Bei dem Workshop „Paralympics – unsere Erfahrungen und ein Gewinn für Versorgungen im Alltag“ am Messedienstag saß neben den Athleten auch Dipl.-Ing. (FH) Ingo Pfefferkorn mit auf der Bühne, denn der Orthopädietechnikmeister und diesjährige Kongresspräsident der OTWorld hat jahrelange Erfahrung in der Versorgung von Para-Sportler:innen.
Einig waren sich die Teilnehmer auf dem Podium zunächst in ihrer Kritik daran, dass die Krankenkassen amputierten Erwachsenen in Deutschland keine Sportprothese bewilligen. Betroffenen Kindern steht dagegen neben der Alltags- auch eine Sportprothese zu. Heinrich Popow stellte die rhetorische Frage: „Lässt das Bedürfnis, Sport zu treiben, etwa mit dem 18. Geburtstag schlagartig nach?“ Im Gegenteil, es solle doch im Sinne von Inklusion und Teilhabe eher gefördert werden, Menschen mit einer Behinderung bzw. nach einer Amputation wieder aktiv in Bewegung zu bringen. Dem ehemaligen Leistungssportler musste im Alter von neun Jahren das linke Bein oberhalb des Knies amputiert werden. Popow glaubt, dass es für ihn eher ein Segen war, so früh mit einer Prothese leben zu müssen, da er sich als Kind weniger Gedanken gemacht und schnell an das Hilfsmittel gewöhnt habe. Für ihn sei es allein wichtig gewesen, rasch wieder auf sein Fahrrad steigen zu können. Nachdem er diverse Sportarten ausprobiert hatte, entschied er sich letztlich für die Leichtathletik und konnte hier große Erfolge feiern. Heute arbeitet er für einen bekannten Hilfsmittelhersteller, für den er zuvor jahrelang als Markenbotschafter tätig war.
Markus Rehm verlor als 14-Jähriger infolge eines Wakeboard-Unfalls sein rechtes Bein unterhalb des Knies. Als ehrgeiziger Sportler begann er schon bald wieder mit Prothese zu trainieren; inzwischen ist er ein gefeierter Athlet im Weitsprung und auf den Sprintstrecken. Sebastian Dietz, der Dritte im Bunde, war auf dem Weg, Karriere als Fußball-Torwart zu machen, als ein schwerer Verkehrsunfall seine damaligen Lebenspläne durcheinanderwirbelte. Dank intensiver Rehabilitation, moderner Hilfsmittelversorgung und eisernem Willen kann der inkomplette Tetraplegiker heute mit einer Fußheberorthese wieder laufen und bei internationalen Wettbewerben im Diskuswurf und Kugelstoßen brillieren.
Dem gelegentlichen Einwand, ihre sportlichen Erfolge sähen so einfach aus, treten Popow, Rehm und Dietz klar entgegen: Medaillen im Para-Sport seien ausschließlich mit einem gewissen Talent, hartem Training, großer Disziplin sowie Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld zu erringen. Aber muss es denn gleich die Teilnahme an den Paralympics sein? Das Trio möchte anhand seines Beispiels allen Betroffenen zeigen, dass das Leben auch mit einem Hilfsmittel lebenswert ist und man nach einem Unfall bzw. einer Amputation weiter (Breiten-)Sport betreiben, seinen Hobbys nachgehen und das Leben aktiv gestalten kann.
Popow und Rehm mussten eingestehen, dass sie selbst niemals ihr eigener Versorger sein wollten, so anstrengend und fordernd seien sie als Prothesenträger. Da man als Betroffener den eigenen Körper und die Bedürfnisse am besten kennt, ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Athleten die berufliche Laufbahn als Orthopädietechniker eingeschlagen haben und mit dieser erfüllenden Tätigkeit glücklich sind. Rehm hat gar bei Össur an der Entwicklung neuer Prothesen mitgewirkt und bei seiner eigenen immer wieder etwas angepasst.
Zeiten ändern sich, so auch in der Orthopädie-Technik, lobte Popow. Während vor einigen Jahren noch die Industrie bestimmt hätte, was die Anwender:innen brauchten, äußern Letztere inzwischen voller Selbstbewusstsein, was sie wünschen und benötigen.
Wie findet man die oder den passenden Orthopädietechniker:in für sich? Einhellige Antwort: „Als Erstes muss die Chemie stimmen.“ Außerdem sollte man spüren, dass das Gegenüber es zu seiner persönlichen Challenge macht, die individuell richtige Versorgung zu finden, unabhängig von den Kosten. An dieser Stelle folgte der Wunsch an alle Orthopädietechniker:innen, sie mögen bei den Krankenkassen für ihre Kund:innen kämpfen, keine Standardversorgung empfehlen, sondern Kreativität zeigen und vielleicht auch mal Neues, Unkonventionelles ausprobieren. „Wenn du im Sanitätshaus bereits nach 5 Minuten gebeten wirst, die Hose auszuziehen, und niemand Zeit hat, dir einen Kaffee anzubieten und dich und deine individuelle Geschichte kennenzulernen, dann bist du am falschen Ort und solltest sofort wieder gehen“, so Popow.
Einen Blick in die Tücken ihres Alltags gaben Rehm und Dietz, indem sie humorvoll auf das Thema Badelatschen zu sprechen kamen. Diese sind für einen Menschen mit Beinprothese oder Fußheberorthese nicht nutzbar, da sie stets wegrutschen und durch die Gegend fliegen.
Zum Ende der Veranstaltung rief Moderator Popow alle Betroffenen dazu auf, sich bei Fragen oder Problemen gerne über die sozialen Medien bei ihm und den Kollegen zu melden, jede und jeder erhalte eine Antwort. Kein Lippenbekenntnis, sondern ein ernst gemeintes Angebot, geboren aus der Leidenschaft und dem tiefen Bedürfnis, als Mentor junge Talente zu fördern und zu unterstützen – soweit auch immer möglich.
Brigitte Siegmund
Nach einer Amputation ist es wichtig, sich nicht zurückzuziehen, sondern schnellstmöglich den Weg zurück in ein aktives Leben zu finden. Es gibt deutschlandweit verschiedene Initiativen, die sich dafür einsetzen, dass Menschen mit Amputation durch Sport wieder mehr Selbstbewusstsein sowie neue Perspektiven für ihr zukünftiges Leben gewinnen. Ein Beispiel ist der Verein „Anpfiff ins Leben“ (www.anpfiffinsleben.de) mit Sitz in Hoffenheim: Betroffene erhalten hier in vielerlei Hinsicht Beratung und Unterstützung, sei es unter anderem bei der Auto-Umrüstung, bei Anträgen für Zuschüsse oder mit einem umfangreichen Angebot an Einzel- und Mannschaftssportarten.
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