el­le Online-Befra­gung der AOK unter 2.600 Ver­si­cher­ten zeigt, besteht Auf­klä­rungs­be­darf bei Ärz­ten wie Pati­en­ten. Erst seit rund zwei Jah­ren kön­nen Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen von Ärz­ten ver­ord­net bezie­hungs­wei­se von Kran­ken­kas­sen geneh­migt wer­den. Es war davon aus­zu­ge­hen, dass die Ver­ord­nungs­zah­len sich nur lang­sam ent­wi­ckeln und Opti­mie­rungs­be­darf zur Eta­blie­rung im Gesund­heits­we­sen besteht. Es gilt wei­ter­hin, die Vor­tei­le der „Apps auf Rezept“ zu kom­mu­ni­zie­ren und Auf­klä­rung zu betrei­ben. Ärz­ten eröff­nen sie neue Mög­lich­kei­ten, die The­ra­pie effek­tiv zu ergän­zen – die Ver­schrei­bung ist bud­get­neu­tral und unkom­pli­ziert. Außer­dem kön­nen Pati­en­ten ihre Daten aus der App expor­tie­ren und die­se zum Arzt­ter­min mit­brin­gen. Pati­en­ten sind schnell ver­sorgt und kön­nen nach der Frei­schal­tung direkt mit der Nut­zung der App star­ten – zu jeder Zeit, an jedem Ort. Gera­de bei psy­chi­schen Erkran­kun­gen ist dies hilf­reich, da die War­te­zeit für einen Ter­min beim Fach­arzt oft Mona­te dau­ert. Um die bestehen­den Ver­sor­gungs­lü­cken zu schlie­ßen, sind Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen eine gute Lösung. Aber auch bei chro­ni­schen Erkran­kun­gen kön­nen Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen zwi­schen Arzt­ter­mi­nen ein­ge­setzt wer­den, um zusätz­li­che medi­zi­ni­sche Unter­stüt­zung zu erhal­ten. Zudem för­dern die DiGA die Moti­va­ti­on und das Selbst­ma­nage­ment der Pati­en­ten. Sind Ärz­te als maß­geb­li­che Akteu­re vom Nut­zen und Mehr­wert über­zeugt, steigt auch die Akzep­tanz bei Pati­en­ten – und das Markt­vo­lu­men wächst. Ich bin über­zeugt, dass sich Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen in den nächs­ten Jah­ren als Teil der Gesund­heits­ver­sor­gung eta­blie­ren wer­den. Dies zeigt sich auch in der im März 2023 ver­öf­fent­lich­ten Digi­ta­li­sie­rungs­stra­te­gie des Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­ums: Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen sol­len in der Ver­ord­nung ver­an­kert blei­ben und wei­ter­hin eine wich­ti­ge Rol­le einnehmen.

OT: Wel­che Ver­sor­gungs­be­rei­che könn­ten Sie sich vor­stel­len, in denen DiGA in der Ortho­pä­die bezie­hungs­wei­se Ortho­pä­die-Tech­nik sinn­voll sind?

Schwarz: In fast allen Berei­chen der Ortho­pä­die gibt es Ver­sor­gungs­lü­cken. Die­se ent­ste­hen häu­fig auf­grund von Fach­kräf­te­man­gel oder Kos­ten­druck im Gesund­heits­sys­tem – und resul­tie­ren in einer gerin­ge­ren The­ra­pie­ver­füg­bar­keit für die Pati­en­ten. Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dun­gen sind häu­fig ein geeig­ne­ter Weg, um die­se Lücken zu schlie­ßen und Pati­en­ten einen erfolg­rei­che­ren The­ra­pie­pfad digi­tal anbie­ten zu kön­nen. Die eta­blier­ten Medi­zin­pro­dukte­her­stel­ler ken­nen die­se Schwä­chen und wis­sen häu­fig sehr genau, wel­che digi­ta­len Ange­bo­te zur Schlie­ßung der Lücken benö­tigt wer­den. Wir von Preh­app arbei­ten daher mit Her­stel­lern ana­lo­ger Medi­zin­pro­duk­te wie Medi zusam­men, die die Ver­sor­gung von End­ver­brau­chern über ihr ana­lo­ges Port­fo­lio hin­aus durch eine Digi­ta­le Gesund­heits­an­wen­dung auf Basis unse­rer Tech­no­lo­gie ergän­zen oder ver­bes­sern wol­len. Zudem sind wir lau­fend in engem Aus­tausch mit Ärz­ten und Fach­ge­sell­schaf­ten wie der Deut­schen Knie­ge­sell­schaft.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

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