Dass die Siebenjährige im Rollstuhl sitzt, scheint keinen Grund für Diskussionsstoff zu bieten. Krümel hat wie gewohnt nur Augen für Kekse. Ganz selbstverständlich und beiläufig – genau so hat sich René Schaar ihren Auftritt vorgestellt. Als stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter des Norddeutschen Rundfunks (NDR) fällt die Kreation neuer Puppencharaktere normalerweise nicht in sein Aufgabengebiet. Doch: „Die Vielfalt im Programm ist für mich ein Herzensthema“, betont er. Nach nicht mal zwei Wochen im neuen Job nahm Elin bereits Form an.
„Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum?“ Das Intro der Sesamstraße gibt die besten Fragen für das Gespräch bereits vor. „René Schaar, 31 Jahre alt, mein Lieblingseis ist Pistazie und ich bin seit einem Jahr stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter beim NDR sowie seit Kurzem zertifizierter Diversity-Manager.“ Zu ihm gehört auch seine Arm- und Handfehlbildung (Symbrachydaktylie rechtsseitig, Poland-Syndrom). Eine Behinderung, die für ihn zwar identitätsstiftend ist, aber eben nur einen Teil von dem, wer er ist, ausmacht. In jungen Jahren hat er sich sehnlichst gewünscht, Kinder mit Behinderungen im Fernsehen zu sehen. Mit ihren kurzen Clips thematisiert die Sesamstraße Behinderung schon lange, aber eben nur vereinzelt, berichtet der 31-Jährige und denkt dabei zum Beispiel an einen Beitrag über eine Rollstuhlbasketballkindergruppe zurück. Mit Elin soll Inklusion nun dauerhaft in die Sesamstraße einziehen.
Weder Mitleidsfigur noch Superheld
An der Gestaltung war neben Schaar ein Team aus Redaktion, Drehbuchautor:innen, dem Sesame Workshop in den USA und der Ausstattung des NDR in Hamburg sowie – der Authentizität wegen – Rollstuhlfahrer:innen beteiligt. Dabei raus kam Elin: Sie ist sieben Jahre alt, hat einen türkischen Migrationshintergrund, ist vorlaut, schlagfertig, technikaffin, zahlenbegeistert und in ihren Gedanken manchmal zu schnell. Dass sie infantile Cerebralparese (CP) hat, wird in der Serie nicht erzählt, die genaue medizinische Diagnose dient vielmehr dem Autorenteam, der Requisite und den Puppenspieler:innen als Hilfestellung zu Verständnis und Gestaltung der Puppe. Grundsätzlich nimmt Elins Behinderung eine untergeordnete Rolle ein, soll aber nicht komplett vom Tisch fallen. „Wir wollen nicht verstecken, dass im Zusammenspiel mit dem Umfeld Herausforderungen auftreten. Gemeinsam kann man aber – sei es in der Gesellschaft oder hier konkret in der Nachbarschaft – dafür sorgen, dass die Welt inklusiver wird.“
Schaar empfindet das Programm in den Medien über und mit behinderten Menschen bislang oftmals als stereotyp und klischeebehaftet. Wenn über Behinderung gesprochen wird, dann sei dies in der Regel der eine dominante Faktor, der alle anderen Aspekte des Charakters übertüncht. Entweder werde die Figur durch eine defizitäre Brille betrachtet, also als bemitleidenswertes Wesen, das Hilfe benötigt, oder aber die Figur tritt als Superheld auf, die ihr Leben trotz Behinderung meistert. „Beides ist falsch. Was wir brauchen, ist der Alltag, die Beiläufigkeit, die Normalität, die Selbstverständlichkeit.“ Aus diesem Grund wurde dafür entschieden, sehr bedacht mit Elin zu starten. Künftig könnte aber auch ein Treffen mit einem Kind mit CP anstehen oder das Thema Barrierefreiheit mehr in den Fokus genommen werden. Denn bei seinem Besuch am Set stolperte der frisch zertifizierte Diversity-Manager über viele Treppen – unter anderem in den Häusern der Sesamstraße. Auch wenn er nicht selbst im Rollstuhl sitzt, kann Schaar den Frust, den viele Menschen mit Gehbehinderung täglich erleben – sei es im Kino oder im Restaurant – gut nachvollziehen. Zum einen, weil er durch seinen Aktivismus mit vielen Betroffenen in Kontakt steht, und zum anderen, weil ihm die Hürden durch einen Autounfall seiner Mutter, die infolgedessen selbst gehbehindert ist, besonders vor Augen geführt werden. „Du bekommst ständig das Gefühl, dass du vergessen wurdest, dass du es nicht wert bist, mitgedacht zu werden, auch wenn meist gar nicht mit böser Absicht.“ In kindgerechter Form soll das mit und durch Elin aufgegriffen und verändert werden.
Weg vom Schubladendenken
Vorreiter in Sachen „Behinderung und Inklusion in den Medien“ sind für Schaar klar die USA. Egal ob Fisch Nemo („Findet Nemo“) mit kurzer Flosse, Fischer Massimo ohne rechten Arm („Luca“), die 13-jährige Diabetikerin Stacy („Rot“) mit Infusionsset oder die schwarze Schauspielerin Halle Bailey in der Neuverfilmung von Arielle die Meerjungfrau – in vielen Filmen werde Inklusion hier gelebt. Mit Elin reiht sich nun eine weitere Figur im deutschen Fernsehen ein. Schaar sieht darin auch einen wichtigen Beitrag als öffentlich-rechtlicher Sender dem Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention nachzukommen und „gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion“ medial umzusetzen sowie ein Programm für alle Menschen zu gestalten. Für ihn bedeutet das, keine Labels mehr zu setzen, scharfe Grenzen aufzulösen und stattdessen die Komplexität und die Facetten eines jeden Menschen zuzulassen. Elins Diagnose trage dazu bei. Denn entgegen dem Glauben vieler sind nicht alle Rollstuhlfahrenden querschnittgelähmt. Auch Elin kann stehen und einige Schritte gehen. Menschen in Schubladen stecken? Dafür sind sie zu sperrig.
Regelrecht überschüttet worden sei der NDR nach Bekanntmachung von Elins Einzug mit positiven Kommentaren. Bei dem „Candystorm“ gingen die wenigen konstruktiven negativen Kommentare dennoch nicht unter. Bei ihrem Rollstuhl handelt es sich um einen echten Aktivrollstuhl, der aufgrund ihrer Körpermaße, u. a. durch verkürzte Sitz- und Rückenlehne, angepasst wurde. Jedoch offenbar zu wenig, wie einigen Kommentator:innen – zurecht, wie Schaar sagt – auffiel. Nun feilt das Team an der Nachbesserung.
Vorbilder braucht es
Schaar findet es essenziell, dass bereits Kinder im Alltag auf Menschen und Figuren treffen, mit denen sie sich identifizieren können. Als Junge habe er sich eingeredet, dass er aufgrund seines verkürzten Arms nicht lernen könne, Gitarre zu spielen. „Das sind Geschichten, die sich Kinder ohne Vorbilder selbst erzählen“, sagt er. Ein Trugschluss, wie sich später zeigen sollte. Heute greift er spontan zu seiner Ukulele und spielt drauf los. Möglich macht das eine Sonderanfertigung von Thies Medicenter, bestehend aus der Kombination eines Silikonhandschuhs und eines Hartplastikteils mit eingespanntem Plektron. Der Clou: Ein Originalplektron war zu hart. Doch der zuständige Orthopädietechnik-Meister wusste sich zu helfen und schnitt aus einer Schuhsohle eine Alternative. Das weiche, strapazierfähige Material bringt die nötige Flexibilität und lässt die Ukulele angenehm klingen. Eine andere Sonderanfertigung stammt aus dem Hause Pohlig. Sie diente Schaar dazu, seine damalige erste professionelle Spiegelreflexkamera halten zu können. Das Problem: Da es keine Spiegelreflexkameras für Linkshänder gibt, war die Bedienung der Knöpfe rechts mit verkürztem Arm schwierig. Pohlig scannte einen Kamerabody ein, spiegelte ihn und fertigte den Knauf dann an einer Bodenplatte aus dem 3D-Drucker. Diese wurde am Gewinde der Kamera festgeschraubt und erlaubte Schaar, seine Kamera halten zu können.
Selbst aufgewachsen mit Elmo, Samson und Co. bedeutet es Schaar viel, nun bald eine Rollstuhlfahrerin in der Sesamstraße antreffen zu können. „Ich werde es erst glauben, wenn ich es im Fernsehen sehe“, beschreibt er diesen immer näher rückenden emotionalen Moment. Kann es noch besser für ihn werden? Daran zweifelt er. „Es bedeutet mir die Welt.“ Mit Freude und Stolz hofft Schaar, durch Elin Fuß- und auch Rollispuren in der Medienlandschaft zu hinterlassen. Und obwohl sie noch gar nicht auf den Bildschirmen zu sehen ist, drängt sich dennoch die Frage auf: Wer zieht als Nächstes in die Sesamstraße? „Ich freue mich, dass es Elin gibt. Lassen wir sie erstmal ankommen“, sagt Schaar und beschreibt dies lachend als diplomatische Antwort. „Der Anfang einer langen Reise.“
Pia Engelbrecht