Als den Studienteilnehmer:innen Thermoelektroden auf den Armstumpf gelegt wurden, erwarteten die Forscher:innen Informationen darüber, wo sie diese am Stumpf spüren und ob sie Wärme oder Kälte wahrnehmen. Die Proband:innen fühlten die Temperatur jedoch nicht am Armstumpf, sondern an der fehlenden Hand. Als „Thermisches Phantomempfinden“ bezeichnet das Forschungsteam dieses Phänomen in der im Mai 2023 veröffentlichten Studie „Restoration of natural thermal sensation in upper-limb amputees“. Künftig soll die Technologie neue Wege für nicht-invasive Prothesen eröffnen.
„Wenn ich den Stumpf berühre, spüre ich ein Kribbeln in meiner fehlenden Hand, meiner Geisterhand. Aber eine Temperaturänderung zu spüren, das ist etwas anderes, etwas Wichtiges, etwas Wunderbares“, berichtet Studienteilnehmerin Francesca Rossi und betont, dass sie sich so wieder mit ihrem fehlenden Glied verbunden fühlt. „Die thermische sensorische Rückkopplung ist ein angenehmes Gefühl, weil du dein Phantomglied vollständig spürst. Du fühlst es nicht mehr als Phantom, sondern es ist wieder da.“ Das untermauert auch Silvestro Micera, Bertarelli-Lehrstuhlinhaber für translationales Neuroengineering, Professor an der EPFL und der Scuola Sant’Anna sowie Co-Leiter der Studie: „Das thermische sensorische Feedback ist entscheidend für die Vermittlung von Informationen, die über den Tastsinn hinausgehen. Es öffnet den Weg für ein Gefühl der Zuneigung. Wir sind soziale Wesen, für die Wärme eine wichtige Rolle spielt. Zum ersten Mal nach vielen Jahren der Forschung in meinem Labor, in denen wir gezeigt haben, dass man Berührungs- und Positionsinformationen liefern kann, können wir in Betracht ziehen, die Gesamtheit der feinen Empfindungen, die von einer Hand ausgehen können, wiederherzustellen.“
Für die anschließende Studie kam der „MiniTouch“ zum Einsatz – ein vom Forschungsteam entwickeltes Gerät mit einem dünnen, tragbaren Sensor, der etwa auf dem Finger einer Handprothese angebracht werden kann. Er erfasst die Wärmeleitfähigkeit eines Objekts, das er berührt, und leitet diese Informationen an ein Gerät weiter, das an dem verbliebenen Unterarm der Testperson angebracht ist. Die Thermoelektroden kühlen sich also ab oder erwärmen sich. Berührt die Prothese Glas oder Plastik? Auch das konnten einige der Proband:innen so unterscheiden. Denn ein metallisches Objekt leitet mehr Wärme oder Kälte als zum Beispiel ein Kunststoffobjekt. Das Forschungsteam fand zudem heraus, dass kleine Hautflächen auf dem Restarm Empfindungen zu bestimmten Teilen der Phantomhand projizieren, wie etwa zum Daumen oder zur Spitze des Zeigefingers. Wer was wo spürte, war jedoch unterschiedlich. Laut der gemeinsamen Studie der EPFL, der italienischen Hochschule Scuola Superiore Sant’Anna und dem Prothesenzentrum Centro Protesi Inail führte die Untersuchung bei 17 von insgesamt 27 Proband:innen zum Erfolg.
„Mein erster Kontakt mit den Neurowissenschaften kam durch meine Tante zustande, die als Freiwillige in einem Krankenhaus in Kabul arbeitete“, berichtet Solaiman Shokur, Ph.D., Neuroingenieur und Wissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und ebenfalls Co-Leiter der Studie. „Sie beschrieb den Schmerz, den ein Patient in seinem fehlenden Arm spürte. Es hörte sich für mich fast mystisch an, aber was sie beschrieb, waren Phantomschmerzen der Gliedmaßen. Die Tatsache, dass wir in dieser Studie bei Menschen mit einer Amputation ein angenehmes Phantomgefühl hervorrufen konnten, hat bei mir einen starken Widerhall gefunden.“
Berührung als sozialer Effekt
Als Co-Leiter deutet Solaiman Shokur im Gespräch mit der OT-Redaktion die zentralen Ergebnisse der Studie und wirft einen Blick auf weitere mögliche Forschungsfragen.
OT: Was haben Sie in der Studie untersucht?
Solaiman Shokur: In unserer Studie untersuchten wir thermische und taktile Phantomempfindungen. Wir konnten am Stumpf Bereiche identifizieren, die beide Empfindungsarten in die Phantomhand projizierten. Darüber hinaus konnten manche Teilnehmer in einigen Fällen sogar kalte, neutrale und auch warme Phantomwärmeempfindungen unterscheiden.
OT: Lässt sich die Sensitivität der Gefühle messen?
Shokur: Das ist ein guter Punkt, und es ist schwierig, da es sehr subjektiv ist. Wir verwenden eine visuelle Analogskala – die Probanden bewerten eine bestimmte Empfindung zwischen eins und zehn – und wiederholen unsere Tests mehrmals und in einer zufälligen Reihenfolge, um sicherzustellen, dass die angegebenen Werte zuverlässig sind. Wir berichten nur über die Fälle, in denen die Studienteilnehmer mehrmals dieselbe Empfindung gemeldet haben.
OT: Ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung der Technologie sind „Phantomzonen“. Wo liegen diese?
Shokur: Das hängt von den Nutzern ab. Eine Kartierung des Stumpfes ist vor dem ersten Test notwendig, aber es dauert nur ungefähr ein bis zwei Stunden, um eine richtige Karte zu erstellen. Und wie wir in dem Papier zeigen, sind die Phantomzonen über die Zeit stabil.
OT: Von den 27 Proband:innen haben nur 17 Temperaturänderungen wahrgenommen. Warum hat das nicht bei allen funktioniert?
Shokur: Das ist eine schwierige Frage. Das Empfindungsvermögen der Haut kann je nach Art der Amputation sehr unterschiedlich sein, z. B. kann sich nach einer Hauttransplantation das Empfindungsvermögen ändern. Wir sind auch daran interessiert, mit Chirurgen zusammenzuarbeiten, um die Strukturierung der Nerven nach einer Amputation besser zu verstehen. Es ist auch möglich, dass mit einer präziseren Kalibrierung des Systems – bisher haben wir eine „one fits all“-Lösung verwendet – ein paar mehr Teilnehmer in der Lage gewesen wären, das System zu nutzen, aber dies wird Gegenstand unserer Folgestudien sein.
OT: Sie arbeiten daran, dass das System künftig auch in Prothesen zum Einsatz kommen kann. Welche Schritte fehlen dazu noch?
Shokur: Wir haben überwältigend positive Kommentare von den Personen erhalten, die das System im Labor getestet haben. Unser Ziel ist es, den amputierten Teilnehmern die Möglichkeit zu geben, unser System zu Hause zu nutzen, um die langfristigen Auswirkungen unseres Systems auf ihre Lebensqualität zu sehen. Wir sind auch an dem sozialen Aspekt der Berührung interessiert. Die Teilnehmer beschreiben das Wärmeempfinden oft als einen wichtigen Aspekt, um die Eingliederung der Prothese zu verbessern.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht
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