Auf der Suche nach dem „per­fek­ten“ Material

Digitalisierung und MDR waren vor der Corona-Pandemie im Jahr 2020 die Schlagworte der Branche. Wie sieht es aber im Bereich der Materialentwicklung aus? Im Gespräch mit der OT wirft der Orthopädietechniker-Meister (OTM) Tino Hartmann von Ottobock einen Blick auf die Gegenwart, aber auch auf die Zukunft rund um Materialfragen.
Bei­spiels­wei­se wird der Fra­ge nach­ge­gan­gen, inwie­fern der 3D-Druck die Ortho­pä­die­tech­nik hier­zu­lan­de ver­än­dert. Aber auch dar­über hin­aus – und zwar in Rich­tung Afri­ka und die dor­ti­ge Ver­sor­gungs­rea­li­tät – wird der Blick gerich­tet. OTM Tino Hart­mann war nach sei­ner Aus­bil­dung zunächst in der Pati­en­ten­ver­sor­gung tätig, hat zeit­gleich aber bei der Pro­dukt­ent­wick­lung unter­stüt­zend mit­ge­wirkt. Sein Weg führ­te ihn letzt­lich in den Bereich Academy/Schulung des Duder­städ­ter Medi­zin­pro­dukte­her­stel­lers, wo er noch heu­te tätig ist.
OT: Wenn Sie ein neu­es Pro­dukt ent­wi­ckeln, wie gehen Sie bei der Suche nach dem rich­ti­gen Mate­ri­al vor?
Tino Hart­mann: Bei der Suche nach dem jeweils geeig­ne­ten Mate­ri­al kön­nen wir zunächst auf vie­le Erfah­rungs­wer­te aus der Ver­gan­gen­heit zurück­grei­fen. Häu­fig muss man das Rad nicht neu erfin­den, son­dern kann Kom­bi­na­tio­nen aus bereits bestehen­den Pro­duk­ten ver­wen­den. Aller­dings: Wenn die Ver­sor­gung sich ver­än­dert, dann ver­än­dern sich auch die Ansprü­che ans Mate­ri­al. Häu­fig wird die­ser Bedarf dann durch den per­sön­li­chen Aus­tausch zwi­schen uns und den Kun­den ermittelt.
OT: Wel­che recht­li­chen Anfor­de­run­gen müs­sen die Mate­ria­li­en erfül­len? Hart­mann: Die Anfor­de­run­gen an unse­re Pro­duk­te rich­ten sich nach den Bestim­mun­gen der Län­der, in denen sie ver­trie­ben wer­den. Euro­pa ist, was die gesetz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen angeht, sehr fort­schritt­lich. Das Mate­ri­al muss bei­spiels­wei­se für den Tech­ni­ker, der es ver­ar­bei­tet, eben­so sicher sein wie für den Pati­en­ten, der es spä­ter täg­lich nutzt. Dies­be­züg­lich ist Euro­pa ein Vor­rei­ter; mei­ner Erfah­rung nach sind ande­re Län­der in die­sem Punkt noch nicht so weit. Das hängt natür­lich auch mit der finan­zi­el­len Situa­ti­on in man­chen Regio­nen zusam­men. Der Wunsch nach einem kos­ten­güns­ti­gen Pro­dukt ist weit ver­brei­tet – und lässt den einen oder ande­ren krea­tiv wer­den. In die­sem Punkt unter­schei­den sich Ortho­pä­die­tech­ni­ker nicht von Ein­zel­han­dels­kun­den, die Preis­ver­glei­che anstel­len. Es gibt sicher­lich ortho­pä­die­tech­ni­sche Mate­ria­li­en beim Dis­coun­ter oder im Super­markt zu kau­fen, die ähn­li­ches zu einem güns­ti­gen Preis bie­ten. Aller­dings hat man dann kein siche­res und vor allem zuge­las­se­nes Medi­zin­pro­dukt mehr.

OT: Wie sieht es beim The­ma Pati­en­ten­si­cher­heit aus?

Hart­mann: Das Wohl der Pati­en­ten steht natür­lich an ers­ter Stel­le. Des­halb wer­den die Pro­duk­te im Vor­feld auf ihre Sicher­heit für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten geprüft. Wir haben ein eige­nes Labor, in dem Tests mit den ein­zel­nen Mate­ria­li­en durch­ge­führt wer­den. Weil es sich um Medi­zin­pro­duk­te han­delt, müs­sen unse­re Pro­duk­te höhe­re Anfor­de­run­gen – bei­spiels­wei­se was die Haut­ver­träg­lich­keit angeht – erfül­len als ein T‑Shirt oder ein Hemd im Kaufhaus.

OT: Gibt es auch exter­ne Prüfungen?

Hart­mann: Neben dem eige­nen Labor wer­den die Mate­ria­li­en bei­spiels­wei­se vom Fraun­ho­fer-Insti­tut oder vom Insti­tut Fre­se­ni­us geprüft, um auch von unab­hän­gi­gen Exper­ten die Bestä­ti­gung für die Sicher­heit unse­rer Pro­duk­te zu erhal­ten. OT: Wie tes­ten Sie Ihre Pro­duk­te auf All­tags­taug­lich­keit? Hart­mann: Zunächst wer­den die ein­zel­nen Bau­tei­le und dann das gesam­te Pro­dukt getes­tet. Für die End­pro­duk­te ver­fü­gen wir über Maschi­nen, die bei­spiels­wei­se einen Gang­zy­klus des Men­schen sehr gut imi­tie­ren kön­nen. Die­se Maschi­nen sind sogar so gut, dass ein gro­ßer Her­stel­ler von Sport­schu­hen sei­ne Pro­duk­te damit tes­ten lässt, weil die bei ihm ver­wen­de­ten Metho­den den natür­li­chen Gang nicht abbil­den kön­nen. Aber erst wenn unse­re Pro­duk­te rund drei Mil­lio­nen Zyklen durch­lau­fen haben, kom­men sie in den Feldtest.

OT: Inwie­fern unter­schei­den sich die Mate­ri­al­fin­dungs­pro­zes­se für ver­schie­de­ne Pro­duk­te wie Pro­the­sen oder Orthesen?

Hart­mann: Es gibt einen aktu­el­len Bedarf an Mate­ria­li­en und es gibt eine aktu­el­le Ver­sor­gungs­tech­nik. Letzt­ge­nann­te ändert sich im Lau­fe der Zeit. Unmit­tel­bar nach dem Zwei­ten Welt­krieg waren die haupt­ur­säch­li­chen Grün­de für eine Ver­sor­gung die durch einen Bom­ben­ein­schlag, einen Ein­schuss oder eine Gra­na­te ver­ur­sach­ten Trau­ma­ta. Heu­te sind es dage­gen vor­wie­gend Wohl­stands­krank­hei­ten in west­li­chen Län­dern, etwa Dia­be­tes. Dem­entspre­chend ändern sich die Ver­sor­gungs­tech­ni­ken. Logi­scher­wei­se passt man die Mate­ria­li­en der Hilfs­mit­tel den neu­en Gege­ben­hei­ten an. Das Mate­ri­al muss die gesetz­li­chen Anfor­de­run­gen erfül­len und sicher sowie bes­ten­falls ein­fach zu ver­ar­bei­ten sein.

OT: Bei wel­chem Werk­stoff sehen Sie in der Zukunft das größ­te Poten­zi­al? Warum?

Hart­mann: Momen­tan ist es sehr schwer, eine Ant­wort auf die­se Fra­ge zu geben. 3D-Druck und 3D-Scan beherr­schen in der Ver­sor­gung zwar der­zeit die Schlag­zei­len, aller­dings sind die dabei ver­wen­de­ten Mate­ria­li­en aus mei­ner Sicht der­zeit noch nicht so weit. Aber in Zukunft sehe ich hier defi­ni­tiv ein gro­ßes Poten­zi­al. Ob man den 3D-Druck mit den jet­zi­gen Car­bon­fa­ser­ma­te­ria­li­en und ver­schie­de­nen Ther­mo­plas­ten oder Har­zen so kom­bi­nie­ren kann, dass man die­se Pro­duk­te eben­falls dru­cken kann? Sol­che Ver­fah­ren ste­cken noch in den Kin­der­schu­hen. Die tech­ni­schen Gerä­te zu erwer­ben und in die­sem Bereich Erfah­run­gen zu sam­meln ist sehr kost­spie­lig, aber wenn man nicht am Ball bleibt, ver­schwin­det man vom Markt. Dann über­nimmt die­ses Feld viel­leicht jemand ande­res, der nicht unbe­dingt aus der Bran­che stammt. Aktu­ell kann man bereits eine sol­che Ent­wick­lung beob­ach­ten – bei Markt­teil­neh­mern, die sich mit 3D-Druck beschäf­ti­gen und ihr Know-how in die Ortho­pä­die-Tech­nik ein­flie­ßen lassen.

OT: Wie wür­den Sie die Ände­rungs­zy­klen von Mate­ria­li­en in der Ortho­pä­die-Tech­nik beschreiben?

Hart­mann: Car­bon ist seit 30 Jah­ren bei uns „Sta­te of the Art“, in ande­ren Indus­trien noch län­ger. Wie lan­ge es Car­bon bei uns noch gibt – viel­leicht 30 Jah­re, viel­leicht auch weni­ger –, das ist schwer zu beantworten.

OT: Ent­ste­hen durch das Zusam­men­spiel von Tech­nik und Mate­ri­al neue Mög­lich­kei­ten, zum Bei­spiel beim 3D-Druck?

Hart­mann: Aus mei­ner beruf­li­chen Sicht sage ich zum jet­zi­gen Zeit­punkt ganz klar, dass der Stand beim 3D-Scan und beim 3D-Druck noch nicht zufrie­den­stel­lend ist, weil ich den­ke, dass man ohne Berufs­er­fah­rung nichts damit anfan­gen kann. Jeder kann eine App instal­lie­ren und eine Kame­ra ans Smart­phone anste­cken. Aber nur mit einem Klick auf den Aus­lö­ser gibt es noch kein pass­ge­nau­es Hilfs­mit­tel – es gibt zu vie­le Schrit­te dazwi­schen. Wenn ich ein 3D-Modell von einem Kör­per erstel­le, dann muss ich wis­sen: „Wo muss kom­pri­miert wer­den?“, oder: „Wie ist die Ana­to­mie des Kör­pers?“ – und das kann nur ein Tech­ni­ker, der über die ent­spre­chen­den Kennt­nis­se ver­fügt. Um neue Mög­lich­kei­ten zu erschlie­ßen ist also das ent­spre­chen­de Know-how im Umgang mit Tech­nik und Mate­ri­al von gro­ßer Relevanz.

OT: Wann wird 3D-Druck flä­chen­de­ckend eingesetzt?

Hart­mann: Wenn die Dru­cker preis­lich attrak­tiv sind, wenn die Soft­ware gut erar­bei­tet und erschwing­lich ist – dann sind die Gege­ben­hei­ten dafür gut.

OT: Wel­chen Ein­fluss hat die Digi­ta­li­sie­rung auf die Materialauswahl?

Hart­mann: Die Digi­ta­li­sie­rung ver­ein­facht die Aus­wahl der Mate­ria­li­en, wür­de ich sagen. Zusätz­lich wer­den die Arbeits­pro­zes­se schnel­ler und wirtschaftlicher.

OT: Wie sieht es mit der Wirt­schaft­lich­keit aus?

Hart­mann: Natür­lich muss die Digi­ta­li­sie­rung wirt­schaft­lich sein, und wenn man noch einen Schritt wei­ter in die Zukunft geht, auch umwelt­ver­träg­lich und bio­lo­gisch abbau­bar. Dies schrei­ben sich vie­le auf die Fah­nen, die Pro­duk­te sind es aber defi­ni­tiv nicht.

OT: Wie wer­den Sie dem The­ma Nach­hal­tig­keit gerecht?

Hart­mann: Was aktu­ell in der Pro­duk­ti­on an Ver­schnitt anfällt, kann dem Pro­duk­ti­ons­pro­zess zum größ­ten Teil wie­der zuge­führt oder recy­celt wer­den. Auch bei den neue­ren Her­stel­lungs­pro­zes­sen wie zum Bei­spiel dem 3D-Druck funk­tio­niert der Wert­stoff­kreis­lauf. Anders ver­hält es sich aber, wenn die Pro­duk­te beim Pati­en­ten sind: Wenn die­ser ver­stirbt, bleibt das Hilfs­mit­tel zurück. Es gibt der­zeit kein Pfand­sys­tem wie bei Fla­schen, die man beim Super­markt in den Auto­ma­ten ste­cken kann. Die Ideen zu einem sol­chen Sys­tem sind zwar durch­aus vor­han­den, die Prak­ti­ka­bi­li­tät ist aber der­zeit noch nicht gege­ben. Denn ein Hilfs­mit­tel besteht aus vie­len Ein­zel­kom­po­nen­ten; die­se wie­der von­ein­an­der zu tren­nen, gar zu recy­celn – das ist nicht wirt­schaft­lich, es ist auch nicht umwelt­freund­lich. Wenn wir ver­pflich­tet wären, jedes Hilfs­mit­tel zurück­zu­neh­men, wür­de allein der Trans­port bei den, ver­gli­chen mit ande­ren Bran­chen, gerin­gen Stück­zah­len unse­ren grü­nen Fuß­ab­druck nach­hal­tig schä­di­gen. Es gibt in die­sem Punkt aktu­ell noch kei­ne Lösung, aber es muss in die­sem Bereich etwas passieren.

OT: Inwie­fern unter­schei­den sich die Mate­ri­al­an­for­de­run­gen im inter­na­tio­na­len Vergleich?

Hart­mann: Das ist ein schwie­ri­ges The­ma. Es gibt Pro­duk­te, die in eini­gen Märk­ten gar nicht ver­kauft wer­den kön­nen, weil es zum Bei­spiel zu teu­er ist, ein gekühl­tes Mate­ri­al dort­hin zu lie­fern. In die­sem Fall sucht man einen loka­len Anbie­ter, der das Glei­che in glei­cher Qua­li­tät anbie­tet. Die­se Pra­xis ist ver­gleich­bar mit den gro­ßen Limo­na­den­her­stel­lern: Die­se ver­su­chen, ihr Getränk über­all gleich schme­cken zu las­sen, doch es schmeckt in jedem Land etwas anders.

OT: Wie sieht die Ver­sor­gung zum Bei­spiel in Afri­ka aus?

Hart­mann: Dort ist das kom­plet­te Spek­trum von High­tech- Ver­sor­gung bis nicht ein­mal eine Basis­ver­sor­gung zu fin­den, um es vor­weg­zu­neh­men. In die­sem Zusam­men­hang ist vor allem das Rote Kreuz ein Vor­rei­ter, das eine Basis­ver­sor­gung vor­nimmt, also güns­tig und schnell ver­sorgt. Dabei wer­den haupt­säch­lich Ther­mo­plas­te ver­ar­bei­tet. Dort wür­de nie­mand ver­su­chen, mit einem 3D-Dru­cker einen Schaft her­zu­stel­len. Das funk­tio­niert weder wirt­schaft­lich noch tech­nisch. In Afri­ka kann man sogar Märk­te für gebrauch­te Hilfs­mit­tel sehen. Da sitzt dann jemand an der Stra­ße, der eine Pro­the­se für ein rech­tes Bein an eine Per­son mit einer links­sei­ti­gen Ampu­ta­ti­on ver­kauft, die 30 Zen­ti­me­ter grö­ßer ist als der ursprüng­li­che Pati­ent – ganz gleich, ob es funk­tio­niert oder nicht.

OT: Inwie­fern unter­schei­den sich die Anfor­de­run­gen von Spit­zen­sport­lern von denen „nor­ma­ler“ Patienten?

Hart­mann: Im Prin­zip unter­schei­det sich der Spit­zen­sport­ler nicht von einem „nor­ma­len“ Pati­en­ten – jeder möch­te die bes­te Ver­sor­gung bekom­men, egal, ob jemand zu Hau­se den Weg vom Bett zur Toi­let­te und in die Küche bewäl­ti­gen will oder 10, 20 Kilo­me­ter am Tag läuft. Alle haben den Anspruch, den All­tag best­mög­lich zu bewäl­ti­gen. Was sich bei der Ver­sor­gung eines Sport­lers anders gestal­tet, ist die Wett­kampf­si­tua­ti­on. Da kommt psy­chi­scher Stress ins Spiel, und dann hat man als Ver­sor­ger eine ande­re Art von Arbeit zu leis­ten. Das Hilfs­mit­tel, also die Hand­ar­beit, die man dort inves­tiert, unter­schei­det sich jedoch nicht von einer All­tags­pro­the­se. Ich plä­die­re sogar dafür, dass man die Ver­sor­gung so ein­fach wie mög­lich gestal­ten soll­te, damit man in einer Wett­kampf­si­tua­ti­on auch kurz­fris­tig hel­fen kann. Wenn eine Ein­zel­an­fer­ti­gung vor­liegt und zwei Stun­den vor dem Wett­kampf ein Defekt pas­siert, dann kann ich meis­tens nicht helfen.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

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