Bot­schaf­ter für den Para-Sport – aller guten Din­ge sind drei!

Sie standen bei Paralympischen Spielen schon mehrfach ganz oben auf dem Treppchen. Auf der OTWorld 2024 in Leipzig war das Ziel von Heinrich Popow, Markus Rehm und Sebastian Dietz aber keine Medaille, sondern eine gemeinsame Mission: ihre persönliche Geschichte erzählen, um Menschen mit Behinderung mental zu unterstützen und ihnen Mut zu machen.

Bei dem Work­shop „Para­lym­pics – unse­re Erfah­run­gen und ein Gewinn für Ver­sor­gun­gen im All­tag“ am Mes­se­diens­tag saß neben den Ath­le­ten auch Dipl.-Ing. (FH) Ingo Pfef­fer­korn mit auf der Büh­ne, denn der Ortho­pä­die­tech­nik­meis­ter und dies­jäh­ri­ge Kon­gress­prä­si­dent der OTWorld hat jah­re­lan­ge Erfah­rung in der Ver­sor­gung von Para-Sportler:innen.

Einig waren sich die Teil­neh­mer auf dem Podi­um zunächst in ihrer Kri­tik dar­an, dass die Kran­ken­kas­sen ampu­tier­ten Erwach­se­nen in Deutsch­land kei­ne Sport­pro­the­se bewil­li­gen. Betrof­fe­nen Kin­dern steht dage­gen neben der All­tags- auch eine Sport­pro­the­se zu. Hein­rich Popow stell­te die rhe­to­ri­sche Fra­ge: „Lässt das Bedürf­nis, Sport zu trei­ben, etwa mit dem 18. Geburts­tag schlag­ar­tig nach?“ Im Gegen­teil, es sol­le doch im Sin­ne von Inklu­si­on und Teil­ha­be eher geför­dert wer­den, Men­schen mit einer Behin­de­rung bzw. nach einer Ampu­ta­ti­on wie­der aktiv in Bewe­gung zu brin­gen. Dem ehe­ma­li­gen Leis­tungs­sport­ler muss­te im Alter von neun Jah­ren das lin­ke Bein ober­halb des Knies ampu­tiert wer­den. Popow glaubt, dass es für ihn eher ein Segen war, so früh mit einer Pro­the­se leben zu müs­sen, da er sich als Kind weni­ger Gedan­ken gemacht und schnell an das Hilfs­mit­tel gewöhnt habe. Für ihn sei es allein wich­tig gewe­sen, rasch wie­der auf sein Fahr­rad stei­gen zu kön­nen. Nach­dem er diver­se Sport­ar­ten aus­pro­biert hat­te, ent­schied er sich letzt­lich für die Leicht­ath­le­tik und konn­te hier gro­ße Erfol­ge fei­ern. Heu­te arbei­tet er für einen bekann­ten Hilfs­mit­tel­her­stel­ler, für den er zuvor jah­re­lang als Mar­ken­bot­schaf­ter tätig war.

Mar­kus Rehm ver­lor als 14-Jäh­ri­ger infol­ge eines Wake­board-Unfalls sein rech­tes Bein unter­halb des Knies. Als ehr­gei­zi­ger Sport­ler begann er schon bald wie­der mit Pro­the­se zu trai­nie­ren; inzwi­schen ist er ein gefei­er­ter Ath­let im Weit­sprung und auf den Sprint­stre­cken. Sebas­ti­an Dietz, der Drit­te im Bun­de, war auf dem Weg, Kar­rie­re als Fuß­ball-Tor­wart zu machen, als ein schwe­rer Ver­kehrs­un­fall sei­ne dama­li­gen Lebens­plä­ne durch­ein­an­der­wir­bel­te. Dank inten­si­ver Reha­bi­li­ta­ti­on, moder­ner Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung und eiser­nem Wil­len kann der inkom­plet­te Tetra­ple­gi­ker heu­te mit einer Fuß­he­ber­or­the­se wie­der lau­fen und bei inter­na­tio­na­len Wett­be­wer­ben im Dis­kus­wurf und Kugel­sto­ßen brillieren.

Dem gele­gent­li­chen Ein­wand, ihre sport­li­chen Erfol­ge sähen so ein­fach aus, tre­ten Popow, Rehm und Dietz klar ent­ge­gen: Medail­len im Para-Sport sei­en aus­schließ­lich mit einem gewis­sen Talent, har­tem Trai­ning, gro­ßer Dis­zi­plin sowie Unter­stüt­zung aus dem per­sön­li­chen Umfeld zu errin­gen. Aber muss es denn gleich die Teil­nah­me an den Para­lym­pics sein? Das Trio möch­te anhand sei­nes Bei­spiels allen Betrof­fe­nen zei­gen, dass das Leben auch mit einem Hilfs­mit­tel lebens­wert ist und man nach einem Unfall bzw. einer Ampu­ta­ti­on wei­ter (Breiten-)Sport betrei­ben, sei­nen Hob­bys nach­ge­hen und das Leben aktiv gestal­ten kann.

Popow und Rehm muss­ten ein­ge­ste­hen, dass sie selbst nie­mals ihr eige­ner Ver­sor­ger sein woll­ten, so anstren­gend und for­dernd sei­en sie als Pro­the­sen­trä­ger. Da man als Betrof­fe­ner den eige­nen Kör­per und die Bedürf­nis­se am bes­ten kennt, ist es nicht ver­wun­der­lich, dass die bei­den Ath­le­ten die beruf­li­che Lauf­bahn als Ortho­pä­die­tech­ni­ker ein­ge­schla­gen haben und mit die­ser erfül­len­den Tätig­keit glück­lich sind. Rehm hat gar bei Össur an der Ent­wick­lung neu­er Pro­the­sen mit­ge­wirkt und bei sei­ner eige­nen immer wie­der etwas angepasst.

Zei­ten ändern sich, so auch in der Ortho­pä­die-Tech­nik, lob­te Popow. Wäh­rend vor eini­gen Jah­ren noch die Indus­trie bestimmt hät­te, was die Anwender:innen brauch­ten, äußern Letz­te­re inzwi­schen vol­ler Selbst­be­wusst­sein, was sie wün­schen und benötigen.

Wie fin­det man die oder den pas­sen­den Orthopädietechniker:in für sich? Ein­hel­li­ge Ant­wort: „Als Ers­tes muss die Che­mie stim­men.“ Außer­dem soll­te man spü­ren, dass das Gegen­über es zu sei­ner per­sön­li­chen Chall­enge macht, die indi­vi­du­ell rich­ti­ge Ver­sor­gung zu fin­den, unab­hän­gig von den Kos­ten. An die­ser Stel­le folg­te der Wunsch an alle Orthopädietechniker:innen, sie mögen bei den Kran­ken­kas­sen für ihre Kund:innen kämp­fen, kei­ne Stan­dard­ver­sor­gung emp­feh­len, son­dern Krea­ti­vi­tät zei­gen und viel­leicht auch mal Neu­es, Unkon­ven­tio­nel­les aus­pro­bie­ren. „Wenn du im Sani­täts­haus bereits nach 5 Minu­ten gebe­ten wirst, die Hose aus­zu­zie­hen, und nie­mand Zeit hat, dir einen Kaf­fee anzu­bie­ten und dich und dei­ne indi­vi­du­el­le Geschich­te ken­nen­zu­ler­nen, dann bist du am fal­schen Ort und soll­test sofort wie­der gehen“, so Popow.

Einen Blick in die Tücken ihres All­tags gaben Rehm und Dietz, indem sie humor­voll auf das The­ma Bade­lat­schen zu spre­chen kamen. Die­se sind für einen Men­schen mit Bein­pro­the­se oder Fuß­he­ber­or­the­se nicht nutz­bar, da sie stets weg­rut­schen und durch die Gegend fliegen.

Zum Ende der Ver­an­stal­tung rief Mode­ra­tor Popow alle Betrof­fe­nen dazu auf, sich bei Fra­gen oder Pro­ble­men ger­ne über die sozia­len Medi­en bei ihm und den Kol­le­gen zu mel­den, jede und jeder erhal­te eine Ant­wort. Kein Lip­pen­be­kennt­nis, son­dern ein ernst gemein­tes Ange­bot, gebo­ren aus der Lei­den­schaft und dem tie­fen Bedürf­nis, als Men­tor jun­ge Talen­te zu för­dern und zu unter­stüt­zen – soweit auch immer möglich.

Bri­git­te Siegmund

Zur Info
Nach einer Ampu­ta­ti­on ist es wich­tig, sich nicht zurück­zu­zie­hen, son­dern schnellst­mög­lich den Weg zurück in ein akti­ves Leben zu fin­den. Es gibt deutsch­land­weit ver­schie­de­ne Initia­ti­ven, die sich dafür ein­set­zen, dass Men­schen mit Ampu­ta­ti­on durch Sport wie­der mehr Selbst­be­wusst­sein sowie neue Per­spek­ti­ven für ihr zukünf­ti­ges Leben gewin­nen. Ein Bei­spiel ist der Ver­ein „Anpfiff ins Leben“ (www.anpfiffinsleben.de) mit Sitz in Hof­fen­heim: Betrof­fe­ne erhal­ten hier in vie­ler­lei Hin­sicht Bera­tung und Unter­stüt­zung, sei es unter ande­rem bei der Auto-Umrüs­tung, bei Anträ­gen für Zuschüs­se oder mit einem umfang­rei­chen Ange­bot an Ein­zel- und Mannschaftssportarten. 

 

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