Zuvor waren in Rio und Tokio die Kämpfe um „Gold“ für Zuschauer:innen in Deutschland in der Nacht bzw. den frühen Morgenstunden ausgefochten worden. Dass allerdings die Berichterstattung in Umfang und Länge nicht den Olympischen Spielen entsprach, ist nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten Blick verwunderlich. Sind die Paralympics eben doch „nur“ das Anhängsel der Olympischen Spiele?
Zuschauende kommen in die Arenen
Diesen Eindruck könnten auch die Werbeplakate in der Metro, der Pariser U‑Bahn, vermitteln. „Game is not over“ stand dort auf Plakaten so groß wie Fußballtore und sollte auch die Bürger:innen von Paris daran erinnern, dass es eine zweite Welle an sportlichen Wettkämpfen geben wird. Ob dies allerdings nötig war, bleibt mit Blick auf die extrem hohe Auslastung der Wettkampfstätten jedoch fraglich. Egal ob beim Rollstuhl-Basketball in der Bercy-Arena, beim Rollstuhl-Rugby in der Champs-de-Mars-Arena oder bei der Para-Leichtathletik im Stade de France – überall feierten die Zuschauer:innen aus Frankreich, Europa und der Welt.
Revolution der Inklusion
Auch bei der Eröffnungsveranstaltung war eine große Begeisterung des Gastgebers für die Spiele zu spüren. Anders als die Olympischen Spiele präsentierten sich die Paralympics als „Spiele zum Anfassen“. Statt auf der Seine in Booten zu fahren, schritten und fuhren die Sportler:innen über die Pariser Prachtmeile Champs-Élysées und versammelten sich auf dem Place de la Concorde. Dort verfolgten sie eine spektakuläre Eröffnung. Vor allem der Stadioncharakter bündelte die Zeremonie an einem Ort und schaffte so einen zentralen Anlaufpunkt für Prominente, Athlet:innen und Zuschauende. Andrew Parsons, der Chef des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), forderte in seiner Rede zu einer „Revolution der Inklusion“ auf und hob hervor, welche tollen Sportstätten Paris, eine der schönsten Städte der Welt, den paralympischen Athlet:innen zur Verfügung stellt für ihren Wettkampf. „Dabei sein ist alles“ wurde lange Zeit als olympisches Motto gefeiert. Für die Paralympischen Spiele soll dieses Motto aber nicht mehr ausreichen. Es geht um die Sichtbarkeit des Sports von Menschen mit Behinderungen – und von ihnen gibt es weltweit mehr als 1,2 Milliarden. Eine besondere Ehre aus deutscher Sicht wurde Markus Rehm zuteil. Der Para-Leichtathlet, der zwei Tage vor der Eröffnung seinen 36. Geburtstag feierte, durfte die paralympische Flamme vom Place de la Concorde in Richtung Schlosspark Jardin des Tuileries tragen und war minutenlang im Fokus der Zuschauer:innen in Paris und an den Bildschirmen weltweit.
Die Paralympics 2024 sind eröffnet
Der Sound der Paralympics
Technik, die begeistert
Markus Rehm holt Gold
Paralympics: „Erste Hilfe“ für Hilfsmittel
Am Puls der Paralympics – Interview mit Georgia Näder
Exklusive Eintrittskarte in die Welt der Paralympics – Interview mit Ingo Pfefferkorn
Sportliche Erwartungen zum Teil erfüllt
Rehm ist ein Sportler aus dem deutschen Team, der die an ihn gestellten Erwartungen im Weitsprung auch erfüllt hat. „Alle haben zunächst schwer reingefunden. Die Sprünge haben bei allen nicht so richtig gezündet“, erklärte der Para-Athlet. Im ersten Versuch kam er auf lediglich 7,83 Metern, ehe er mit 8,13 Meter die Siegerweite sprang. „Trotzdem war es super. Gold ist Gold, das ist alles, was zählt. Das vierte Mal klingt unfassbar. So viele Jahre vorne und ungeschlagen zu sein, ist eine Riesenehre – einfach schön.“
Insgesamt Rang elf in der Nationenwertung lassen die Verantwortlichen des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) zu einem gemischten Fazit kommen. „Es zeigt: Die Zeit von Abonnement-Siegen ist vorbei, Selbstverständlichkeiten sind im Sport grundsätzlich schwierig. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass wir eine weltweite Leistungsexplosion im Sport von Menschen mit Behinderungen erleben. Für den Para-Sport ist das eine gute Entwicklung und auch für den Stellenwert von Menschen mit Behinderungen in dieser Welt. Darüber freue ich mich sehr“, sagt DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher.
Mehr investieren für den Sport
Sind die Paralympics nun mehr als Sport? Ja und nein, möchte man antworten. „Nein“, weil am Ende alle Para-Athlet:innen hart für ihren sportlichen Erfolg trainieren, Zeit opfern und auch entsprechende Ergebnisse erzielen wollen. Und auf der anderen Seite „Ja“, weil es darum geht zu zeigen, welche Wirkung Sport hat und an welcher Stelle Sport inklusiv wirken kann. Das Abschneiden der deutschen Sportler:innen muss aber zu einem Nachdenken über Spitzen- und Breitensport von Menschen mit Behinderungen führen. Fehlende Ergebnisse haben Gründe, die tiefer sitzen. „Auch wir in Deutschland brauchen diesen Weckruf und ein klares Bekenntnis für den Sport von Menschen mit Behinderung. Wir fordern seit Jahren, dass sich mehr Vereine für Menschen mit Behinderungen öffnen müssen, dass es mehr Übungsleiter:innen braucht, dass Barrieren in Sportstätten abgebaut werden müssen und dass der Wille, Sport zu treiben, nicht an fehlenden Hilfsmitteln oder Angeboten scheitern darf. Sonst werden Menschen mit Behinderungen immer wieder vom Sport ausgeschlossen und echte Teilhabe verhindert“, sagt Beucher. „Ich erhoffe mir, dass diese Diskussionen an Fahrt aufnehmen – sowohl nach den begeisternden Spielen von Paris als auch im Zuge einer deutschen Bewerbung für Olympische und Paralympische Spiele. Als Gesellschaft müssen wir die Voraussetzungen schaffen, um Menschen mit Behinderung die Tür zum Sport deutlich weiter zu öffnen. Es müssen jetzt Taten folgen“, betont Beucher, der in Paris unter anderem mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammentraf.
OT als Möglichmacher
Vor Ort in Paris war auch Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT). Er traf sich mit Beucher, um die Herausforderungen zu besprechen, die Leistungserbringer wie Athlet:innen gleichermaßen betreffen. Vor allem die fehlende Kostenübernahme für Sportversorgungen macht es schwer bis unmöglich, jungen Talenten den Einstieg in den Para-Sport zu ermöglichen. Dabei ist nicht nur der Spitzensport, sondern auch der Breitensport ein großes Thema, da 55 Prozent aller Menschen mit Behinderungen in Deutschland derzeit keinen Sport treiben. „Die Orthopädie-Technik ist weit mehr als nur ein Handwerk – sie ist der Schlüssel zu den beeindruckenden Leistungen, die wir bei den Paralympischen Spielen bewundern dürfen“, erklärte Reuter.
Heiko Cordes
- Bittersüße Orthopädie-Technik — 20. Dezember 2024
- Spenden statt „Konsumhoch befeuern“ — 19. Dezember 2024
- Sitzkomfort dank 3D-Druck — 19. Dezember 2024