Das Team des Londoner Unternehmens Unhindr hat einen Liner entwickelt, der dieses Problem lösen soll. Roliner passt sich mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) automatisch an die Bedürfnisse der Anwender:innen an. Wie das funktioniert, erläutert Geschäftsführer Dr. Uğur Tanriverdi im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: Unhindr – der Firmenname sagt bereits, worum es geht. Ihr Produkt soll es Anwender:innen ermöglichen, ungehindert durchs Leben zu gehen. Warum ist das mit heutiger Technik aus Ihrer Sicht (noch) nicht möglich?
Uğur Tanriverdi: Bei den meisten Produkten, die auf dem Markt sind, werden die alltäglichen Erfahrungen der Benutzer nicht in den Designprozess einbezogen. Die Systeme werden mit minimalem Nutzen für den Anwender und hoher Gewinnspanne entwickelt und in die Gesundheitssysteme eingeführt. Oder die Produkte haben einen erheblichen Nutzen für den Anwender, dafür muss er aber an anderer Stelle etwas einbüßen, zum Beispiel eine Funktion, die ihm gefällt, oder eine Routine, an die er sich gewöhnt hat.
OT: Die teuerste High-Tech-Prothese nützt wenig, wenn sie nicht bequem sitzt, Druckstellen verursacht etc. Im Zweifel wird sie dann gar nicht getragen. Wie viele Menschen betrifft das Ihrer Erfahrung nach?
Tanriverdi: Drei von vier Amputierten sind mit ihrer Passform unzufrieden. Ich habe Menschen getroffen, die ihr Studium oder ihre Arbeit wegen der Schwierigkeiten mit der Passform aufgegeben haben.
OT: Der von Ihnen entwickelte Liner kann sein Volumen mittels KI verändern. Wie genau funktioniert das?
Tanriverdi: Roliner verwendet für die dynamischen Anpassungen Gas – welches eine mikrofluidische Architektur im Inneren des Liners aufbläst oder entleert. Per Steuereinheit können die Anwender diese Einstellungen drahtlos über das Handy ändern.
OT: Neben dem veränderbaren Volumen: Auf welche Eigenschaften haben Sie bei der Entwicklung des Liners noch Wert gelegt?
Tanriverdi: Benutzerfreundlichkeit war der Schlüssel. Der Liner sollte zuschneidbar, von Hand waschbar und direkt gebrauchsfertig sein. Wir haben sichergestellt, dass die Anwender den gleichen Routinen wie bisher nachgehen können, aber dabei eine völlig neue Erfahrung machen.
Stumpf verändert sich täglich
OT: Wie oft und in welchem Ausmaß ändert sich das Volumen eines Stumpfes durchschnittlich im Tagesverlauf? Welche Faktoren haben Einfluss auf Volumenschwankungen?
Tanriverdi: Jeden Tag verändert sich der Stumpf. Das Ausmaß der Veränderung hängt von vielen komplexen Faktoren ab und kann nicht vollständig allgemeingültig quantifiziert werden. 1 Prozent, 5 Prozent, 10 Prozent sind einige der Zahlen, die in der Literatur in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren genannt werden. Fest steht, dass diese Werte ausreichen, um Prothesenträgern den Tag zu verderben. Manche Veränderungen – ausgelöst durch Aktivitäten wie Gehen oder Laufen – geschehen innerhalb von Minuten. Veränderungen, die durch Ernährung, Reisen oder Krankheit hervorgerufen werden, entwickeln sich über mehrere Tage. Wenn Betroffene zum Beispiel einige Tage lang salzhaltige Nahrung zu sich nehmen, kann es sein, dass ihr Bein nicht mehr in den Schaft passt. Während eines Langstreckenfluges kommt es zu einer Beinschwellung. Nach der Landung kann es dann schwierig sein, den Schaft anzuziehen. Temperatur- und amputationsbedingte Veränderungen wie z. B. Muskelschwund oder ein postoperatives Ödem entwickeln sich über Monate.
OT: Was bedeutet das für den Liner: Ab welchem Umfang reagiert das System? Wie feinfühlig ist es?
Tanriverdi: Es erkennt eine Ausdehnung von 0,5 Millimeter. Aber es reagiert auf eine Veränderung, erstens, wenn der Benutzer es will und zweitens, wenn es nötig ist. Roliner hat einen großen dynamischen Kompensationsbereich. Während der Experimente haben wir Roliner an seine Grenzen gebracht, die Volumenänderung eines Amputierten, der 20 Kilogramm abgenommen hatte, wurde kompensiert. Durch die Expansion wurde die 1,5 Zentimeter große Lücke im Durchmesser ausgefüllt.
OT: Wie lernt die KI? Basieren die Entscheidungen der KI auf den Erfahrungen des Einzelnen oder auf den Erfahrungen aller Benutzer:innen des Produkts?
Tanriverdi: Die KI lernt vom Einzelnen zum Wohl des Einzelnen. Roliner wurde entwickelt, um eine sofortige individuelle Unterstützung zu bieten. Mittels des maschinellen Lernmodells werden der Standort, das Wetter, bei Frauen die Menstruation, die Art der Aktivität und Trends, der Druck, die Vorlieben, die Enge und andere Variablen überwacht. Wir alle haben Muster in unserem Lebensstil. Diese Muster werden analysiert. Roliner schlägt dann eine Änderung vor oder nimmt diese automatisch vor. Allerdings – und dieses „allerdings“ schreibe ich groß – kann der Benutzer das maschinelle Lernen jederzeit ausschalten, wenn ihm der Vorschlag nicht gefällt. Der Benutzer behält stets die Kontrolle. Auf die Gesamtheit der Amputierten bezogen wird Roliner über die erste Cloud-fähige Technologie verfügen, die in Echtzeit Daten über die Vorlieben ihrer Benutzer und deren Umgang mit ihren Beinprothesen sammelt. Allein diese Daten werden der Industrie Aufschluss darüber geben, mit welchen Problemen Prothesenträger zu kämpfen haben und wie sie noch unterstützt werden können.
Klinische Studie in Planung
OT: Haben Sie die Wirksamkeit des Liners nachweisen können?
Tanriverdi: Ja, wir haben die Leistung von Roliner zuerst in hochmodernen Labors überprüft und dann seine Wirksamkeit in einer präklinischen Studie mit Anwendern validiert. Eine landesweite klinische Studie mit 95-prozentiger Trennschärfe ist für dieses Jahr geplant (Die Trennschärfe ist die Wahrscheinlichkeit, einen echten Effekt in einer Studie bei einer bestimmten Stichprobengröße, einem bestimmten Signifikanzniveau und einer bestimmten Effektgröße zu erkennen, Anm. der Red). Wir verifizieren und validieren nicht um der Sache willen alles, also wegen der Dokumentation, sondern für die Anwender und die Wissenschaft. Die Ingenieure, die kaufmännischen Mitarbeiter und die Wissenschaftler in unserem Team haben weltweit anerkannte Auszeichnungen für ihre Arbeit erhalten.
OT: Sie waren als Aussteller bei der OTWorld 2024 dabei. Wie war das Feedback aus der Branche?
Tanriverdi: Die Resonanz war überwältigend. Wir haben 220 Interessensbekundungen aus 33 Ländern erhalten. „Roliner wird den Markt auf den Kopf stellen“ und „Roliner wird den Markt wirklich verändern, ich kann es sehen“ waren die beiden häufigsten Kommentare, die wir von Akteuren mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Branche bekommen haben.
OT: Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Anwender:innen? Sehen sie Verbesserungspotenzial?
Tanriverdi: „Das ist wie Magie.“, „Das Problem wurde in Sekundenschnelle gelöst.“, „Kann ich das jetzt mit nach Hause nehmen?“, „Ich blicke jetzt hoffnungsvoll in die Zukunft“ – das waren einige der Sätze, die während der Testphase mit der Kamera aufgenommen wurden. Wir haben auch sehr emotionale Reaktionen erhalten, die uns sehr berührt haben. Aber natürlich gibt es noch Möglichkeiten, etwas zu verbessern! Wir haben eine Prioritätenliste, die beim Roliner 1.0 umgesetzt werden soll. Während wir expandieren, werden wir weitere Iterationen und Verbesserungen vornehmen. Der Produktlebenszyklus gilt für den Roliner genauso wie für ein Auto oder ein Flugzeug.
OT: Wäre es alternativ auch denkbar gewesen, statt eines KI-angepassten Liners einen KI-angepassten Schaft zu entwickeln?
Tanriverdi: Ja, das ist möglich. Wir sind ein Unternehmen für tragbare Robotik, nicht nur für Prothesen. Roliner ist das Produkt, ein adaptiver Liner. Aber unsere patentierte Technologie ist für die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine gedacht. Wir glauben, dass das Potenzial adaptiver Liner als Schnittstellen zur Lösung des Problems der Stumpfformveränderungen weitgehend unerforscht ist – akademische Versuche schließe ich hier aus.
OT: Noch ist der Liner nicht am (deutschen) Markt erhältlich. Welche Zulassungsvoraussetzungen gilt es noch zu erfüllen?
Tanriverdi: Wie alle anderen Medizinprodukte unterliegt auch der Roliner der Medical Device Regulation (MDR) und benötigt eine CE-Kennzeichnung, um in Deutschland in Verkehr gebracht zu werden.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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