Bein­pro­the­se aus Plastik-Müll

Rund 35 Millionen Menschen weltweit benötigen laut der Weltgesundheitsorganisation WHO eine Prothese. Vielen von ihnen ist der Zugang zu einer angemessenen Versorgung aber verwehrt. Die Schweizer Fabian Engel und Simon Oschwald haben sich im Rahmen ihrer Studien-Abschlussarbeit diesem Problem mit einem „frischem Blick von außen“ genähert. Das Resultat dessen heißt „Project Circleg“. Dahinter verbirgt sich die Konstruktion einer Beinprothese aus recyceltem Kunststoff. Diese Prothese verbindet so gut wie alles, was für eine Mobilisierung in Afrika wichtig ist: Geringe Anschaffungskosten, eine Ressource vor Ort und ein technisch „einfaches“ Design, das es den Orthopädietechnikern in den Ländern trotz Basis-Ausstattung ermöglicht, die nötigen Anpassungen an den Prothesen vorzunehmen. Die Umsetzung des Projekts läuft derzeit auf Hochtouren, Prototypen werden bereits in Kenia und Uganda auf die Alltagstauglichkeit getestet. Über den Stand der Dinge beim „Project Circleg“ berichtet Simon Oschwald im Gespräch

OT: Was hat Sie inspi­riert eine Pro­the­se zu designen? 

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Simon Osch­wald: Pro­ject Cir­cleg begann als Bache­lor-Abschluss­pro­jekt des Stu­di­en­gangs Indus­tri­al Design an der Zür­cher Hoch­schu­le der Küns­te. Fabi­an Engel und ich in- ter­es­sier­ten uns sehr für Kunst­stoff­ab­fäl­le und haben uns vor­ge­nom­men, aus die­ser wert­vol­len Res­sour­ce ein sinn­vol­les Pro­dukt zu gestal­ten. Wäh­rend der Recher­che wur- de uns bewusst, dass ein Groß­teil der Kunst­stoff­ab­fäl­le in Ent­wick­lungs­län­dern auf Depo­nien oder in der Natur lan­det, weil es oft kei­ne offi­zi­el­len Recy­cling-Sys­te­me gibt. Also such­ten wir nach einem Pro­dukt im Kon­text von Ent­wick­lungs­län­dern, wel­ches aus recy­cel­ten Kunst­stoff­ab­fäl­len her­ge­stellt wer­den kann und das Leben von Men­schen mög­lichst posi­tiv beein­flusst. Kurz vor Beginn unse­rer Abschluss­ar­beit hat­te Fabi­an das Jai­pur-Foot-Pro­ject in Indi­en besucht, das kos­ten­güns­ti­ge Bein­pro­the­sen her­stellt. Dies war die Inspi­ra­ti­on, diee schluss­end­lich zu der Idee geführt hat, ein kos­ten­güns­ti­ges Bein­pro­the­sen-Sys­tem aus recy­cel­ten Kunst­stoff­ab­fäl­len zu entwickeln.

OT: War­um wur­de es eine Beinprothese? 

Osch­wald: Nicht mehr gehen zu kön­nen hat einen dra­ma­ti­schen Ein­fluss auf den All­tag in allen Lebens­be­rei­chen. Ohne Zugang zu Bein­pro­the­sen sind vie­le bedürf­ti­ge Men­schen auf ihr Zuhau­se beschränkt und leben ein abhän­gi­ges, aus­ge­schlos­se­nes Leben, was den Ein­fl uss der Beein­träch­ti­gung und Behin­de­rung auf die Per­son, die Fami­lie und die Gesell­schaft erhöht. Mit einer erschwing­li­chen, hoch­funk­tio­nel­len und kom­for­ta­blen Lösung will Pro­ject Cir­cleg den Ampu­tier­ten ein gesun­des, pro­duk­ti­ves, unab­hän­gi­ges und men­schen­wür­di­ges Leben ermög­li­chen, das ihnen die Teil­nah­me an Bil­dung, dem Arbeits­markt sowie dem sozia­len Leben ermöglicht.

OT: Wie haben Sie sich das prak­ti­sche Wis­sen angeeignet? 

Osch­wald: Wäh­rend der Bache­lor­ar­beit haben wir eine Recher­che-Rei­se nach Kenia unter­nom­men, mit dem Ziel, die Anfor­de­run­gen und Bedürf­nis­se von Men­schen vor Ort mit einer Bein­am­pu­ta­ti­on ken­nen­zu­ler­nen. Die Er­kenntnisse die­ser Rei­se haben wir anschlie­ßend in die Pro­duktentwicklung inte­griert. Eine der gröss­ten Herausforde­rungen in der Ent­wick­lung der Bein­pro­the­se war für uns die Aneig­nung des benö­tig­ten Wis­sens. Eine Bein­pro­the­se ist aus vie­len Per­spek­ti­ven ein extrem kom­ple­xes Pro­dukt, das wir zuerst ver­ste­hen woll­ten. Des­halb haben wir viel Zeit dafür ver­wen­det, uns mit unter­schied­li­chen Exper­ten im Bereich der Ortho­pä­die-Tech­nik, Bio­me­cha­nik und Ma­terialwissenschaften aus­zu­tau­schen. Zudem haben wir oft mit Men­schen gespro­chen, die tat­säch­lich auch ein Bein ver­lo­ren haben. Die­ser benut­zer­zen­trier­te Ansatz ist einer der wich­tigs­ten Aspek­te in unse­rem Pro­jekt. Unser anfäng­liches Unwis­sen sahen wir als gro­ße Chan­ce, um neue Lö­sungsansätze zu finden.

OT: Wie hat Ihnen das Wis­sen von Ortho­pä­die­tech­ni­kern kon­kret weitergeholfen? 

Osch­wald: Mit Ortho­pä­die­tech­ni­kern haben wir jeweils unse­re Ideen und Kon­zep­te bespro­chen und somit wertvol­les Feed­back über die Mach­bar­keit erfah­ren. Zudem konn­ten wir unser Wis­sen in der Pro­the­tik ver­tie­fen. Der­zeit ar­beiten wir mit zwei Ortho­pä­die­tech­ni­kern zusam­men, bei der Ent­wick­lung unse­rer Pro­to­ty­pen mithelfen.

OT: Wo half Ihnen ihr „fri­scher Blick von außen“? 

Osch­wald: Da für uns die Pro­the­tik zu Beginn des Pro­jek­tes rela­tiv neu war, haben wir vie­le Fra­gen gestellt und uns mit etli­chen Exper­ten der Ortho­pä­die-Tech­nik aus­ge­tauscht. Dabei haben wir uns rela­tiv naiv an die Pro­ble­ma­ti­ken gewagt und gewis­ser­mas­sen mit einem wei­ßen Papier be­gonnen. Die­ser Ansatz hat uns schluss­end­lich auch gehol­fen rela­tiv freie und fri­sche Ideen zu gene­rie­ren, ohne uns an die Schran­ken zu hal­ten, die bereits von der Pro­the­tik vor­ge­ge­ben waren. Natür­lich haben wir unse­re Ideen und Kon­zep­te immer kri­tisch hin­ter­fragt und wie erwähnt mit Exper­ten eva­lu­iert und angepasst.

OT: Wel­che Erkennt­nis­se lie­fer­te der Besuch in Kenia? 

Osch­wald: Wir haben das Pro­jekt im Früh­ling 2018 mit be­sagter Recher­che-Rei­se begon­nen, um die Situa­ti­on vor Ort ken­nen­zu­ler­nen und mit allen Stake­hol­dern unse­rer Visi­on in Kon­takt zu kom­men. Die­se Rei­se hat uns extrem vie­le Erkennt­nis­se in allen Berei­chen gelie­fert. Vor allem haben uns aber die Gesprä­che mit den Anwen­dern von Beinpro­thesensystemen wei­ter­ge­hol­fen. Mit ihnen konn­ten wir die täg­li­chen Her­aus­for­de­run­gen ken­nen­ler­nen und funk­tionale Män­gel der bestehen­den Sys­te­me iden­ti­fi­zie­ren. So haben wir bei­spiels­wei­se fest­ge­stellt, dass die Benut­zung einer in Afri­ka übli­chen Hock­toi­let­te mit bestehen­den Sys­temen fast nicht mög­lich war, da die­se kei­ne Hockpositi­on erlaub­ten. Wir haben bei der Cir­cleg-Bein­pro­the­se da­her ein Knö­chel­ge­lenk ent­wi­ckelt, dass den Toi­let­ten­gang auch mit Pro­the­se ermög­licht. Im letz­ten Som­mer ver­brachten wir fünf Wochen in Ugan­da und haben mit der Deut­schen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (NGO) Pro Ugan­da unse­re aktu­el­len Pro­to­ty­pen wei­ter­ent­wi­ckelt und ge­testet. Wäh­rend die­ser Rei­se konn­ten wir ein umfas­sen­des Netz­werk auf­bau­en und diver­se Spi­ta­le, NGOs, Prothesen­projekte und Pro­duk­ti­ons­fir­men besu­chen. Des­halb ist es für uns sinn­voll, die Markt­ein­füh­rung auch in Ugan­da und Kenia zu starten.

OT: Haben Sie mit Ortho­pä­die­tech­ni­kern vor Ort gesprochen? 

Osch­wald: Natür­lich! Der Aus­tausch mit Orthopädietech­nikern vor Ort zähl­te neben den Gesprä­chen mit den An­wendern zu den wich­tigs­ten. Für uns ist es von zen­tra­ler Bedeu­tung, dass unser Pro­the­sen­sys­tem die Arbeit der Or­thopädietechniker ver­ein­facht und auch den loka­len Be­dingungen, sprich den Werk­stät­ten und Mög­lich­kei­ten vor Ort ange­passt ist.

OT: Wie läuft die Ver­sor­gung in Kenia und Ugan­da eigent­lich kon­kret ab? 

Osch­wald: Wir haben in Kenia und Ugan­da Ortho­pä­die- Tech­nik-Werk­stät­ten besucht und einen ver­tief­ten Ein­blick in die Ver­sor­gung vor Ort erhal­ten. Dabei ist uns auf­gefallen, dass die Qua­li­täts­stan­dards sehr unter­schied­lich sind. Eine gro­ße Her­aus­for­de­rung in vie­len Werk­stät­ten ist die Infra­struk­tur wie Maschi­nen und ange­mes­se­ne Räum­lichkeiten sowie die Ver­füg­bar­keit von Mate­ria­li­en. Die Ver­sor­gung ori­en­tiert sich dem west­li­chen Stan­dard, je­doch besteht an vie­len Orten ein Man­gel an Fach­kräf­ten und zu gerin­ge finan­zi­el­le Mit­tel für eine umfas­sen­de Betreu­ung der Pati­en­ten. Aus die­sen Grün­den wird die Geh- schu­lung, Phy­sio­the­ra­pie und men­ta­le Betreu­en der Pati­en­ten an vie­len Orten ver­nach­läs­sigt, was dra­ma­ti­sche Fol­gen hat. Ein Pati­ent kann sein Poten­ti­al mit einer Bein­pro­the­se nur dann voll aus­schöp­fen, wenn der Umgang mit dem neu­en Pro­dukt trai­niert und ange­eig­net wird. Wenn die­ser Ser­vice nach einer Ampu­ta­ti­on nicht zur Ver­fü­gung steht, schlei­chen sich Fehl­stel­lun­gen und Neben­ef­fek­te ein, die Spät­fol­gen nach sich zie­hen. Uns ist es ein Anlie- gen, neben einem guten Pro­dukt auch eine ange­mes­se­ne Ver­sor­gung aufzubauen.

OT: Wel­che beson­de­ren kul­tu­rel­len oder sozia­len Hür­den gab es für Sie in Afri­ka zu nehmen? 

Osch­wald: Vie­le Men­schen mit einer Behin­de­rung (inklu­si­ve einer Bein­am­pu­ta­ti­on) sind in Kenia und Ugan­da noch immer star­ker Dis­kri­mi­nie­rung und Stig­ma­ti­sie­rung in Form von Gewalt­ta­ten, Miss­brauch, Vor­ur­tei­len und Re- spekt­lo­sig­keit aus­ge­setzt. Dazu kommt, dass sich Behin­de- rung und Armut gegen­sei­tig ver­stär­ken und auf­recht­erhal- ten. Armut erhöht die Wahr­schein­lich­keit von Beein­träch- tigun­gen durch Unter­ernäh­rung, schlech­ter Gesund­heits- ver­sor­gung und gefähr­li­cher Lebens‑, Arbeits- und Rei­se- bedin­gun­gen. Eine Behin­de­rung kann zu einem nied­ri­ge­ren Lebens­stan­dard und Armut füh­ren, da der Zugang zu Bil­dung und Beschäf­ti­gung fehlt und die Aus­ga­ben im Zusam­men- hang mit der Behin­de­rung stei­gen. In Kenia und Ugan­da ist zudem der Aber­glau­be stark ver­brei­tet. So haben wir gehört, dass teil­wei­se auch Men­schen mit einer Beinam- puta­ti­on als ver­fl ucht ange­se­hen und als Fol­ge davon von der Öffent­lich­keit ver­steckt und der Gesell­schaft aus­ge- schlos­sen wur­den. Mit der Cir­cleg-Bein­pro­the­se wol­len wir die Geschich­te anders erzäh­len und auf­zei­gen, dass eine Bein­pro­the­se nicht behin­dert, son­dern befä­higt. Des- halb spielt die Gestal­tung der Pro­the­se für uns auch eine zen­tra­le Rol­le und wir den­ken, dass Design, sprich Funk­tio­na­li­tät, Form und Far­be des Pro­duk­tes, den Unter­schied machen kann!

OT: Plas­tik wird in Afri­ka nicht grund­sätz­lich recy­celt. Wie schaf­fen Sie es trotz­dem auf die­se Res­sour­ce zuzugreifen? 

Osch­wald: Das stimmt nicht ganz. Es gibt zwar in vie­len afri­ka­ni­schen Län­dern kein offi ziel­les Recy­cling-Sys­tem, jedoch immer mehr Unter­neh­men, die die­se Lücke fül­len und das Recy­cling als Geschäfts­mo­dell ent­deckt haben. In Kenia und Ugan­da sind wir bereits mit Unter­neh­men im Kon­takt, die einen zer­ti­fi­zier­ten qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen Recy­cling-Kunst­stoff her­stel­len. Wir möch­ten mit loka­len Part­nern zusam­men­ar­bei­ten. In Kenia ist dies bei­spiels­wei­se das Unter­neh­men Mr. Green Afri­ca. Das Mate­ri­al wird gesam­melt, nach Kunst- stoff­sor­te getrennt und anschlies­send zu Flakes ver­ar­bei­tet. Das Tren­nen der unter­schied­li­chen Kunst­stoff­ty­pen ist ein wich­ti­ger Teil des Rezy­klier­pro­zes­ses und bestimmt schluss­end­lich auch die Qua­li­tät des gene­rier­ten Rezyklats.

OT: Kön­nen Sie sich vor­stel­len Ihr Port­fo­lio um wei­te­re Pro­the­sen zu erweitern? 

Osch­wald: Grund­sätz­lich schon. Der­zeit kon­zen­trie­ren wir uns jedoch ledig­lich auf die Ent­wick­lung einer Bein­pro­the­se. In vie­len Ent­wick­lungs­län­dern, gibt es jedoch auch eine gros­se Nach­fra­ge nach ande­ren kos­ten­güns­ti­gen Mobi­li­täts­hil­fen wie Krü­cken, Roll­stüh­le, Arm­pro­the­sen usw. Das Poten­ti­al für neue Lösun­gen ist auf jeden Fall vorhanden.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

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