Rücken­ver­sor­gung: Klet­tern als Therapie

Mehrmals pro Woche Physiotherapie mit sich immer wiederholenden Übungen – und das seit Kindesbeinen an: Das ist bei Skoliose zwar notwendig, kann über die Jahre hinweg jedoch müde machen.

Aber was ist, wenn es eine The­ra­pie­form gäbe, die sich gar nicht wie The­ra­pie anfühlt? Poten­zi­al sieht Dr. Silas Dech, aka­de­mi­scher Mit­ar­bei­ter an der Uni­ver­si­tät Pots­dam, im Klet­tern. Im Rah­men einer Stu­die hat er unter­sucht, wie sich die­se Form der The­ra­pie auf das Fort­schrei­ten von Sko­lio­se aus­wirkt und wel­chen Ein­fluss sie auf die Moti­va­ti­on der Betrof­fe­nen hat.

„Klet­tern ist gut geeig­net, um die Rumpf­mus­ku­la­tur zu stär­ken“, sagt Dech, Sport- und Gesund­heits­wis­sen­schaft­ler sowie zer­ti­fi­zier­ter Klet­ter­the­ra­peut. Als Hob­by betrie­ben ist es eine freie Bewe­gungs­form. Für die The­ra­pie braucht es dage­gen stan­dar­di­sier­te, sko­lio­se­spe­zi­fi­sche Übun­gen, mit denen die Belas­tung der Mus­keln gesteu­ert wer­den kann. Für die Stu­die wur­de das Pots­da­mer Modell her­an­ge­zo­gen. Die­ses sieht vor, geziel­te Kraft­übun­gen an einer Bould­er­wand umzu­set­zen. Geklet­tert wird boden­nah, sodass die Therapeut:innen Kor­rek­tu­ren und Hil­fe­stel­lun­gen vor­neh­men kön­nen. Ziel der Stu­die war es her­aus­zu­fin­den, ob mit die­sen Übun­gen die Hal­tung ver­bes­sert sowie die Pro­gres­si­on der Erkran­kung auf­ge­hal­ten wer­den kann. Um einen Ver­gleich zur klas­si­schen Phy­sio­the­ra­pie (nach Schroth) zie­hen zu kön­nen, wur­den die 40 Teilnehmer:innen zufäl­lig in zwei Grup­pen auf­ge­teilt. Teil­ge­nom­men haben Jugend­li­che zwi­schen 10 und 16 Jah­ren mit leich­ter Sko­lio­se (Cobb-Win­kel zwi­schen 10 und 25 Grad). Über einen Zeit­raum von zwölf Mona­ten nah­men die­se im Schnitt 39 Trai­nings­ein­hei­ten wahr.

Auf dem Weg Rich­tung Regelversorgung

„Egal ob Phy­sio­the­ra­pie oder Klet­ter­the­ra­pie – im Mit­tel­wert hat sich die Sko­lio­se ver­bes­sert“, stell­te Dech bei der Aus­wer­tung der Stu­die fest. „Dabei war kei­ne Metho­de der ande­ren über­le­gen.“ Die Aus­prä­gung der Wir­bel­säu­len­krüm­mung wur­de im Vor­her-Nach­her-Ver­gleich mit­tels Rönt­gen­bild und Vor­beu­ge­test ermit­telt. Auch wenn sich die Sko­lio­se dem­nach tat­säch­lich ver­bes­sert hat, spricht Dech lie­ber von einem „Auf­hal­ten“. „Die Ver­bes­se­rung ist nicht so enorm, dass man sagen kann, dass die Sko­lio­se geheilt ist“, erläu­tert er. Im Ein­zel­fall trat zwar genau das in bei­den Grup­pen auf, eben­falls gab es aber jeweils eine Per­son, bei der sich die Erkran­kung ver­schlech­tert hat. War­um, das ver­sucht Dech der­zeit zu eva­lu­ie­ren. Ein mög­li­cher Grund: Bei bei­den Per­so­nen war die Sko­lio­se mit drei Krüm­mun­gen der Wir­bel­säu­le sowie einem grö­ße­ren Cobb-Win­kel schwer­wie­gen­der. „Es waren aber auch Teil­neh­mer dabei, bei denen sich die Sko­lio­se trotz eines Cobb-Win­kels von über 20 Grad ver­bes­sert hat – und das in einem kli­nisch bedeut­sa­men Bereich“, schränkt der The­ra­peut die­sen Kofak­tor ein. Um sol­chen und wei­te­ren offe­nen Fra­gen auf den Grund zu gehen, sol­len wei­te­re Unter­su­chun­gen fol­gen. Denk­bar wäre es z. B., Teilnehmer:innen mit einem Cobb-Win­kel über 25 Grad, also Korsettträger:innen, ein­zu­be­zie­hen. Geplant ist es eben­so, den Grad der Ver­dre­hung zusätz­lich durch Mes­sung am PC per 3D-Rekon­struk­ti­on des Rönt­gen­bilds zu ermit­teln. Wei­te­re For­schung braucht es laut Dech auch, damit Klet­tern in die Regel­ver­sor­gung auf­ge­nom­men und von den Kran­ken­kas­sen als The­ra­pie­form aner­kannt wird. „Das ist ein wei­ter Weg“, sagt er, denn noch sei die Stu­di­en­la­ge dünn. In den 1990er-Jah­ren habe es ers­te prak­ti­sche Ansät­ze gege­ben, Anfang der 2000er-Jah­re folg­ten sol­che unter ­wis­sen­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen, aller­dings ohne sko­lio­se­spe­zi­fi­sche Übungen.

Dr. Silas Dech freut sich, dass das Klettern bei vielen der Studienteilnehmer:innen so gut ankam, dass sie es fortsetzen wollen. Foto: Tobias Hopfgarten
Dr. Silas Dech freut sich, dass das Klet­tern bei vie­len der Studienteilnehmer:innen so gut ankam, dass sie es fort­set­zen wol­len. Foto: Tobi­as Hopfgarten

Ersatz oder Ergänzung?

Wenn kei­ne The­ra­pie­form der ande­ren über­le­gen ist, kann Klet­tern dann Phy­sio­the­ra­pie erset­zen? „Laut Stu­di­en­ergeb­nis wäre sko­lio­se­spe­zi­fi­sches Klet­tern tat­säch­lich ein adäqua­ter Ersatz“, erklärt Dech, warnt im sel­ben Atem­zug aber zur Vor­sicht. Die­se ers­te ran­do­mi­sier­te Stu­die mit klei­ner Stich­pro­be rei­che noch nicht aus, um kla­re Emp­feh­lun­gen aus­zu­spre­chen. Dech sieht im Klet­tern zumin­dest eine ergän­zen­de Metho­de. Künf­tig könn­te über­prüft wer­den, wie sich bei­de The­ra­pie­for­men und gege­be­nen­falls das Tra­gen eines Kor­setts zusam­men auf Sko­lio­se aus­wir­ken. „Wenn Klet­tern allein schon sol­che Effek­te erzielt, was errei­chen wir dann in Kombination?“

Abseits der Ver­än­de­run­gen der Wir­bel­säu­le war es Dech ein Anlie­gen, einem wei­te­ren wich­ti­gen Fak­tor nach­zu­spü­ren: der Moti­va­ti­on. Über 85 Pro­zent der Teilnehmer:innen gaben am Ende der Stu­die an, mit dem Klet­tern weiter­machen zu wol­len. Getoppt wur­de die­ses Ergeb­nis noch von einer ande­ren Fra­ge, die eigent­lich gar nicht auf den Spaß­fak­tor abzie­len soll­te. Um aus­zu­schlie­ßen, dass die Teilnehmer:innen wäh­rend der Stu­die einer wei­te­ren The­ra­pie nach­ge­hen, wur­de gefragt: Hast du in den letz­ten Mona­ten The­ra­pie bekom­men? „Ja, Klet­ter­the­ra­pie“ wäre bei den Test­per­so­nen die kor­rek­te Ant­wort gewe­sen. Doch 75 Pro­zent kreuz­ten „nein“ an. „Und zwar, weil sie das Klet­tern nicht als The­ra­pie emp­fun­den haben“, schluss­fol­gert Dech. „Das ist ein super Ergebnis.“

Pia Engel­brecht

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