OT: Wie schätzen Sie – ganz grundsätzlich – das Potenzial von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ein?
Fabian Schwarz: Digitale Gesundheitsanwendungen haben großes Potenzial, die Patientenversorgung zu verbessern, da sie neue Wege im Bereich der Therapie bei vielen Krankheitsbildern eröffnen. Sie stillen das Informationsbedürfnis von Patienten zu ihrem Krankheitsbild, erleichtern die Kommunikation und ermöglichen ein engmaschiges Therapie-Monitoring. Zudem sind sie ein effektives Werkzeug, um Patienten an ihrer Behandlung zu beteiligen. Sie stärken so das Selbstmanagement und unterstützen und verbessern die Therapie. Patienten fühlen sich bestärkt, ihre Therapie bis zum Ende durchzuführen.
OT: Empfanden Sie es als Chance, dass es noch nicht viele Digitale Gesundheitsanwendungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Companion patella“ gab, oder war es eher nachteilig, weil Sie keine Vergleichswerte hatten?
Schwarz: Es war ein langer, aber sehr spannender Weg, die Versorgungslücke für Patienten mit vorderem Knieschmerz zu schließen. Die Möglichkeiten, die Digitale Gesundheitsanwendungen bieten, sehe ich als riesige Chance, Patienten über Kassengrenzen hinweg eine hochwertige Therapie zur Verfügung zu stellen nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Natürlich sind in einem so innovativen Versorgungsbereich viele Unsicherheiten vorhanden und es gibt wenige Erfahrungswerte. Wir haben mit unserer ersten DiGA „Companion patella powered by Medi – proved by deutsche Kniegesellschaft“ unheimlich viel für weitere Entwicklungsprojekte in anderen Indikationsfeldern gelernt.
OT: Wie lange dauert der Entwicklungsprozess von der Idee bis zur finalen Anmeldung für das DiGA-Verzeichnis?
Schwarz: Das hängt maßgeblich davon ab, ob der Hersteller bei null beginnen muss oder bereits eine DiGA-konforme Technologie hat, auf der er für die spezifischen Lösungen aufbauen kann. Als einem der ersten Hersteller ist es uns mit Medi im Oktober 2021 gelungen, dass unsere Digitale Gesundheitsanwendung ins DiGA-Verzeichnis des Bfarm (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Anm. d. Red.) aufgenommen wurde. Die technische Entwicklung dieser Digitalen Gesundheitsanwendung und insbesondere des zugrundeliegenden KI-basierten Algorithmus hat bis zur Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis mehrere Jahre gedauert. „Companion patella“ wurde mit einem interdisziplinären Team aus Physiotherapeuten, Sportwissenschaftlern und Ärzten entwickelt und ist die optimale Therapie-Ergänzung bei vorderem Knieschmerz. Verschrieben werden kann sie bei folgenden Indikationen: Patellaspitzensyndrom, patellofemorales Schmerzsyndrom und Patella(erst)luxation. Ziel des videogestützten herapieprogramms ist es, den spezifischen Knieschmerz zu reduzieren und die Kniefunktionalität zu verbessern. Bei der Entwicklung wurde auf zwei Aspekte geachtet: Erstens hat bei allen drei Krankheitsbildern die konservative Therapie einen hohen Stellenwert – dieser ist wissenschaftlich belegt, was uns die Möglichkeit gab, das Therapieprogramm mit der größtmöglichen Evidenz zu erstellen. Zweitens betreffen die mit „Companion patella“ behandelten Indikationen häufig jüngere Patienten, die als Digital Natives tendenziell sehr offen für den Umgang mit digitalen Produkten sind. Überdies kann von einer erhöhten Adhärenz durch die zeit- und ortsunabhängige Therapieoption gegenüber der Regelversorgung ausgegangen werden. Die App kann derzeit in der Therapie mit den Knieorthesen Genumedi PSS und der GenumediPT von Medi kombiniert werden.
OT: Welche Hürden mussten Sie da nehmen?
Schwarz: Die Hürden lassen sich in zwei Bereiche untergliedern: Erstens technische beziehungsweise regulatorische Hürden. Zweitens der Evidenznachweis anhand eines oder mehrerer sogenannter „positiver Versorgungseffekte“. Alle Anforderungen zu erfüllen und zu dokumentieren war ein großer Aufwand – auch finanziell gesehen. Der Gesetzgeber hat annähernd zweihundert Anforderungen aus den Bereichen Datenschutz und Datensicherheit, Funktionstauglichkeit, Interoperabilität und Qualität in Gesetz und Verordnung verankert. Die Anforderungen an Medizinproduktehersteller gehen in vielen Bereichen weit über die Anforderungen der Medical Device Regulation und Software as Medical Device in Europa hinaus. Besonders hoch sind die Anforderungen an die positiven Versorgungseffekte, den Evidenznachweis für Digitale Gesundheitsanwendungen. Anders als digitale Therapieangebote, die Kassen ihren Patienten auf Basis von Selektivverträgen offerieren, müssen Digitale esundheitsanwendungen einen medizinischen Nutzen auf Studienbasis nachweisen. Darüber hinaus muss eine Überlegenheit gegenüber der Regelversorgung, normalerweise durch eine randomisierte kontrollierte Studie, also dem empirischen Goldstandard, belegt sein. Bereits vor der Aufnahme zur Erprobung ins DiGA-Verzeichnis muss im Rahmen einer systematischen Datenerfassung, einer Art Vorstudie, ein glaubhafter positiver Versorgungseffekt der DiGA nachgewiesen werden. Insgesamt müssen Anwendungen, die als DiGA in die Verordnung der Regelversorgung kommen wollen, trotz ihrer niedrigen Risikoklasse sehr hohe Hürden nehmen. Zudem zieht das regulatorische Umfeld in den nächsten Jahren weiter an mit den bereits veröffentlichten neuen Richtlinien des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik.
OT: Dass die DiGA noch nicht im Versorgungsalltag angekommen sind, zeigen die Verschreibungszahlen. Ist es nicht paradox, dass die Politik ein Fast-Track-Verfahren installiert hat, um die „Apps auf Rezept“ schnell in den Markt zu bringen und die Mediziner:innen dann diese Möglichkeiten nicht nutzen? Was muss geschehen, dass Mediziner:innen mehr DiGA verschreiben?
Schwarz: Ich würde die Zahlen nicht allzu pessimistisch bewerten. Wir sehen ein stetiges Wachstum der Gesamtverordnungen, aber auch an neu zugelassenen Digitalen Gesundheitsanwendungen. Um diese noch bekannter zu machen, braucht es an erster Stelle mehr Aufklärung – das Thema Digitale Gesundheitsanwendungen muss in den Köpfen der praktizierenden Ärzte ankommen. Es geht vor allem darum, den Verordnungsweg und die Evidenz der Anwendungen zu erläutern ebenso wie den Leistungserbringern die Vorteile für Patienten zu vermitteln. Beispielsweise bieten die Medi-Handelsvertretungen Fortbildungen für Ärzte an, in denen sie Wirkweise und Therapie erklären – um so Digitale Gesundheitsanwendungen bekannter zu machen. Global gesehen wäre es sinnvoll, bereits im Studium der Humanmedizin anzusetzen – Wissen zum Thema Digitale Gesundheitsanwendungen beziehungsweise zu Telemedizin und Digital Health sollte integraler Bestandteil des Curriculums für alle Medizinstudierenden werden.
OT: Durch Ihre DiGA beispielsweise könnten andere Professionen, wie Physiotherapie, entlastet werden. Sind Sie überrascht, dass die Mediziner:innen nicht den Mehrwert für ihre Patient:innen erkennen?
Schwarz: Auch wenn Digitale Gesundheitsanwendungen mittlerweile vermehrt auf Zustimmung bei den Verbrauchern stoßen, wie eine aktuelle Online-Befragung der AOK unter 2.600 Versicherten zeigt, besteht Aufklärungsbedarf bei Ärzten wie Patienten. Erst seit rund zwei Jahren können Digitale Gesundheitsanwendungen von Ärzten verordnet beziehungsweise von Krankenkassen genehmigt werden. Es war davon auszugehen, dass die Verordnungszahlen sich nur langsam entwickeln und Optimierungsbedarf zur Etablierung im Gesundheitswesen besteht. Es gilt weiterhin, die Vorteile der „Apps auf Rezept“ zu kommunizieren und Aufklärung zu betreiben. Ärzten eröffnen sie neue Möglichkeiten, die Therapie effektiv zu ergänzen – die Verschreibung ist budgetneutral und unkompliziert. Außerdem können Patienten ihre Daten aus der App exportieren und diese zum Arzttermin mitbringen. Patienten sind schnell versorgt und können nach der Freischaltung direkt mit der Nutzung der App starten – zu jeder Zeit, an jedem Ort. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist dies hilfreich, da die Wartezeit für einen Termin beim Facharzt oft Monate dauert. Um die bestehenden Versorgungslücken zu schließen, sind Digitale Gesundheitsanwendungen eine gute Lösung. Aber auch bei chronischen Erkrankungen können Digitale Gesundheitsanwendungen zwischen Arztterminen eingesetzt werden, um zusätzliche medizinische Unterstützung zu erhalten. Zudem fördern die DiGA die Motivation und das Selbstmanagement der Patienten. Sind Ärzte als maßgebliche Akteure vom Nutzen und Mehrwert überzeugt, steigt auch die Akzeptanz bei Patienten – und das Marktvolumen wächst. Ich bin überzeugt, dass sich Digitale Gesundheitsanwendungen in den nächsten Jahren als Teil der Gesundheitsversorgung etablieren werden. Dies zeigt sich auch in der im März 2023 veröffentlichten Digitalisierungsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums: Digitale Gesundheitsanwendungen sollen in der Verordnung verankert bleiben und weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen.
OT: Welche Versorgungsbereiche könnten Sie sich vorstellen, in denen DiGA in der Orthopädie beziehungsweise Orthopädie-Technik sinnvoll sind?
Schwarz: In fast allen Bereichen der Orthopädie gibt es Versorgungslücken. Diese entstehen häufig aufgrund von Fachkräftemangel oder Kostendruck im Gesundheitssystem – und resultieren in einer geringeren Therapieverfügbarkeit für die Patienten. Digitale Gesundheitsanwendungen sind häufig ein geeigneter Weg, um diese Lücken zu schließen und Patienten einen erfolgreicheren Therapiepfad digital anbieten zu können. Die etablierten Medizinproduktehersteller kennen diese Schwächen und wissen häufig sehr genau, welche digitalen Angebote zur Schließung der Lücken benötigt werden. Wir von Prehapp arbeiten daher mit Herstellern analoger Medizinprodukte wie Medi zusammen, die die Versorgung von Endverbrauchern über ihr analoges Portfolio hinaus durch eine Digitale Gesundheitsanwendung auf Basis unserer Technologie ergänzen oder verbessern wollen. Zudem sind wir laufend in engem Austausch mit Ärzten und Fachgesellschaften wie der Deutschen Kniegesellschaft.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.