Ohne standardisierte Daten gibt es aber keinen Nachweis der Wirkung. Und ohne einen Nachweis der Wirkung kann es keine Kostenübernahme der Rehabilitationsmaßnahmen geben. Laut der Internationalen Gesellschaft für Prothetik und Orthetik (ISPO) mangelt es genau an diesen notwendigen Daten zum Wirknachweis. Aus diesem Grund hat die ISPO die Initiative „LEAD (Lower Extremity Amputation Data Set) und COMPASS“ (Consensus Outcome Measures for Prosthetic and Amputation Services) ins Leben gerufen. Dafür erarbeiteten internationale Expert:innen Empfehlungen zu standardisierten Erhebungen sowie einen Kerndatensatz von geeigneten PROMs (Patient-Reported Outcome Measures) für die Erhebung spezifischer Konstrukte bei Menschen mit Majoramputation der unteren Extremität. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erläutert PD Dr. med. Alexander Ranker, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Spezielle Schmerztherapie und Manuelle Medizin sowie Facharzt für Allgemeinmedizin, worum es bei der Initiative geht.
OT: Warum ist die Initiative „LEAD und COMPASS“ in Deutschland wichtig und welche Rolle kommt dabei PROMs zu?
Alexander Ranker: Es gibt sehr viele verschiedene Möglichkeiten, gewisse Konstrukte, zum Beispiel Sachverhalt oder Eigenschaft wie „Mobilität mit Prothese“ oder „Zufriedenheit mit Prothese“, zu erheben. Dabei wird meiner Meinung nach aber oft unterschätzt, dass die Sicht der Patient:innen – und zwar zu 100 Prozent und unbeeinflusst – ein sehr wichtiges Werkzeug in der Optimierung der interdisziplinären rehabilitativen Versorgung sein kann, egal ob ärztlich, therapeutisch oder orthopädietechnisch. Und PROMs sind genau solche Fragebögen, die valide, reliabel und objektiv die Sicht der Patient:innen messbar und vergleichbar machen. Das ist für gewisse Entscheidungen in der Rehabilitation, aber auch zum objektiven Bestimmen des rehabilitativen Fortschritts bzw. des rehabilitativen Ergebnisses sehr wichtig. Um es mal an einem Punkt praktisch zu erläutern: Nehmen wir mal den Punkt „Mobilität mit Prothese“. Eine Patientin oder ein Patient bekommt eine neue Prothese. Nun ist die Frage, ob es hinsichtlich der Mobilität mit der neuen Prothese Defizite gibt. Man könnte ihn oder sie nun einfach fragen. Aber eine solche Frage ist sehr subjektiv. Es könnte zum Beispiel sein, dass Fragende und Antwortende sich unsympathisch oder sich sehr sympathisch sind. Dementsprechend unterschiedlich wäre wohl die Antwort. Ebenso kann es sein, dass situativ persönlich Dinge die Antwort beeinflussen. Oder dass die persönliche Messlatte unterschiedlich gesetzt ist. All solche Dinge würde man unter Reliabilität zusammenfassen. Also wie zuverlässig und reproduzierbar diese Antwort ist. Ein hochqualitativer reliabler Fragebogen ist somit einem bloßen Interview oder einer Anamnese deutlich überlegen. Und das ist nur ein kleiner Punkt der Gütekriterien eines Fragebogens. Dass die ISPO mit der „LEAD und COMPASS“-Initiative darauf aufmerksam macht, dass Fragebögen in ihren psychometrischen Eigenschaften hochqualitativ sein müssen und standardisiert erhoben werden sollen, finde ich sehr wichtig und richtig, weil das meiner Meinung nach unterschätzt wird. Wir dürfen weder einfach eigene Fragebögen entwerfen, ohne sie zuvor intensiv getestet und validiert zu haben, noch dürfen wir bestehende Fragebögen an unser Patientenklientel „anpassen“, also z. B. PROMs für untere Extremität auch für obere nehmen.
Ein weiterer Punkt ist die Fülle der existierenden Fragebögen. Manchmal kommt es vor, dass dadurch sehr viele Fragebögen auf die Patient:innen zukommen und diese regelrecht überfrachtet werden. Zudem kann es passieren, dass Patient:in A im Zentrum A ganz andere Fragebögen bekommt als Patient:in B in Zentrum B. Oft werden sogar in den einzelnen Zentren selbst neue Fragebögen entworfen oder bestehende um einzelne Fragen ergänzt oder verkürzt. Das verändert aber sofort die Aussagekraft und verhindert die Vergleichbarkeit mit anderen Zentren. Durch die ISPO-Initiative wird genau dieses Problem adressiert. Ein internationales Expertenteam hat in wirklich mühsamen, jahrelangen Prozessen und vielen Delphi-Runden aus den wichtigsten international existierenden Fragebögen einen komprimierenden Kerndatensatz erarbeitet. Im ersten abschließenden Schritt wurden nur noch zwölf Scores definiert, die als hochqualitativ gelten und die weiter untersucht wurden (in Tab. 3.2 im Abschluss-Report der ISPO zu finden, Anm. d. Red.). Daraus ergaben sich in weiteren Verfahren zwei endgültige PROMs, die als Hauptmessinstrumente international verwendet werden sollen: Der TAPES‑R, also Trinity Amputation and Prosthesis Experience Scales-Revised, sowie der PEQ, Prosthesis Evaluation Questionnaire.
OT: Und gibt es die in einer deutschen validierten Version?
Ranker: Leider nein. Trotz intensiver Recherchen in den einschlägigen Literaturdatenbanken konnten keine publizierten validierten deutschen Versionen des PEQ gefunden werden. Ein Review von uns über alle zwölf genannten Scores der ISPO und deren Verfügbarkeit auf Deutsch ist gerade im Publikationsprozess. Wenn jemand den PEQ doch ins Deutsche übersetzt und anschließend leitliniengetreu validiert hat, bitte gerne melden! Beim TAPES‑R ist es etwas schwieriger. Es gibt wohl eine deutsche Version. Die Übersetzung wurde auch in der OT-Reha publiziert. Allerdings ist die Übersetzung nur ein kleiner Teil. Das wirklich Wichtige ist die Überprüfung der Gütekriterien dieser neuen deutschen Version, z. B. der psychometrischen Eigenschaften an einer größeren Anzahl an Patient:innen. Wir sprechen hier von mindestens 50, besser 100 Patient:innen. Diese Validierung ist nach jeder Übersetzung in eine neue Sprache dringend vonnöten. Es ist absolut falsch anzunehmen, dass durch die Übersetzung eines validen Fragebogens automatisch auch der übersetzte Fragebogen valide ist. Daher wäre beim TAPES‑R eine Überprüfung der Gütekriterien der deutschen Version sehr wichtig. Leider wurde die Übersetzungsversion, also der finale deutsche Fragebogen, in der Publikation nicht abgebildet, was natürlich sehr schade ist. So kann man ihn also noch gar nicht nutzen und er bleibt den Autor:innen vorbehalten. Ich hoffe sehr, dass eine Überprüfung und Validierung des deutschen TAPES‑R an Menschen mit Majoramputation der unteren Extremität zeitnah geschieht. Ich biete sowohl beim TAPES‑R als auch beim PEQ hier auch öffentlich meine Mithilfe an.
Fokus auf untere Extremität
OT: Warum beschränkt sich die ISPO bei „LEAD and COMPASS“ auf Menschen mit Amputation der unteren Extremität?
Ranker: Viele sind sich nicht bewusst, wie mühsam es ist, einen neuen Fragebogen zu entwickeln, der wirklich das misst, was er messen soll, und zwar objektiv, reliabel und valide. Ich habe durch meine Arbeiten ein wenig dahinter blicken können und wirklich großen Respekt davor. Da man obere und untere Extremität aus vielerlei Hinsicht nicht mischen kann, fokussierte sich die ISPO primär auf die untere Extremität. Ich denke aber, dass auch für die obere Extremität so eine Empfehlung kommen wird. Es ist nur so, dass dafür weniger spezifische Scores existieren und die Entwicklung sehr komplex ist. Das ist übrigens auch eine schwierige Sache an der deutschen Übersetzung des TAPES‑R. Dieser ist explizit für die untere Extremität entwickelt und ursprünglich nur an Menschen mit Majoramputation der unteren Extremität validiert worden. In der Diskussion der deutschen Übersetzung ist allerdings die Rede von additiven Fragen, um auch die Menschen mit Majoramputation der oberen Extremität mit abzubilden. Das ist erst mal eine ganz tolle Sache, weil wir hier in Deutschland, aber auch international große Defizite hinsichtlich guter spezifischer Fragebögen haben. Rein wissenschaftlich wäre das aber dann ein neuer Score, der von Grund auf hinsichtlich seiner Testeigenschaften untersucht und entwickelt werden muss. Das ist eine sehr aufwendige und mühsame Arbeit, die sich aber sicher lohnen würde! Soweit ich informiert bin, wurde dies auch mit einer kleinen Patientenanzahl – genauer gesagt 21, nur obere Extremität und myoelektrische Prothese – gemacht und bei der OTWorld 2018 vorgestellt. Aber ich will es ganz klar unabhängig hiervon sagen: Aus wissenschaftlicher Sicht müssen diese Entwicklungsschritte stets gemacht werden, bevor solch ein modifiziertes Testinstrument in der klinischen Praxis genutzt werden kann. Einfach einen Score nehmen und zwei, drei Fragen ergänzen bzw. ändern und anzunehmen, dass er dann auch valide und reliabel verwendbar wäre, ist zu einfach.
OT: Wenn es den TAPES‑R und PEQ nicht in einer deutschen validierten Version gibt, wie kann dann den Forderungen der ISPO genüge getan werden?
Ranker: Erst einmal muss die wissenschaftliche Lücke geschlossen werden und der TAPES‑R und der PEQ nach Qualitätsstandards übersetzt und anschließend auf Gütekriterien untersucht werden. Das wäre sehr wichtig. Gute Qualitätsstandards für die Validierungsstudien, nach denen man sich richten kann, wurden bereits von der COSMIN-Initiative publiziert. Außerdem haben wir bereits deutsche validierte Fragebögen, die auch in der Liste der zwölf wichtigsten PROMs genannt werden. Für das Konstrukt „Mobilität mit Prothese“ wären das der PMQ 2.0 (Prosthesis mobility questionnaire, Anm. d. Red.), der PLUS‑M (Prosthetic Limb Users Survey of Mobilitym, Anm. der Red.) sowie der LCI‑5 (Locomotor Capabilities Index – 5, Anm. d. Red.). In den jeweiligen Publikationen sind stets die deutschen Scores abgebildet. Man kann mich gerne per Mail anschreiben. Zudem hätten wir einen deutschen validierten Score zur „Zufriedenheit mit Prothese“: den SAT-PRO (Satisfaction with Prosthesis Questionnaire Anm. d. Red.). Außerdem die in Deutschland entwickelte PembS (Prosthesis Embidoment Scale Anm. d. Red.). Alle Scores sind in unter fünf Minuten zu erheben und gut in den Alltag zu etablieren.
OT: Die Ergebnisse des ISPO-Projekts wurden in einem Abschlussbericht zusammengefasst. Welche weiteren Schritte ergeben sich daraus?
Ranker: In der ausgekoppelten Publikation der ISPO werden Empfehlungen für den weiteren Umgang mit den Ergebnissen diskutiert. Unter anderem wird erstens die standardisierte Übersetzung in andere Sprachen mit anschließender Überprüfung der Gütekriterien und zweitens eine freie Verfügbarkeit der validierten Fragebögen auf einer unabhängigen Plattform gefordert. Ich kann die Publikation sehr empfehlen.
Gemeinsame Plattform schaffen
OT: Gibt es hinsichtlich verfügbarer Fragebögen etwas, das Sie sich wünschen?
Ranker: Zuallererst wünsche ich mir, dass die Wichtigkeit solcher Fragebögen in der täglichen Routine und der Versorgung von Patient:innen und deren Aussagewert besser verstanden wird. Und, dass auch die Wichtigkeit der Gütekriterien der verwendeten Fragebögen mehr Priorität hat und nicht selbst erstellte, veränderte oder nicht validierte Fragebögen verwendet werden. Davon haben wir am Ende nichts. Zudem wünsche ich mir für die Zukunft, dass bald alle zwölf Fragebögen, die von der ISPO als empfehlenswert erachtet werden, auf Deutsch in einer hochqualitativen validierten Version vorliegen. Das würde die internationale Vergleichbarkeit deutlich steigern und die Zusammenarbeit international auch leichter gestalten. Außerdem ist es auch eine Forderung der ISPO.
Ebenfalls würde ich mir wünschen, dass man gemeinsam in Deutschland eine Plattform schafft – z. B. über geeignete Verbände oder Gesellschaften –, auf der die deutschen validierten Versionen frei downloadbar für alle wären und man sich in einer Experten-Runde gemeinsam für spezifische Konstrukte wie „Zufriedenheit mit Prothese“, „Mobilität mit Prothese“ und „Embodiment“ ein deutsches „Core-Set“ aus definierten Fragebögen überlegt, die von allen gleichermaßen ausgefüllt werden könnten. Das würde die nationale Vergleichbarkeit deutlich stärken und uns wirklich aussagekräftige Daten generieren. Und zu guter Letzt, und das finde ich das Wichtigste, auch die Versorgungsqualität der Patient:innen verbessern. Außerdem bin ich mir sicher, dass eine Argumentation gegenüber einem Kostenträger mit validen objektiven Daten zum Patientenverlauf – also immer die gleichen Scores bei den Follow-ups – deutlich mehr Gewicht hat.
OT: Die Datenerhebung ist die eine Sache, die Datenauswertung eine andere. Sie wünschen sich eine zentrale Stelle, um die Fragebögen abzurufen. Sollte es ebenso eine zentrale Stelle geben, an der die erhobenen Daten gesammelt und gespeichert werden und wer sollte Ihrer Meinung nach Zugang dazu haben?
Ranker: Das ist eine Sache, die man diskutieren muss, wenn es so weit ist. Primär angedacht von mir ist es eher als Qualitätsstandard innerhalb eines Betriebes oder Klinik. Also statt eigener Fragebögen oder anderer Fragebögen erst mal einen nationalen Standard zu haben. Scores werden ja ohnehin bereits täglich erhoben, angewandt und oft ja sogar gefordert. Aber es gibt keinen einheitlichen Standard. Wenn dieser mal etabliert sein sollte, könnte man sich über eine zentrale Verarbeitung Gedanken machen.
OT: Was hat LEAD und COMPASS für Konsequenzen für die Orthopädietechniker:innen?
Ranker: Die Konsequenzen beziehen sich auf die tägliche Praxis. Das wird in dem Bericht auch deutlich, wenn es um die Nutzung valider Scores geht. Es sollten wenige Scores genutzt werden, aber dafür gute Scores und diese oft und standardisiert. Ich sage es mal pragmatisch an einem Beispiel: Patient:in A, transfemoral amputiert, wird orthopädietechnisch versorgt. Von Anfang an wird die Prothesenmobilität z. B. mit dem PMQ 2.0 erhoben. Bei jeder Nachkontrolle. Dauert fünf Minuten und macht der Patient bzw. die Patientin ja selbst, z. B. im Wartezimmer. Da das Ergebnis des Scores so verlässlich ist, kann man zur Anamnese auch die Scores zur Hilfe nehmen. Außerdem sind im Verlauf auch rückblickend viele objektive Erkenntnisse zu gewinnen. Beispielsweise, dass die Modifikationen am Schaft am Tag XY die Mobilität deutlich positiv beeinflusst hat, oder der Wechsel auf Kniegelenk XY für die Mobilität des Patienten oder der Patientin negative Auswirkungen hatte. Wenn jeder Betrieb den gleichen Ablauf hätte, könnte man hier tatsächlich national auch viel besser vergleichen.
OT: Sie haben die Initiative während der ISPO-Tagung in Hannover vorgestellt. Wie waren die Reaktionen?
Ranker: Ich empfand während und nach dem Vortrag eine positive Resonanz. Ich habe gespürt, dass dieses Thema schon lange viele Kolleginnen und Kollegen der OT beschäftigt. Ich habe auch E‑Mails bzgl. meiner Validierungsstudien erhalten, um PMQ und LCI‑5 oder SAT-PRO zur Verfügung zu stellen.
OT: In welchem Verhältnis steht das LEAD-und-COMPASS-Projekt zum AMP-Register (Aufbau eines Medizinischen Registers für die Behandlung und Versorgung von Menschen mit Beinamputation.), ein Pilotprojekt des Universitätsklinikums Heidelberg und des Fraunhofer Instituts IPA?
Ranker: Das müssen Sie die Kolleginnen und Kollegen aus Heidelberg fragen. Ich hoffe doch, dass sich ein wie schon erwähntes „Core-Set“ aus validen deutschsprachigen Scores etablieren wird und dort Einzug findet. Deutschsprachige validierte TAPES‑R und PEQ sollten mindestens dabei sein. Aber wir haben eben auch schon andere Scores in hoher Qualität vorliegen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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