Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment bei Rückenmarkverletzungen

U. Papenkordt
Rückenmarkverletzungen stellen einen tiefen Einschnitt ins Leben der Betroffenen dar. Stehen anfänglich noch der Verlust der Geh- bzw. Bewegungsfähigkeit im Vordergrund, spielt der Verlust der Kontinenz schnell eine zentrale Rolle. Blasen- und Darmfunktionsstörungen beeinträchtigen die Lebensqualität von Betroffenen in hohem Maße. Zudem beeinflussen systemische Störungen wie Harninkontinenz mit Hautschäden oder Restharnbildung mit schweren Infekten das Leben der Betroffenen. Eine oft unterschätzte Gefahr sind neurogene Darmfunktionsstörungen (nDFS), die durch chronische Obstipation und Stuhlinkontinenz ebenfalls Hautschäden, Geruchsbelästigung und schwere Organfunktionsstörungen auslösen können. Dieser Beitrag zeigt Möglichkeiten auf, wie Betroffene durch gezielte Maßnahmen ihre Kontinenz und damit ihre Sicherheit im Alltag zurückerlangen können.

Ein­lei­tung

Dem Ablauf von Aus­schei­dungs­pro­zes­sen wid­men die Men­schen im All­tag nur wenig Beach­tung. Wer weiß schon, wie oft er am Tag auf die Toi­let­te geht oder wel­che Kon­sis­tenz und Far­be sein Stuhl­gang hat. Auch bei der Fra­ge „Wie klingt Ihr Harn­strahl?“ oder „Um wel­che Uhr­zeit haben Sie in der Regel Stuhl­gang?“ hat man auf Anhieb oft kei­ne Ant­wort parat. Daher ist es nicht ver­wun­der­lich, wenn Betrof­fe­ne von Rücken­mark­ver­let­zun­gen zu Beginn ihren Fokus auf den Ver­lust ihrer Bewe­gungs­fä­hig­keit rich­ten. Erst im spä­te­ren Ver­lauf rückt der Fokus auf Bla­sen- und Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen, die dann jedoch eine gro­ße Her­aus­for­de­rung dar­stel­len. Im Fol­gen­den wer­den Grund­funk­tio­nen und Her­aus­for­de­run­gen des Kon­ti­nenz­ma­nage­ments bei Rücken­mark­ver­let­zun­gen diskutiert.

Die Rol­le der Rücken­marks­ner­ven bei Harn­ent­lee­rung und Darmtätigkeit

Harn­bla­se und Schließ­mus­keln, die die Ent­lee­rung der Bla­se bewir­ken, wer­den von den Ner­ven des Rücken­marks gesteu­ert. Die für die Höhe der Füll­ka­pa­zi­tät ver­ant­wort­li­chen Ner­ven haben ihren Ursprung im Seg­ment Th11–L2 und füh­ren zur Bla­se und zur Harn­röh­re. Für die Ent­span­nung des inne­ren Harn­röh­ren­schließ­mus­kels und die Kon­trak­ti­on der mus­ku­lä­ren Bla­sen­wand sind die Ner­ven ver­ant­wort­lich, die ihren Ursprung in der Sakral­re­gi­on des Rücken­marks im Seg­ment S2–S4 haben 1. Der für die bewuss­te Steue­rung des äuße­ren Harn­röh­ren­schließ­mus­kels und für die bewuss­te Kon­trol­le der Harn­ent­lee­rung ver­ant­wort­li­che Rücken­marks­nerv ist der Ner­vus puden­dus. Er ent­stammt eben­falls der Sakral­re­gi­on. Da die Reiz­si­gna­le von der Harn­bla­se über Ner­ven­bah­nen an das Rücken­mark und dann wei­ter zum Gehirn trans­por­tiert wer­den, kann das Gehirn bei Ver­let­zun­gen des Rücken­marks die­se Sin­nes­in­for­ma­tio­nen nicht emp­fan­gen (Abb. 1).

Wer­den Ner­ven­bah­nen ver­letzt, so kön­nen dadurch zahl­rei­che Funk­ti­ons­stö­run­gen im mensch­li­chen Kör­per aus­ge­löst wer­den. Zu den häu­figs­ten gehö­ren Bla­sen- und Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen, die Pati­en­ten oft stark belas­ten und ihre Lebens­qua­li­tät gra­vie­rend ein­schrän­ken. Dazu kommt, dass eini­ge For­men von Bla­sen­funk­ti­ons­stö­run­gen bei Rücken­mark­ver­letz­ten sogar lebens­be­droh­lich wer­den kön­nen. Die Art der Funk­ti­ons­stö­rung hängt von der Loka­li­sa­ti­on der Rücken­mark­ver­let­zung ab 2.

Die Ner­ven­ver­sor­gung des Darms koor­di­niert die Bewe­gun­gen der mus­ku­lä­ren Dick­darm­wand und ist für den Trans­port des Stuhls durch den Darm zum Anus ver­ant­wort­lich. Der größ­te Teil des Darms wird durch den Vagus­nerv und die Rücken­marks­ner­ven ver­sorgt, die in der Brust­korb­re­gi­on des Rücken­marks ihren Ursprung haben (Seg­men­te Th9–Th12 und L1–L2). Dick­darm, Rek­tum und Anus wer­den von Rücken­marks­ner­ven in der Sakral­re­gi­on ver­sorgt (Seg­ment S2–S4) 3.

Funk­ti­ons­stö­run­gen der Bla­se und des Darms

Im Fol­gen­den wer­den die häu­figs­ten Funk­ti­ons­stö­run­gen der Bla­se und des Darms infol­ge einer Rücken­mark­ver­let­zung aufgezeigt.

Bla­sen­funk­ti­ons­stö­run­gen

Neu­ro­ge­ne Bla­sen­funk­ti­ons­stö­run­gen wer­den seit dem Jahr 2020 unter dem Begriff „Neu­ro­ge­ne Dys­funk­ti­on des unte­ren Harn­trak­tes – NLUTD“ 4 defi­niert. Dabei lehnt sich die Funk­ti­ons­stö­rung an das von Maders­ba­cher auf­ge­stell­te Sche­ma an 5. Man unter­schei­det eine „schlaf­fe Bla­se“, bei der kei­ne Kon­trak­ti­ons­kraft und somit kei­ne Spei­cher­ka­pa­zi­tät mehr gege­ben ist, und eine „Reflex­bla­se“, bei der die Harn­bla­se durch unwill­kür­li­che Impul­se kon­tra­hiert 6. Je nach Stö­rung kann es somit zu Rest­harn­bil­dung oder Inkon­ti­nenz kom­men. Die gro­ße Gefahr bei einer Reflex­bla­se besteht in einem Reflux von Urin in die Nie­ren. Der durch die reflex­ar­ti­gen Kon­trak­tio­nen aus­ge­lös­te Reflux kann zu einer Nie­ren­funk­ti­ons­stö­rung füh­ren. Bei einer schlaf­fen Bla­se kommt es hin­ge­gen oft zu inkom­plet­ten Ent­lee­run­gen. Der damit ver­bun­de­ne Rest­harn kann in der Harn­bla­se zu Ent­zün­dun­gen oder zur Inkon­ti­nenz füh­ren. Eine rest­harn­freie Bla­sen­ent­lee­rung ist daher ein essen­zi­el­les Ziel für eine gute Blasengesundheit.

Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen

Eine durch Ner­ven­schä­di­gun­gen ver­ur­sach­te Darm­funk­ti­ons­stö­rung wird auch „neu­ro­ge­ner Darm“ genannt und kann die Lebens­qua­li­tät Betrof­fe­ner erheb­lich beein­träch­ti­gen. Es wer­den zwei unter­schied­li­che Stör­for­men unterschieden:

  • Läsi­on des unte­ren moto­ri­schen Neu­rons: Die­se Form der neu­ro­ge­nen Darm­funk­ti­ons­stö­rung (nDFS) wird auch „are­fle­xi­ver Darm“ genannt 7. Ursäch­lich bei der Quer­schnitt­läh­mung ist eine Zer­stö­rung der para­sym­pa­thi­schen Ner­ven­zel­len im Conus medul­la­ris und/oder der in der Cau­da equi­na gebün­del­ten sakra­len Ner­ven­wur­zeln. Durch die gestör­te Ver­bin­dung zwi­schen Kolon und Rücken­mark kann es weder zu einer durch das Rücken­mark ver­mit­tel­ten reflek­to­ri­schen Peris­tal­tik noch zu einer Refle­xent­lee­rung kommen.
  • Läsi­on des obe­ren moto­ri­schen Neu­rons: Bei die­ser Form der nDFS spricht man auch von einem „refle­xi­ven Darm“ 7. Der refle­xi­ve Darm hat sei­ne Ursa­che in einer Läsi­on ober­halb des Conus medul­la­ris. Mas­sen­be­we­gun­gen des Kolons sind wei­ter mög­lich. Die Kon­trak­ti­li­tät des Kolons ist erhöht. Der Tran­sit ist haupt­säch­lich im lin­ken Kolon und im Rek­to­sig­mo­id ver­lang­samt 8.

Sowohl der „are­fle­xi­ve Darm“ als auch der „refle­xi­ve Darm“ wei­sen fol­gen­de Stö­run­gen auf:

  • Stuhl­trans­port­stö­run­gen
  • Stuhl­in­kon­ti­nenz
  • Stuhl­ent­lee­rungs­stö­run­gen
  • ver­än­der­te peri­ana­le Empfindung

Bla­sen- und Darmmanagement

Das Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment bei Rücken­mark­ver­let­zun­gen ist nicht nur von der Art der Rücken­mark­ver­let­zung abhän­gig, son­dern rich­tet sich auch nach der Pha­se der Reha­bi­li­ta­ti­on. In der Akut­pha­se wer­den in der Regel Dau­er­ka­the­ter ver­wen­det, um die Urin­aus­schei­dung bes­ser über­wa­chen und steu­ern zu kön­nen. Zur Anwen­dung kom­men dabei supra­pu­bi­sche oder trans­urethr­a­le Dau­er­ka­the­ter. Mit Hil­fe des Kathe­ters kann der Urin aus der Harn­bla­se abflie­ßen – eine Über­fül­lung wird ver­mie­den. Gleich­zei­tig wird ein Rück­fluss des Urins in die Nie­ren ver­hin­dert. In den ers­ten Tagen wer­den zudem die Darm­ge­räu­sche regel­mä­ßig über­wacht, um Anzei­chen für Stuhl­be­we­gun­gen im Darm zu erken­nen 9. Sobald die Darm­ge­räu­sche zurück­keh­ren, wird ein indi­vi­du­ell an den Pati­en­ten ange­pass­tes Darm­ma­nage­ment ein­ge­lei­tet. In der Akut­pha­se liegt dabei der Schwer­punkt auf einer täg­li­chen Stuhlentleerung.

Ab der Reha­bi­li­ta­ti­ons­pha­se kann man das Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment auf unter­schied­li­che Ver­fah­ren stüt­zen, die oft selbst­stän­dig durch­ge­führt wer­den kön­nen. Hier­auf wird im Fol­gen­den genau­er eingegangen.

Bla­sen­ma­nage­ment

Im Bereich des Bla­sen­ma­nage­ments ste­hen aufsaugende/auffangende Sys­te­me sowie Harn­ab­lei­tungs­ver­fah­ren zur Ver­fü­gung. Auf­sau­gen­de Sys­te­me wer­den oft ein­ge­setzt, wenn es zu unwill­kür­li­chem Harn­ver­lust kommt. Die in sol­chen Fäl­len ange­wen­de­ten Ein­la­gen, Vor­la­gen oder Inkon­ti­nenz­schutz­ho­sen soll­ten jedoch an den exak­ten Flüs­sig­keits­ver­lust ange­passt wer­den. Eine wei­te­re Mög­lich­keit aus dem Bereich der auf­fan­gen­den Ver­sor­gung sind soge­nann­te Kon­dom-Uri­na­le. Die­se kön­nen von Män­nern ver­wen­det wer­den und stel­len bei einer Reflex­bla­se eine effek­ti­ve Ver­bes­se­rung gegen­über einer Schutz­ho­se oder einer Vor­la­ge dar. Der Urin wird dabei in einem Urin­beu­tel aufgefangen.

Gold­stan­dard bei neu­ro­ge­nen Bla­sen­ent­lee­rungs­stö­run­gen ist seit Jahr­zenten der soge­nann­te Inter­mit­tie­ren­de Ein­mal­ka­the­te­ris­mus. Schon Gutt­mann stell­te in den 1940er Jah­ren die Vor­tei­le eines inter­mit­tie­ren­den Kathe­te­ris­mus her­aus 10. Er konn­te nach­wei­sen, dass die Ver­än­de­run­gen und Kom­pli­ka­tio­nen am Harn­trakt im Ver­gleich zu Dau­er­ab­lei­tun­gen wesent­lich gerin­ger sind 11. Wenn die Bla­se nicht regel­mä­ßig voll­stän­dig ent­leert wird, erhöht sich das Risi­ko einer Harn­wegs­in­fek­ti­on, die Harn­röh­re, Bla­se, Nie­ren oder Harn­lei­ter betref­fen kann. Die damit ver­bun­de­nen Sym­pto­me – ins­be­son­de­re Schmer­zen, Übel­keit und Müdig­keit – wir­ken sich schwer­wie­gend auf das täg­li­che Leben der Betrof­fe­nen aus 12 13. Um ein idea­les Bla­sen­ma­nage­ment zu errei­chen, soll­te nach Ansicht des Autors der bzw. die Betrof­fe­ne fol­gen­de Aspek­te beachten:

  • Die durch­schnitt­li­che Kathe­te­ri­sie­rungs­fre­quenz pro 24 Stun­den beträgt 4 bis 6 Kathe­te­ri­sie­run­gen, kann indi­vi­du­ell aber stark variieren.
  • Die Bla­sen­fül­lung soll­te bei Erwach­se­nen 500 ml pro Kathe­te­ri­sie­rung nicht überschreiten.
  • Die täg­li­che Aus­schei­dungs­men­ge soll­te 1.500 bis 2.000 ml betragen.
  • Bei Urin­men­gen pro Kathe­te­ri­sie­rung von weni­ger als 100 ml und von mehr als 500 ml soll­te das Harn­bla­sen­ent­lee­rungs­re­gime über­prüft werden.
  • Zur indi­vi­du­el­len Ein­stel­lung der Kathe­te­ri­sie­rungs­fre­quenz, der Urin­men­ge und der Kathe­te­ri­sie­rungs­zei­ten ist ein Mik­ti­ons-/Ka­the­ter-/Trink­pro­to­koll notwendig.

Das lang­fris­ti­ge Bla­sen­ma­nage­ment hat drei Haupt­zie­le 14:

  1. Ein­ge­hen auf die indi­vi­du­el­len Bedürf­nis­se des Patienten
  2. Mini­mie­ren des Risi­kos wei­te­rer Kom­pli­ka­tio­nen und Harnwegsinfektionen
  3. Ver­hin­dern von Nierenschäden

Wich­tigs­te Vor­aus­set­zung für die Durch­füh­rung des Inter­mit­tie­ren­den Kathe­te­ris­mus ist eine adäqua­te Ein­wei­sung in das Ver­fah­ren. Auch Ange­hö­ri­ge kön­nen den IK bei Betrof­fe­nen durch­füh­ren. Sie wer­den dann indi­vi­du­ell in den Kathe­te­ris­mus des ein­zel­nen Betrof­fe­nen ein­ge­wie­sen 15.

Darm­ma­nage­ment

„Darm­ma­nage­ment bezeich­net die Gesamt­heit aller Akti­vi­tä­ten, die dazu die­nen, eine regel­mä­ßi­ge, plan­ba­re sowie zeit­lich begrenz­te Darm­ent­lee­rung mit aus­rei­chen­der Stuhl­men­ge sowie adäqua­ter Stuhl­kon­sis­tenz zu errei­chen, Gesund­heit und Wohl­be­fin­den zu erhal­ten und Kom­pli­ka­tio­nen sowie unge­plan­te Stuhl­ent­lee­run­gen zu ver­mei­den“. Ein wich­ti­ges Ziel des Darm­ma­nage­ments ist es, Betrof­fe­nen eine selbst­be­stimm­te und siche­re Darm­ent­lee­rung zu ermög­li­chen 16. Das Darm­ma­nage­ment ver­hin­dert Stuhl­in­kon­ti­nenz, Obs­ti­pa­ti­on und lan­ge Toi­let­ten­zei­ten. Einen Über­blick über mög­li­che Eska­la­ti­ons­stu­fen des Darm­ma­nage­ments bie­tet die The­ra­pie­py­ra­mi­de in Abbil­dung 2. Deren Stu­fen wer­den in den fol­gen­den Abschnit­ten genau­er erläutert.

1. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Ernäh­rung und Flüssigkeit

Die Ernäh­rung stellt die Basis eines Darm­ma­nage­ments dar, nicht nur in Bezug auf die Nähr­stof­fe, son­dern auch auf den Zeit­punkt bzw. die Art und Wei­se. Um Kon­sis­tenz und Pas­sa­ge­zeit zu beein­flus­sen, kön­nen fol­gen­de Maß­nah­men durch­ge­führt werden:

  • aus­ge­wo­ge­ne bal­last­stoff­rei­che Kost
  • fes­te Zei­ten der Nahrungsaufnahme
  • Erzie­hung zu geeig­ne­tem Ess­ver­hal­ten (lang­sam essen, gut kauen)
  • Trink­men­ge von 1 bis 2 Litern in 24 Stun­den, die über den Tag ver­teilt werden
  • kör­per­li­che Aktivität
  • aus­rei­chen­de Ruhe­zei­ten nach der Nahrungsaufnahme

Fach­ge­sell­schaf­ten emp­feh­len in die­sem Zusam­men­hang eine regel­mä­ßi­ge Ernäh­rung, eine aus­rei­chen­de Flüs­sig­keits­auf­nah­me (1.500‑2000 ml/Tag) und die Zufuhr von Bal­last­stof­fen (bis 30 g/Tag, lös­lich und unlös­lich) als Grund­la­ge der Ernäh­rung 15. Soll­ten eine Ernäh­rungs­ein­stel­lung und die Ver­än­de­rung von Lebens­ge­wohn­hei­ten nicht zum Erfolg füh­ren, kön­nen unter­stüt­zen­de Laxan­ti­en oder stuhl­mo­du­lie­ren­de Sub­stan­zen ver­ab­reicht wer­den. Die Ver­ab­rei­chung ora­ler Laxan­ti­en bei neu­ro­ge­nen Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen erfolgt in einem Stu­fen­plan von Quell- und Faser­mit­teln zu osmo­tisch wirk­sa­men Substanzen.

2. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Reflexe

In der zwei­ten Eska­la­ti­ons­stu­fe wer­den bestehen­de Refle­xe aus­ge­löst. Dazu dient unter ande­rem die soge­nann­te digi­ta­le Sti­mu­la­ti­on: Die­se erfolgt durch eine krei­sen­de Bewe­gung mit einem behand­schuh­ten Fin­ger ober­halb des Anal­sphinkt­ers für ca. 15 bis 20 Sekun­den. Danach wird 5 bis 10 Minu­ten gewar­tet, ob der Ent­lee­rungs­re­flex auf die­se Wei­se aus­ge­löst wer­den kann.

Eine wei­te­re Mög­lich­keit ist der Ein­satz von Sup­po­si­to­ri­en. Die­ser wird in drei Stu­fen eskaliert:

  1. Stu­fe: CO2-Sup­po­si­to­ri­en lösen einen Deh­nungs­re­flex an der Darm­wand aus. Dadurch wird die Peris­tal­tik nach dem Prin­zip „Druck erzeugt Gegen­druck“ gesteigert.
  2. Stu­fe: Gly­ce­rin-Sup­po­si­to­ri­en sind hygro­sko­pisch und üben auf die Schleim­haut des Rek­tums einen mil­den osmo­ti­schen Sekre­ti­ons­reiz aus; gleich­zei­tig set­zen sie den Defä­ka­ti­ons­me­cha­nis­mus in Gang.
  3. Stu­fe: Bisa­co­dyl-Sup­po­si­to­ri­en sti­mu­lie­ren durch Was­ser und Elek­tro­ly­tan­samm­lung die Peristaltik.

Bio­feed­back als drit­te Mög­lich­keit dient der Visua­li­sie­rung der Akti­vi­tät der Beckenbodenmuskeln.

3. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Trans­a­na­le Irrigation

Das latei­ni­sche Verb „irri­ga­re“ bedeu­tet „gie­ßen“, „bewäs­sern“ oder „ein­lau­fen las­sen“. Dem­nach spielt Was­ser bei der trans­a­na­len Irri­ga­ti­on eine wich­ti­ge Rol­le: Es dient als Impuls­ge­ber und zur Feuch­tig­keits­ge­win­nung. Bei obs­ti­pier­ten Pati­en­ten ist der Darm stark mit Stuhl­mas­se gefüllt. Pumpt man Was­ser in den Darm, dehnt es die Darm­wand und löst Deh­nungs­re­fle­xe aus. Durch das Ein­füh­ren eines Bal­lon- oder Konus­ka­the­ters wer­den der Ent­lee­rungs­re­flex und der rek­to­ana­le Inhi­bi­ti­ons­re­flex ange­spro­chen. Die­ses Zusam­men­spiel drei­er Refle­xe macht die trans­a­na­le Irri­ga­ti­on effektiv.

Die trans­a­na­le Irri­ga­ti­on mit­tels Bal­lon­ka­the­ter wur­de im Jahr 2005 durch eine Initia­ti­ve von Quer­schnitt­zen­tren aus Deutsch­land, Öster­reich, der Schweiz und den Nie­der­lan­den eigens für Rücken­mark­ver­letz­te ent­wi­ckelt. Anstoß war eine Unter­su­chung von Geng und Haas 17, die das bis­he­ri­ge Darm­ma­nage­ment bei Rücken­mark­ver­let­zun­gen unter­such­ten. Zudem fan­den auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne Unter­su­chun­gen statt, um die Effek­ti­vi­tät der Tech­nik nach­zu­wei­sen. So konn­ten durch ein inter­na­tio­na­les Advi­so­ry Board vie­le Erkennt­nis­se zur Wirk­sam­keit zusam­men­ge­tra­gen wer­den 18 19. Indi­ka­tio­nen für die trans­a­na­le Irri­ga­ti­on sind:

  • Darm­ent­lee­rungs­stö­run­gen,
  • Stö­rung der Transportfunktion,
  • Stuhl­in­kon­ti­nenz,
  • Obs­ti­pa­ti­on,
  • neu­ro­ge­ne Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen sowie
  • unver­hält­nis­mä­ßig lan­ge Ausscheidungszeiten.

Grund­sätz­lich darf eine ana­le Irri­ga­ti­on nur nach ärzt­li­cher Anord­nung und nach Anlei­tung durch qua­li­fi­zier­tes Fach­per­so­nal durch­ge­führt wer­den. Kon­tra­in­di­ka­tio­nen für eine trans­a­na­le Irri­ga­ti­on sind:

  • bekann­te Anal- oder Kolorektalstenose,
  • Kolo­rek­tal­kar­zi­nom,
  • aku­te ent­zünd­li­che Darmerkrankungen,
  • aku­te Divertikulitis,
  • ein Zeit­raum von 3 Mona­ten nach einer ana­len oder kolo­rek­ta­len Operation,
  • ein Zeit­raum von 4 Wochen nach einer endo­sko­pi­schen Polypektomie,
  • ischä­mi­sche Koli­tis sowie
  • Schwan­ger­schaft (sofern die Irri­ga­ti­on vor der Schwan­ger­schaft noch nicht durch­ge­führt wurde).

Ent­schei­dend für ein erfolg­rei­ches Darm­ma­nage­ment mit trans­a­na­ler Irri­ga­ti­on ist eine adäqua­te Unter­wei­sung durch aus­ge­bil­de­tes Fach­per­so­nal und Geduld des Pati­en­ten, denn der Darm benö­tigt meh­re­re Wochen, um sich an die neue Unter­stüt­zung und das Antrig­gern der Refle­xe zu gewöh­nen. Eine kon­se­quen­te Ein­hal­tung der Ernäh­rungs- und Lebens­stil­an­pas­sung ist not­wen­dig, um einen vol­len Erfolg zu erzie­len. Zur­zeit sind drei Sys­te­me im Han­del erhält­lich, deren Kos­ten von der Kran­ken­kas­se erstat­tet werden:

  1.  „Peris­teen®“ der Fir­ma Colo­plast (Ham­burg, Deutschland)
  2. „Oufo­ra® Irri­Se­do“ der Fir­ma MBH (Aller­od, Dänemark)
  3. „Navina®“ der Fir­ma Well­spect (Elz, Deutschland)

Alle Sys­te­me arbei­ten nach dem­sel­ben Wirk­prin­zip und wer­den mit her­kömm­li­chem Lei­tungs­was­ser benutzt. Die Ver­wen­dung von Zusät­zen wie Sal­zen oder Gly­ce­rin ist von den Her­stel­lern nicht vor­ge­se­hen und hat sich als nicht nütz­lich erwie­sen 20 21.

4. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Sakra­le Neu­ro­mo­du­la­ti­on/-sti­mu­la­ti­on

Bei die­sem Ver­fah­ren wer­den mit­tels einer Son­de elek­tro­ni­sche Impul­se an das sakra­le Ner­ven­zen­trum abge­ge­ben. Durch die­se Impul­se ver­än­dert sich der Mus­kel­to­nus im Becken­bo­den­be­reich.  Nach Aus­schöp­fung kon­ser­va­ti­ver the­ra­peu­ti­scher Maß­nah­men kann die Sakra­le Neu­ro­mo­du­la­ti­on (SNM) für eine aus­ge­wähl­te Pati­en­ten­kli­en­tel mit inkom­plet­ter Quer­schnitt­läh­mung in Erwä­gung gezo­gen wer­den 22 23. Zur Objek­ti­vie­rung der 3- bis 4‑wöchigen Test­pha­se ist neben den kli­ni­schen Para­me­tern auch die Beein­flus­sung der Lebens­qua­li­tät zu über­prü­fen. Kom­bi­niert mit ande­ren Behand­lungs­me­tho­den (kon­ser­va­ti­ves Darm­ma­nage­ment) kann die SNM dazu bei­tra­gen, mul­ti­ple Sym­pto­me der neu­ro­ge­nen Darm­funk­ti­ons­stö­rung (nDFS) zu bes­sern 24.

5. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Ante­gra­de Darmspülung

Die soge­nann­te MACE-Tech­nik („Mal­o­ne Ante­gra­de Con­ti­nence Ene­ma“; ante­gra­de Darm­spü­lung nach Mal­o­ne) bezeich­net ein kon­ti­nen­tes Appen­di­kosto­ma. Dabei wird der Darm über einen künst­li­chen Zugang am Appen­dix mit Flüs­sig­keit in sei­ner natür­li­chen Fluss­rich­tung (ante­grad) gespült 25 26. Das Ver­fah­ren fin­det ins­be­son­de­re im Kin­der­be­reich des Öfte­ren Anwen­dung, wird jedoch wegen der rela­tiv hohen Kom­pli­ka­ti­ons­ra­ten (Steno­sen, Insuf­fi­zi­en­zen und unbe­frie­di­gen­de Spü­l­er­geb­nis­se) eher als exo­tisch ange­se­hen. Die Emp­feh­lung erfolgt erst nach Aus­schöp­fung aller kon­ser­va­ti­ven Maß­nah­men. Auf­grund der Nicht­an­wend­bar­keit von Bla­sen­schritt­ma­chern im Kin­der­be­reich ist das Ver­fah­ren jedoch ein wich­ti­ger Bestand­teil der Therapiepyramide.

6. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Sakra­le Vorderwurzelstimulation

Beim Vor­der­wur­zel­sti­mu­la­tor nach Brind­ley (Syn­ony­me: Bla­sen­schritt­ma­cher, „Sacral Ante­rior Root Sti­mu­la­tor“ – SARS) han­delt es sich um ein pas­si­ves lmplan­tat zur Steue­rung der Bla­sen- und Darm­funk­ti­on in Ver­bin­dung mit einer sakra­len Deaf­fe­ren­ta­ti­on (SDAF) nach Sau­er­wein (Durch­tren­nung der sen­si­blen Ner­ven der Harn­bla­se) 27 28. Bei Auf­tre­ten einer rele­van­ten auto­no­men Dys­re­fle­xie im Rah­men des Darm­ma­nage­ments ist nach Aus­schöp­fung kon­ser­va­ti­ver Maß­nah­men die Deaf­fe­ren­ta­ti­on eine The­ra­pie­op­ti­on. Sie wird jedoch aus­schließ­lich bei kom­plet­ter Quer­schnitt­läh­mung ange­wen­det 29.

7. Eska­la­ti­ons­stu­fe: Stomaanlage

Soll­ten alle beschrie­be­nen Maß­nah­men nicht zu einem zufrie­den­stel­len­den Darm­ma­nage­ment füh­ren, ver­bleibt als letz­te Opti­on die Anla­ge eines Kolosto­mas. Etwa 10 % aller Quer­schnitt­ge­lähm­ten unter­zie­hen sich im Lang­zeit­ver­lauf die­ser Maß­nah­me 30. Je nach Anla­ge lässt sich die Lebens­qua­li­tät auch hier­durch deut­lich stei­gern 31.

Die Pyra­mi­de ist als Hil­fe­stel­lung zu ver­ste­hen, nicht als Algo­rith­mus. Mit Hil­fe der ein­zel­nen Stu­fen kön­nen Pati­en­ten gezielt infor­miert und bera­ten wer­den. Grund­sätz­lich soll­te jedoch stets die ers­te Stu­fe erfüllt sein, um wei­ter­füh­ren­de Maß­nah­men in Betracht zu zie­hen. Bei Schwie­rig­kei­ten mit einer der höhe­ren Stu­fen soll­te stets die ers­te Stu­fe kon­trol­liert werden.

Fazit

Wie gezeigt wur­de, ist ein geziel­tes und opti­ma­les Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment durch eine Viel­zahl an Maß­nah­men zu errei­chen. Die Kom­ple­xi­tät des The­mas macht deut­lich, dass eine hohe Qua­li­fi­ka­ti­on und Spe­zia­li­sie­rung der betreu­en­den Fach­kräf­te not­wen­dig ist. Um mit den vor­ge­stell­ten Maß­nah­men einen opti­ma­len Effekt erzie­len zu kön­nen, ist eine eng­ma­schi­ge Bera­tung und Beglei­tung wäh­rend der The­ra­pie not­wen­dig. Ins­be­son­de­re das Darm­ma­nage­ment erfor­dert vom Betrof­fe­nen ein hohes Maß an Geduld, da der Darm bei The­ra­pie­ver­än­de­run­gen ein eher trä­ges Ver­hal­ten zeigt. Doch gene­rell zah­len sich Geduld und Ein­satz bei neu­ro­ge­nen Bla­sen- und Darm­funk­ti­ons­stö­run­gen aus: Neben der Ver­mei­dung zusätz­li­cher Kom­pli­ka­tio­nen stei­gert ein adäqua­tes Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment die Lebens­qua­li­tät der Betrof­fe­nen deut­lich 32 33.

Inter­es­sen­kon­flikt

Der Autor ist als Medi­cal Advi­sor bei der Fir­ma Colo­plast GmbH in Ham­burg tätig.

Der Autor:
Uwe Papen­kordt, Urotherapeut
Unte­re Dorf­stra­ße 8a, 34414 Warburg
deupa@coloplast.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

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