OT: Wie sieht es beim Thema Patientensicherheit aus?
Hartmann: Das Wohl der Patienten steht natürlich an erster Stelle. Deshalb werden die Produkte im Vorfeld auf ihre Sicherheit für die Patientinnen und Patienten geprüft. Wir haben ein eigenes Labor, in dem Tests mit den einzelnen Materialien durchgeführt werden. Weil es sich um Medizinprodukte handelt, müssen unsere Produkte höhere Anforderungen – beispielsweise was die Hautverträglichkeit angeht – erfüllen als ein T‑Shirt oder ein Hemd im Kaufhaus.
OT: Gibt es auch externe Prüfungen?
Hartmann: Neben dem eigenen Labor werden die Materialien beispielsweise vom Fraunhofer-Institut oder vom Institut Fresenius geprüft, um auch von unabhängigen Experten die Bestätigung für die Sicherheit unserer Produkte zu erhalten. OT: Wie testen Sie Ihre Produkte auf Alltagstauglichkeit? Hartmann: Zunächst werden die einzelnen Bauteile und dann das gesamte Produkt getestet. Für die Endprodukte verfügen wir über Maschinen, die beispielsweise einen Gangzyklus des Menschen sehr gut imitieren können. Diese Maschinen sind sogar so gut, dass ein großer Hersteller von Sportschuhen seine Produkte damit testen lässt, weil die bei ihm verwendeten Methoden den natürlichen Gang nicht abbilden können. Aber erst wenn unsere Produkte rund drei Millionen Zyklen durchlaufen haben, kommen sie in den Feldtest.
OT: Inwiefern unterscheiden sich die Materialfindungsprozesse für verschiedene Produkte wie Prothesen oder Orthesen?
Hartmann: Es gibt einen aktuellen Bedarf an Materialien und es gibt eine aktuelle Versorgungstechnik. Letztgenannte ändert sich im Laufe der Zeit. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die hauptursächlichen Gründe für eine Versorgung die durch einen Bombeneinschlag, einen Einschuss oder eine Granate verursachten Traumata. Heute sind es dagegen vorwiegend Wohlstandskrankheiten in westlichen Ländern, etwa Diabetes. Dementsprechend ändern sich die Versorgungstechniken. Logischerweise passt man die Materialien der Hilfsmittel den neuen Gegebenheiten an. Das Material muss die gesetzlichen Anforderungen erfüllen und sicher sowie bestenfalls einfach zu verarbeiten sein.
OT: Bei welchem Werkstoff sehen Sie in der Zukunft das größte Potenzial? Warum?
Hartmann: Momentan ist es sehr schwer, eine Antwort auf diese Frage zu geben. 3D-Druck und 3D-Scan beherrschen in der Versorgung zwar derzeit die Schlagzeilen, allerdings sind die dabei verwendeten Materialien aus meiner Sicht derzeit noch nicht so weit. Aber in Zukunft sehe ich hier definitiv ein großes Potenzial. Ob man den 3D-Druck mit den jetzigen Carbonfasermaterialien und verschiedenen Thermoplasten oder Harzen so kombinieren kann, dass man diese Produkte ebenfalls drucken kann? Solche Verfahren stecken noch in den Kinderschuhen. Die technischen Geräte zu erwerben und in diesem Bereich Erfahrungen zu sammeln ist sehr kostspielig, aber wenn man nicht am Ball bleibt, verschwindet man vom Markt. Dann übernimmt dieses Feld vielleicht jemand anderes, der nicht unbedingt aus der Branche stammt. Aktuell kann man bereits eine solche Entwicklung beobachten – bei Marktteilnehmern, die sich mit 3D-Druck beschäftigen und ihr Know-how in die Orthopädie-Technik einfließen lassen.
OT: Wie würden Sie die Änderungszyklen von Materialien in der Orthopädie-Technik beschreiben?
Hartmann: Carbon ist seit 30 Jahren bei uns „State of the Art“, in anderen Industrien noch länger. Wie lange es Carbon bei uns noch gibt – vielleicht 30 Jahre, vielleicht auch weniger –, das ist schwer zu beantworten.
OT: Entstehen durch das Zusammenspiel von Technik und Material neue Möglichkeiten, zum Beispiel beim 3D-Druck?
Hartmann: Aus meiner beruflichen Sicht sage ich zum jetzigen Zeitpunkt ganz klar, dass der Stand beim 3D-Scan und beim 3D-Druck noch nicht zufriedenstellend ist, weil ich denke, dass man ohne Berufserfahrung nichts damit anfangen kann. Jeder kann eine App installieren und eine Kamera ans Smartphone anstecken. Aber nur mit einem Klick auf den Auslöser gibt es noch kein passgenaues Hilfsmittel – es gibt zu viele Schritte dazwischen. Wenn ich ein 3D-Modell von einem Körper erstelle, dann muss ich wissen: „Wo muss komprimiert werden?“, oder: „Wie ist die Anatomie des Körpers?“ – und das kann nur ein Techniker, der über die entsprechenden Kenntnisse verfügt. Um neue Möglichkeiten zu erschließen ist also das entsprechende Know-how im Umgang mit Technik und Material von großer Relevanz.
OT: Wann wird 3D-Druck flächendeckend eingesetzt?
Hartmann: Wenn die Drucker preislich attraktiv sind, wenn die Software gut erarbeitet und erschwinglich ist – dann sind die Gegebenheiten dafür gut.
OT: Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Materialauswahl?
Hartmann: Die Digitalisierung vereinfacht die Auswahl der Materialien, würde ich sagen. Zusätzlich werden die Arbeitsprozesse schneller und wirtschaftlicher.
OT: Wie sieht es mit der Wirtschaftlichkeit aus?
Hartmann: Natürlich muss die Digitalisierung wirtschaftlich sein, und wenn man noch einen Schritt weiter in die Zukunft geht, auch umweltverträglich und biologisch abbaubar. Dies schreiben sich viele auf die Fahnen, die Produkte sind es aber definitiv nicht.
OT: Wie werden Sie dem Thema Nachhaltigkeit gerecht?
Hartmann: Was aktuell in der Produktion an Verschnitt anfällt, kann dem Produktionsprozess zum größten Teil wieder zugeführt oder recycelt werden. Auch bei den neueren Herstellungsprozessen wie zum Beispiel dem 3D-Druck funktioniert der Wertstoffkreislauf. Anders verhält es sich aber, wenn die Produkte beim Patienten sind: Wenn dieser verstirbt, bleibt das Hilfsmittel zurück. Es gibt derzeit kein Pfandsystem wie bei Flaschen, die man beim Supermarkt in den Automaten stecken kann. Die Ideen zu einem solchen System sind zwar durchaus vorhanden, die Praktikabilität ist aber derzeit noch nicht gegeben. Denn ein Hilfsmittel besteht aus vielen Einzelkomponenten; diese wieder voneinander zu trennen, gar zu recyceln – das ist nicht wirtschaftlich, es ist auch nicht umweltfreundlich. Wenn wir verpflichtet wären, jedes Hilfsmittel zurückzunehmen, würde allein der Transport bei den, verglichen mit anderen Branchen, geringen Stückzahlen unseren grünen Fußabdruck nachhaltig schädigen. Es gibt in diesem Punkt aktuell noch keine Lösung, aber es muss in diesem Bereich etwas passieren.
OT: Inwiefern unterscheiden sich die Materialanforderungen im internationalen Vergleich?
Hartmann: Das ist ein schwieriges Thema. Es gibt Produkte, die in einigen Märkten gar nicht verkauft werden können, weil es zum Beispiel zu teuer ist, ein gekühltes Material dorthin zu liefern. In diesem Fall sucht man einen lokalen Anbieter, der das Gleiche in gleicher Qualität anbietet. Diese Praxis ist vergleichbar mit den großen Limonadenherstellern: Diese versuchen, ihr Getränk überall gleich schmecken zu lassen, doch es schmeckt in jedem Land etwas anders.
OT: Wie sieht die Versorgung zum Beispiel in Afrika aus?
Hartmann: Dort ist das komplette Spektrum von Hightech- Versorgung bis nicht einmal eine Basisversorgung zu finden, um es vorwegzunehmen. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Rote Kreuz ein Vorreiter, das eine Basisversorgung vornimmt, also günstig und schnell versorgt. Dabei werden hauptsächlich Thermoplaste verarbeitet. Dort würde niemand versuchen, mit einem 3D-Drucker einen Schaft herzustellen. Das funktioniert weder wirtschaftlich noch technisch. In Afrika kann man sogar Märkte für gebrauchte Hilfsmittel sehen. Da sitzt dann jemand an der Straße, der eine Prothese für ein rechtes Bein an eine Person mit einer linksseitigen Amputation verkauft, die 30 Zentimeter größer ist als der ursprüngliche Patient – ganz gleich, ob es funktioniert oder nicht.
OT: Inwiefern unterscheiden sich die Anforderungen von Spitzensportlern von denen „normaler“ Patienten?
Hartmann: Im Prinzip unterscheidet sich der Spitzensportler nicht von einem „normalen“ Patienten – jeder möchte die beste Versorgung bekommen, egal, ob jemand zu Hause den Weg vom Bett zur Toilette und in die Küche bewältigen will oder 10, 20 Kilometer am Tag läuft. Alle haben den Anspruch, den Alltag bestmöglich zu bewältigen. Was sich bei der Versorgung eines Sportlers anders gestaltet, ist die Wettkampfsituation. Da kommt psychischer Stress ins Spiel, und dann hat man als Versorger eine andere Art von Arbeit zu leisten. Das Hilfsmittel, also die Handarbeit, die man dort investiert, unterscheidet sich jedoch nicht von einer Alltagsprothese. Ich plädiere sogar dafür, dass man die Versorgung so einfach wie möglich gestalten sollte, damit man in einer Wettkampfsituation auch kurzfristig helfen kann. Wenn eine Einzelanfertigung vorliegt und zwei Stunden vor dem Wettkampf ein Defekt passiert, dann kann ich meistens nicht helfen.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.