OT: Was hat Sie inspiriert eine Prothese zu designen?
Simon Oschwald: Project Circleg begann als Bachelor-Abschlussprojekt des Studiengangs Industrial Design an der Zürcher Hochschule der Künste. Fabian Engel und ich in- teressierten uns sehr für Kunststoffabfälle und haben uns vorgenommen, aus dieser wertvollen Ressource ein sinnvolles Produkt zu gestalten. Während der Recherche wur- de uns bewusst, dass ein Großteil der Kunststoffabfälle in Entwicklungsländern auf Deponien oder in der Natur landet, weil es oft keine offiziellen Recycling-Systeme gibt. Also suchten wir nach einem Produkt im Kontext von Entwicklungsländern, welches aus recycelten Kunststoffabfällen hergestellt werden kann und das Leben von Menschen möglichst positiv beeinflusst. Kurz vor Beginn unserer Abschlussarbeit hatte Fabian das Jaipur-Foot-Project in Indien besucht, das kostengünstige Beinprothesen herstellt. Dies war die Inspiration, diee schlussendlich zu der Idee geführt hat, ein kostengünstiges Beinprothesen-System aus recycelten Kunststoffabfällen zu entwickeln.
OT: Warum wurde es eine Beinprothese?
Oschwald: Nicht mehr gehen zu können hat einen dramatischen Einfluss auf den Alltag in allen Lebensbereichen. Ohne Zugang zu Beinprothesen sind viele bedürftige Menschen auf ihr Zuhause beschränkt und leben ein abhängiges, ausgeschlossenes Leben, was den Einfl uss der Beeinträchtigung und Behinderung auf die Person, die Familie und die Gesellschaft erhöht. Mit einer erschwinglichen, hochfunktionellen und komfortablen Lösung will Project Circleg den Amputierten ein gesundes, produktives, unabhängiges und menschenwürdiges Leben ermöglichen, das ihnen die Teilnahme an Bildung, dem Arbeitsmarkt sowie dem sozialen Leben ermöglicht.
OT: Wie haben Sie sich das praktische Wissen angeeignet?
Oschwald: Während der Bachelorarbeit haben wir eine Recherche-Reise nach Kenia unternommen, mit dem Ziel, die Anforderungen und Bedürfnisse von Menschen vor Ort mit einer Beinamputation kennenzulernen. Die Erkenntnisse dieser Reise haben wir anschließend in die Produktentwicklung integriert. Eine der grössten Herausforderungen in der Entwicklung der Beinprothese war für uns die Aneignung des benötigten Wissens. Eine Beinprothese ist aus vielen Perspektiven ein extrem komplexes Produkt, das wir zuerst verstehen wollten. Deshalb haben wir viel Zeit dafür verwendet, uns mit unterschiedlichen Experten im Bereich der Orthopädie-Technik, Biomechanik und Materialwissenschaften auszutauschen. Zudem haben wir oft mit Menschen gesprochen, die tatsächlich auch ein Bein verloren haben. Dieser benutzerzentrierte Ansatz ist einer der wichtigsten Aspekte in unserem Projekt. Unser anfängliches Unwissen sahen wir als große Chance, um neue Lösungsansätze zu finden.
OT: Wie hat Ihnen das Wissen von Orthopädietechnikern konkret weitergeholfen?
Oschwald: Mit Orthopädietechnikern haben wir jeweils unsere Ideen und Konzepte besprochen und somit wertvolles Feedback über die Machbarkeit erfahren. Zudem konnten wir unser Wissen in der Prothetik vertiefen. Derzeit arbeiten wir mit zwei Orthopädietechnikern zusammen, bei der Entwicklung unserer Prototypen mithelfen.
OT: Wo half Ihnen ihr „frischer Blick von außen“?
Oschwald: Da für uns die Prothetik zu Beginn des Projektes relativ neu war, haben wir viele Fragen gestellt und uns mit etlichen Experten der Orthopädie-Technik ausgetauscht. Dabei haben wir uns relativ naiv an die Problematiken gewagt und gewissermassen mit einem weißen Papier begonnen. Dieser Ansatz hat uns schlussendlich auch geholfen relativ freie und frische Ideen zu generieren, ohne uns an die Schranken zu halten, die bereits von der Prothetik vorgegeben waren. Natürlich haben wir unsere Ideen und Konzepte immer kritisch hinterfragt und wie erwähnt mit Experten evaluiert und angepasst.
OT: Welche Erkenntnisse lieferte der Besuch in Kenia?
Oschwald: Wir haben das Projekt im Frühling 2018 mit besagter Recherche-Reise begonnen, um die Situation vor Ort kennenzulernen und mit allen Stakeholdern unserer Vision in Kontakt zu kommen. Diese Reise hat uns extrem viele Erkenntnisse in allen Bereichen geliefert. Vor allem haben uns aber die Gespräche mit den Anwendern von Beinprothesensystemen weitergeholfen. Mit ihnen konnten wir die täglichen Herausforderungen kennenlernen und funktionale Mängel der bestehenden Systeme identifizieren. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass die Benutzung einer in Afrika üblichen Hocktoilette mit bestehenden Systemen fast nicht möglich war, da diese keine Hockposition erlaubten. Wir haben bei der Circleg-Beinprothese daher ein Knöchelgelenk entwickelt, dass den Toilettengang auch mit Prothese ermöglicht. Im letzten Sommer verbrachten wir fünf Wochen in Uganda und haben mit der Deutschen Nichtregierungsorganisation (NGO) Pro Uganda unsere aktuellen Prototypen weiterentwickelt und getestet. Während dieser Reise konnten wir ein umfassendes Netzwerk aufbauen und diverse Spitale, NGOs, Prothesenprojekte und Produktionsfirmen besuchen. Deshalb ist es für uns sinnvoll, die Markteinführung auch in Uganda und Kenia zu starten.
OT: Haben Sie mit Orthopädietechnikern vor Ort gesprochen?
Oschwald: Natürlich! Der Austausch mit Orthopädietechnikern vor Ort zählte neben den Gesprächen mit den Anwendern zu den wichtigsten. Für uns ist es von zentraler Bedeutung, dass unser Prothesensystem die Arbeit der Orthopädietechniker vereinfacht und auch den lokalen Bedingungen, sprich den Werkstätten und Möglichkeiten vor Ort angepasst ist.
OT: Wie läuft die Versorgung in Kenia und Uganda eigentlich konkret ab?
Oschwald: Wir haben in Kenia und Uganda Orthopädie- Technik-Werkstätten besucht und einen vertieften Einblick in die Versorgung vor Ort erhalten. Dabei ist uns aufgefallen, dass die Qualitätsstandards sehr unterschiedlich sind. Eine große Herausforderung in vielen Werkstätten ist die Infrastruktur wie Maschinen und angemessene Räumlichkeiten sowie die Verfügbarkeit von Materialien. Die Versorgung orientiert sich dem westlichen Standard, jedoch besteht an vielen Orten ein Mangel an Fachkräften und zu geringe finanzielle Mittel für eine umfassende Betreuung der Patienten. Aus diesen Gründen wird die Geh- schulung, Physiotherapie und mentale Betreuen der Patienten an vielen Orten vernachlässigt, was dramatische Folgen hat. Ein Patient kann sein Potential mit einer Beinprothese nur dann voll ausschöpfen, wenn der Umgang mit dem neuen Produkt trainiert und angeeignet wird. Wenn dieser Service nach einer Amputation nicht zur Verfügung steht, schleichen sich Fehlstellungen und Nebeneffekte ein, die Spätfolgen nach sich ziehen. Uns ist es ein Anlie- gen, neben einem guten Produkt auch eine angemessene Versorgung aufzubauen.
OT: Welche besonderen kulturellen oder sozialen Hürden gab es für Sie in Afrika zu nehmen?
Oschwald: Viele Menschen mit einer Behinderung (inklusive einer Beinamputation) sind in Kenia und Uganda noch immer starker Diskriminierung und Stigmatisierung in Form von Gewalttaten, Missbrauch, Vorurteilen und Re- spektlosigkeit ausgesetzt. Dazu kommt, dass sich Behinde- rung und Armut gegenseitig verstärken und aufrechterhal- ten. Armut erhöht die Wahrscheinlichkeit von Beeinträch- tigungen durch Unterernährung, schlechter Gesundheits- versorgung und gefährlicher Lebens‑, Arbeits- und Reise- bedingungen. Eine Behinderung kann zu einem niedrigeren Lebensstandard und Armut führen, da der Zugang zu Bildung und Beschäftigung fehlt und die Ausgaben im Zusammen- hang mit der Behinderung steigen. In Kenia und Uganda ist zudem der Aberglaube stark verbreitet. So haben wir gehört, dass teilweise auch Menschen mit einer Beinam- putation als verfl ucht angesehen und als Folge davon von der Öffentlichkeit versteckt und der Gesellschaft ausge- schlossen wurden. Mit der Circleg-Beinprothese wollen wir die Geschichte anders erzählen und aufzeigen, dass eine Beinprothese nicht behindert, sondern befähigt. Des- halb spielt die Gestaltung der Prothese für uns auch eine zentrale Rolle und wir denken, dass Design, sprich Funktionalität, Form und Farbe des Produktes, den Unterschied machen kann!
OT: Plastik wird in Afrika nicht grundsätzlich recycelt. Wie schaffen Sie es trotzdem auf diese Ressource zuzugreifen?
Oschwald: Das stimmt nicht ganz. Es gibt zwar in vielen afrikanischen Ländern kein offi zielles Recycling-System, jedoch immer mehr Unternehmen, die diese Lücke füllen und das Recycling als Geschäftsmodell entdeckt haben. In Kenia und Uganda sind wir bereits mit Unternehmen im Kontakt, die einen zertifizierten qualitativ hochwertigen Recycling-Kunststoff herstellen. Wir möchten mit lokalen Partnern zusammenarbeiten. In Kenia ist dies beispielsweise das Unternehmen Mr. Green Africa. Das Material wird gesammelt, nach Kunst- stoffsorte getrennt und anschliessend zu Flakes verarbeitet. Das Trennen der unterschiedlichen Kunststofftypen ist ein wichtiger Teil des Rezyklierprozesses und bestimmt schlussendlich auch die Qualität des generierten Rezyklats.
OT: Können Sie sich vorstellen Ihr Portfolio um weitere Prothesen zu erweitern?
Oschwald: Grundsätzlich schon. Derzeit konzentrieren wir uns jedoch lediglich auf die Entwicklung einer Beinprothese. In vielen Entwicklungsländern, gibt es jedoch auch eine grosse Nachfrage nach anderen kostengünstigen Mobilitätshilfen wie Krücken, Rollstühle, Armprothesen usw. Das Potential für neue Lösungen ist auf jeden Fall vorhanden.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.