Laut Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Gilt das auch für den Strafvollzug? Wird den Bedürfnissen körperlich eingeschränkter Häftlinge Rechnung getragen? Und wie läuft die Versorgung mit orthopädietechnischen Hilfsmitteln ab? Ein Besuch in der JVA Bielefeld-Senne, Deutschlands größter Justizvollzugsanstalt sowie Europas größter offener Anstalt, sowie beim Sanitätshaus Medi-Pharm in Bielefeld-Sennestadt, dessen Mitarbeiter:innen die Insassen der Haftanstalt versorgen.
Ein „kleines Abbild der Gesellschaft“
Außer-Haus-Besuche gehören für Jan Can Bayyurt, Dipl.-Ing. für Orthopädie- und Rehatechnik (IOTR), zum Alltag. Da sind die regelmäßigen Besuche im Gefängnis keine Ausnahme. Die Abläufe haben sich in den mehr als zehn Jahren routiniert. Besteht orthopädietechnischer Behandlungsbedarf, macht sich Bayyurt auf den Weg zur Krankenstation der Anstalt und trifft dort auf alltägliche Probleme. „Ein Gefängnis ist ein kleines Abbild der Gesellschaft“, sagt der 41-Jährige. Dementsprechend müsse auch dort die ganze Bandbreite der Versorgung abgedeckt werden – von Bandagen über Einlagen bis hin zu Prothesen. Insbesondere Kompressionstherapie ist – aufgrund der Drogenabhängigkeit vieler Inhaftierter und damit einhergehender Varizen – vielfach gefordert. Pro Jahr versorgen Bayyurt und seine Kolleg:innen zwischen 50 und 100 Inhaftierte. „Wir sind nie alleine mit den Patient:innen. Es ist immer ein Justizvollzugsbeamter oder jemand vom Pflegedienst dabei“, berichtet er. Im offenen Vollzug gehe er in der Regel entspannt in die Termine, im geschlossenen Vollzug empfinde er die Atmosphäre hingegen oft als sehr beklemmend. „Die Patienten sind hier anders, oft isoliert, drogenabhängig, aggressiv oder auch ausländerfeindlich.“ Auch aus diesem Grund trägt der IOTR kein Namensschild, will mit der Preisgabe seines türkischen Hintergrunds keinen Anlass für Kommentare oder Übergriffe geben. Eine Lehre aus den vergangenen Jahren. Der 41-Jährige erinnert sich an einen Insassen zurück, der von oben bis unten mit rechtsradikalen Motiven tätowiert war. „Er fragte mich nach meinem Namen und brachte dann Sprüche wie ‚Wenn ich draußen wäre…‘“, berichtet Bayyurt. Er sei ruhig geblieben, habe nichts erwidert und weiterhin die Kompressionsstrümpfe gemessen. Völkisches Gedankengut habe auch eine andere Patientin geteilt, die Bayyurt und seine Mutter, gelernte Podologin, gemeinsam behandelten. „Als wir gingen, waren wir beide verstört und haben der JVA deutlich gemacht, dass wir sie nicht mehr weiter versorgen werden“, sagt er. Im Anschluss an die Termine kann Bayyurt immer ein Gespräch mit Ärzten oder Pflegekräften in Anspruch nehmen, sei es, um über medizinische Angelegenheiten wie mögliche ansteckende Krankheiten zu sprechen oder um einen emotional belastenden Besuch aufzuarbeiten. In den beiden genannten Fällen machte er von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Waffen, Drogen, Handys – Schmuggelware ist wohl aus keinem Gefängnis wegzudenken, ebenso wenig einfallsreiche Transportwege. Bayyurt berichtet von einem Patienten, der den Prothesenfuß als Versteck nutzen wollte. Während der Behandlung habe er den Versuch unkommentiert gelassen und weggesehen, im Nachgang aber den Justizvollzugsbeamten Bescheid gegeben. „Wir leben eine offene Kommunikation“, betont der 41-Jährige. „Wenn wir bei der Versorgung scharfe Gegenstände, giftige oder alkoholhaltige Flüssigkeiten wie Desinfektionsmittel oder auch Materialien, die als Filter genutzt werden können, verwenden oder mitgeben wollen, fragen wir im gleichzeitigen Beisein der Patienten und Pfleger nach, ob das mit in die Zelle darf. Die Insassen basteln sich alles Mögliche zusammen.“
Keine Diskussionen über Kosten
Trotz einiger negativer Erfahrungen macht Bayyurt seinen Job sehr gerne. „Es ist abwechslungsreich, die Zusammenarbeit mit der JVA ist unkompliziert und fußt auf viel Vertrauen“, betont er. Ein Vorteil zur Arbeit im Sanitätshaus: keine Angehörigen, die eine Versorgung zum Teil erschweren, und keine Diskussionen über Kosten und Abrechnung: Das erleichtert Bayyurts Alltag. Medi-Pharm versorge die Inhaftierten wie normale Kassenpatient:innen, auch die Kosten seien die gleichen. Der Ablauf gestalte sich in der JVA jedoch unkomplizierter als außerhalb. Welches und warum gerades dieses Bauteil zum Einsatz kommen soll, begründen Bayyurt und seine Kolleg:innen den behandelnden Ärzten schon, Widerstand gebe es bei Standardversorgungen aber selten. Nur bei sehr hohen Kosten, wie sie beispielsweise bei einer Prothesenversorgung anfallen können, werde ein ausführliches Gespräch gesucht. Zudem müsse keine Genehmigung der Krankenkasse abgewartet werden. Für die Kosten der Hilfsmittelversorgung kommt das Land Nordrhein-Westfalen auf.
Große Dankbarkeit
Der Großteil der Inhaftierten ist laut Bayyurt freundlich und vor allem dankbar. Dankbar dafür, dass tatsächlich jemand kommt, der sie betreut. Er weiß, wie sich das Eis schnell brechen lässt: Ein simples „Hi, wie geht’s“ reiche meist aus. „Es ist ähnlich wie beim Friseur“, sagt der 41-Jährige nüchtern, kommt um ein Lächeln aber nicht herum. Smalltalk heiße hier z. B. „Wie war das Essen heute?“ Meist würden die Insassen über das Leben außerhalb der JVA reden und über das, was sie vor ihrem Aufenthalt gemacht haben. Möchte ein Patient oder eine Patientin nicht reden, weiß Bayyurt auch, wann es Zeit ist zu schweigen. Eine Frage, die sich vermutlich vielen aufdrängen würde, ist die, nach dem Warum. Aus welchem Grund die Gefangenen einsitzen, frage er jedoch selten, viele würden das von selbst erzählen – dazu gehöre auch Mord. Lässt Bayyurt das vorsichtig oder unsicher werden? „Nein. Es ist unangebracht in einer Situation, in der jemand medizinische Versorgung benötigt, abweisend zu sein. Wir sind dort, um unsere Arbeit zu machen.“ Er ist überzeugt: „Außerhalb von Gefängnissen gibt es ebenso viele schlechte Menschen, nur sind die nicht erwischt worden.“ Auch im Sanitätshaus habe er es oft mit herausfordernden Patient:innen zu tun, mit psychisch belasteten sowie hin und wieder mit unfreundlichen oder solchen, die stehlen. „Ich versuche den Inhaftierten in den 30 Minuten der Versorgung ein gutes Gefühl zu geben. Warum sollte ich sie bestrafen? Sie sind schon gestraft genug. Und das ist auch nicht meine Aufgabe.“ Ein persönliches Verhältnis zwischen ihm und den Patient:innen entsteht nicht. An viele Fälle habe Bayyurt keine gute Erinnerung mehr. Zum Selbstschutz und weil die Versorgung meist einmalig bleibt. Selten gebe es Reklamationsbedarf und damit Grund für ein erneutes Wiedersehen. Der Großteil der Patient:innen komme von außerhalb und suche sich nach der Entlassung ein Sanitätshaus vor Ort. Erst ein Mal habe ein entlassener Inhaftierter den Weg nach Bielefeld gefunden.
Barrierefrei seit 2006
Feedback erhält Bayyurt aus diesen Gründen selten. Und auch, weil die Inhaftierten in der Regel tatsächlich zufrieden sind. Einer, der das weiß, ist Andreas Jakob. Als Pflegedienstleiter steht er in direktem Kontakt mit den Patient:innen und die würden nicht lang zögern, wenn sie mit der Versorgung unzufrieden wären, berichtet er. Seit 30 Jahren ist er als Krankenpfleger in der JVA tätig, vor rund einem Jahr hat er die Leitung übernommen. „Seit dem Neubau 2006 sind wir barrierefrei“, erzählt der 53-Jährige, während er zu einem Rundgang durch die Räumlichkeiten des Hafthauses Ummeln startet. „Die Inhaftierten sollen in ihrer Selbstständigkeit nicht beeinträchtigt werden.“ Jakob deutet auf die breiten Türrahmen, öffnet die Türen per Knopfdruck und ruft den Fahrstuhl, der ebenfalls nicht nur breit, sondern auch rundherum mit Handläufen ausgestattet ist. Vier Hafträume sind rollstuhlgerecht, so auch der von Berthold H. Das bedeutet: elektrisch verstellbares Krankenbett, direkt angegliedertes Bad mit höhenverstellbarem Toilettensitz sowie eine Notrufanlage, die sich an beiden Stellen befindet. Der Haftraum sowie das angeschlossene Badezimmer sind deutlich größer. Das wird klar, als Jakob die Tür hinter sich schließt und einen anderen Haftraum auf dem Flur öffnet. In dem weitaus kleineren Zimmer hätten Rollstuhlfahrer Schwierigkeiten. Weiter geht es zu den Duschräumen. Der erste ist mit einem ebenerdigen Bereich zum Duschen sowie einer großen Badewanne ausgestattet. Der zweite verfügt über eine Dusche mit Sitzmöglichkeit.
Vier rollstuhlgerechte Hafträume, das klingt nicht viel, erst recht nicht im Vergleich. Insgesamt verfügt das Hafthaus Ummeln über 361 Plätze. „Vier sind mit Blick auf die Anfragen nicht ausreichend“, sagt Jakob, betont aber auch: „Wir sind eine der wenigen Anstalten, die überhaupt Rollstuhlfahrer aufnehmen können. Trotzdem wäre es wünschenswert, wir hätten mehr.“ Sowohl das Hafthaus Ummeln als auch das Hafthaus Senne, das über die größte Seniorenabteilung Deutschlands verfügt, sind barrierefrei gebaut, die 15 Außenstellen der JVA in den Kreisen Bielefeld, Gütersloh, Paderborn und Warendorf hingegen nicht. „Es wäre gut, wenn man auch im Frauenhaus Barrierefreiheit schaffen könnte“, findet Jakob. Aktuell befindet sich dort eine Rollstuhlfahrerin, die – da sie sich noch gut, teils auch mit Gehstütze fortbewegen kann — zurechtkommt. Verstärkung wünscht sich Jakob für das Hafthaus Senne durch eine examinierte Altenpflegerin oder einen Altenpfleger. Im Gegensatz zu NRW sei das in anderen Bundesländern per Gesetz bereits machbar.
„Ich sehe nicht die Haftstrafe“
Laut Jakob schätzen die Insassen die Barrierefreiheit und Versorgung sehr. „Viele kennen das nicht. Für sie ist das hier oft die erste richtige medizinische Versorgung, die sie bekommen.“ In der Regel betreten die Insassen die JVA bereits invalid. Manche würden sich hängen lassen, andere seien sehr motiviert. „Jeder ist selbstbestimmt. Wenn jemand sagt ‚Ich will hier auf zwei Beinen wieder raus gehen‘, dann fangen wir damit an“, so Jakob. Für manche Fälle ist Kreativität gefragt. Jakob erinnert sich an einen Patienten, einen paralympischen Marathonläufer, für den ein Rollstuhl – oder wie er sagt – ein Rennrad auf Rollen zur Verfügung gestellt wurde. Auch mit schweren Schicksalen werden die Krankenpfleger:innen regelmäßig konfrontiert. Ein Mann lebte zuvor auf der Straße. Das Obdachlosenheim kam aufgrund mangelnder Barrierefreiheit für den Beinamputierten nicht infrage. Seine Prothese wurde später gestohlen und weiterverkauft. In der JVA erhält er nun eine neue.
„Ich will nichts anderes machen“, sagt Andreas Jakob über seinen Beruf und Arbeitsort. Nach der Ausbildung zum Krankenpfleger schloss er eine Ausbildung zum Beamten im Allgemeinen Vollzugsdienst an. Seitdem ist sein Arbeitsplatz das Gefängnis. „Es ist sehr vielseitig. Die Patienten kommen mit ganz unterschiedlichen Beschwerden. Die komplette Symptomatik wird abgedeckt. Das macht es so interessant.“ Der tägliche Umgang mit den Inhaftierten, ihren Geschichten, Taten und den Beweggründen ist dafür für ihn normal. Vorbehalte oder Unsicherheiten? Fehlanzeige. „Ich sehe nicht die Haftstrafe, sondern den Patienten und das, was er braucht. Und ich sehe nur das Hier und Jetzt und nicht das Morgen, wenn er entlassen wird.“
Die allgemeinmedizinische Versorgung empfindet Jakob als komfortabler als außerhalb der JVA. Die Patient:innen haben theoretisch die Möglichkeit täglich zum Arzt zu gehen, die Wartezeiten sind kurz, die Medikamentenzuzahlung entfällt. „Wir sind nicht budgetiert. Wenn der Arzt eine Behandlung für erforderlich hält, dann machen wir das auch.“ Gewisse Vorteile haben die Insassen also schon, mit Luxus habe das aber nichts zu tun. „Die Voraussetzungen müssen gegeben sein. Auch für die Behandler, um entsprechend versorgen zu können.“ Der Staat müsse gewährleisten, dass den Insassen die gleichen Bedingungen geboten werden, die sie auch außerhalb der JVA vorfinden. Das bestätigt auch Axel Berger, Pressesprecher der JVA Bielefeld-Senne. „Resozialisierung ist Teil unseres Auftrags und im Strafvollzugsgesetz verankert“, sagt er. „Wenn wir uns nicht ausreichend um die Inhaftierten kümmern, ist die Gefahr höher, dass sie nach der Entlassung erneut straffällig werden.“ Gute medizinische Versorgung sowie ein sicheres Umfeld und ein Arbeitsplatz würden zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren gehören. Aus diesem Grund arbeitet die Anstalt mit dem Sozialdienst zusammen, der versucht, auch nach der Entlassung eine Versorgung zu gewährleisten.
Pia Engelbrecht
Die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne ist eine Anstalt des offenen Vollzugs mit zwei Hafthäusern in Bielefeld-Senne und Bielefeld-Ummeln sowie 15 Außenstellen. 2010 wurde mit der JVA Bielefeld-Brackwede II, seinerzeit ebenfalls offener Vollzug, fusioniert. Gemessen an der Anzahl der Haftplätze – insgesamt 1569 – ist die JVA Bielefeld-Senne die größte Justizvollzugsanstalt Deutschlands sowie größte offene Anstalt Europas. Im Gegensatz zum geschlossenen Vollzug können sich Inhaftierte im offenen Vollzug innerhalb der Räumlichkeiten des Gefängnisses frei bewegen und auch außerhalb einer Arbeit nachgehen. Der offene Vollzug stellt für das Land NRW einen zentralen Eckpfeiler im Hinblick auf Resozialisierung, also die Wiedereingliederung der Inhaftierten in die Gesellschaft, dar. Das Hafthaus Senne verfügt über eine Lebens-älterenabteilung mit 87 Haftplätzen und damit über die größte Seniorenabteilung Deutschlands – die Antwort der JVA auf den demografischen Wandel und die damit einhergehende steigende Anzahl älterer Inhaftierter. Ebenfalls barrierefrei ist das Hafthaus Ummeln gestaltet. Dort sind 361 Haftplätze vorhanden, vier davon sind für Rollstuhlfahrer geeignet.
Dr. Wolfgang Schorn, Pressesprecher der Landesjustizvollzugsdirektion, gibt im Gespräch mit der OT-Redaktion einen Einblick in die Barrierefreiheit nordrhein-westfälischer Justizvollzugsanstalten.
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