69.000 Frauen erhalten jährlich in Deutschland die Diagnose Brustkrebs. Das sind so viele Menschen, wie zum Beispiel Fulda, Landshut oder Tübingen Einwohner:innen haben. Damit ist Brustkrebs die mit Abstand häufigste Krebserkrankung in der Bundesrepublik. Neben Operationen und Therapie steht meist auch eine Hilfsmittelversorgung für die betroffenen Frauen an. Eine Versorgung mit Brustprothesen bzw. entsprechender Wäsche steht den Frauen nach PG 37 alle zwei Jahre zu. Neben der technischen Versorgung besteht bei den Frauen auch der Wunsch nach einem entsprechenden Versorgungsumfeld, das ihre spezielle Situation berücksichtigt. Aus diesem Grund hatte sich Anke Prüstel mit ihrem Sanitätshaus auf die Versorgung von Brustkrebspatientinnen spezialisiert. Eine Entscheidung, die aus der eigenen Erfahrung als Brustkrebsbetroffene resultierte und aus dem Ansporn, es besser zu machen. Aus privaten Gründen musste sie ihr Geschäft vor drei Monaten übergeben, die Leidenschaft, für die Versorgung von Brustkrebspatientinnen zu streiten, ist geblieben. Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichtet sie von ihren Erfahrungen, darüber, was Sanitätshäuser beachten sollten und wo ihr die Perspektive als Brustkrebspatientin geholfen hat, nicht nur eine gute Versorgung zu leisten, sondern das Leben ihrer Kundinnen besser zu machen.
OT: Frau Prüstel, jedes Jahr erkrankt eine Kleinstadt voller Frauen an Brustkrebs. Da müsste man davon ausgehen, dass die Versorgung derer ein Schwerpunkt in jedem Sanitätshaus ist. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Anke Prüstel: Versorgung nach Brustkrebs ist, nach meiner Erfahrung, bundesweit eher Teil des Vollsortiments. Es haben sich bei mir Frauen aus nah und fern gemeldet und sich über mangelnde Auswahl oder das Bestellen aus Katalogen mit Abnahmepflicht, mangelnde Fachberatung und leider fehlende Empathie oder zumindest Verständnis, dass es sich nicht um eine Kniebandage handelt, beklagt. Außerdem war es für viele Frauen eine große Hürde, ihr Anliegen in einem mit Kundinnen und Kunden gut besuchten Sanitätshaus vorzutragen, da die notwendige Diskretion für diese sensible Versorgung nicht gegeben war. Es gibt natürlich auch positive Beispiele, bei denen sich ein Sanitätshaus spezialisiert hat, so wie es bei mir selbst auch der Fall war.
OT: Sie haben vor mehr als einem Jahrzehnt selbst die Diagnose Brustkrebs erhalten. Wie haben Sie die Versorgung im Sanitätshaus erlebt?
Prüstel: Ich habe zu dieser Zeit im Sanitätshaus und auch viel mit Brustkrebskundinnen gearbeitet, deshalb war ich schon etwas besser vorbereitet. Allerdings traf es mich hinterher mit Wucht, dass ich meine so geliebten bunten, farblich passenden Spitzensets nicht mehr tragen konnte und dass es nur sehr wenig und für mich als nicht optimal empfundene Alternativen gab. Ich habe dann angefangen selbst Dessous und Bademode zu nähen und letztlich war das auch mein Antrieb zu meinem Geschäft. Mein erster Armstrumpf war zudem hautfarben, was ich als sehr furchtbar empfunden habe. Heute trage ich wieder schöne bunte Wäsche, eine relativ angenehme Teilprothese und ausschließlich bunte Armstrümpfe. Ich konnte stets mitbestimmen, das wird vielen Frauen nach der Operation einfach verwehrt.
Sich in die Rolle der Patientin einfühlen
OT: Welche Voraussetzungen muss man als Sanitätshaus mindestens schaffen, damit Brustkrebspatientinnen sich wohl fühlen und auch versorgen lassen?
Prüstel: Auch da kann ich nur bitten, sich in die Kundinnen hineinzuversetzen und nachzudenken: Ich muss jetzt in diesen Laden – da stehen Rollatoren und Bandagen, alles ist so steril und dann ist da auch noch ein Herr hinter dem Tresen. Die fast schon logische Konsequenz ist es, dass sich die Frauen umdrehen und unversorgt das Sanitätshaus verlassen. Die Frauen brauchen: Diskretion – also im besten Fall einen abgetrennten Eingang oder zumindest eine sichtbare Einladung, dass ich als Frau mit Brustkrebs willkommen bin, also z. B. durch entsprechende Deko. Zudem wäre es wichtig, dass sich eine empathische, fachkundige und geschulte Sanitätshausmitarbeiterin um die Frauen kümmert und diese in ihrer Situation nicht mit Besserwisserei belehrt werden. Wichtig sind auch ausreichend Zeit bei der Beratung und eine wirkliche Auswahl vor Ort. Auch wenn die passende Größe nicht da ist, nimmt es den Betroffenen die Angst, die Brustprothesen und die Wäsche in die Hand zu nehmen. Es reicht nicht nur das Versprechen auf der Homepage, eine empathische Versorgung zu gewährleisten.
OT: Sind Ihnen Beispiele Ihrer Patientinnen bekannt, die sich in anderen Sanitätshäusern falsch verstanden oder nicht gut beraten gefühlt haben und deshalb eher auf eine Versorgung verzichten würden, statt noch einmal in ein Sanitätshaus zu gehen?
Prüstel: Leider sehr viele. Ich hatte mir den Ruf bei Ärzten erarbeitet, eine sehr gute Versorgung anzubieten. Das hatte zur Folge, dass ich sehr viele Kundinnen hatte, die sich für eine Erstversorgung zu mir trauten – Jahre nach der eigentlichen Erkrankung. Es kamen aber auch Kundinnen, die nach einem einmaligen Schockerlebnis im Sanitätshaus bei mir nach Jahren wieder eine Versorgung erhalten haben. Die Gründe dafür habe ich im Prinzip schon genannt: Katalogbestellung, Wäsche zwischen den anderen Sanitätshausartikeln, meist in einer Ecke, sowie Mitarbeiterinnen mit wenig Interesse. Es war für mich immer toll zu erleben, wie Kundinnen mit ängstlichem Gesicht und Aura mein Geschäft betreten und mit lächelndem Gesicht wieder verlassen haben. Durch meinen Onlineshop kamen solche Kundinnen aus ganz Deutschland.
Eigener Raum für die nötige Privatsphäre
OT: Nach den Mindestanforderungen haben wir Sie schon gefragt. Wie sieht es am anderen Ende der Anforderungsskala aus – sprich: Wie sieht das „optimale“ Sanitätshaus für eine Versorgung von Brustkrebspatientinnen aus?
Prüstel: Als Grundvoraussetzung gilt ein extra Ladenraum bzw. Geschäft. Dann kann ich mich nur immer wiederholen: gut geschulte Mitarbeiterinnen, die Lust auf diese Arbeit haben und ohne Fingerzeig auf Zeitoptimierung arbeiten können, weil eine BH-Beratung auch mal eine Stunde oder länger dauern kann und die Marge dann nicht ausreichend ist, aber der Mehrwert durch Empfehlung und zeitlich schnellere Folgegeschäfte gegeben ist. Sowie eine gute Auswahl an Brustprothesen, Wäsche und Bademode. Da sind auch die Hersteller in meinen Augen mehr gefordert, Konzepte zu entwickeln, um den Warenbestand optimal zu gestalten. Konkret meine ich z. B. bessere Rücknahmemöglichkeiten, mehr NOS (Never out of stock – ständig auf Lager, Anm. d. Red.) auch im modischen Bereich. Leider ist es so, dass überall Personalmangel herrscht und es deswegen insgesamt schwierig ist, sich zusätzlich noch zu spezialisieren. Allerdings denke ich, da in diesem Bereich eine engagierte Verkäuferin mehr Sinn ergibt als eine klassische Sanitätshausmitarbeiterin, kann das auch eine Chance sein.
OT: Können Sie eine Entwicklung in den Anforderungen der Patientinnen erkennen?
Prüstel: Die Weiterentwicklung der OP-Techniken verlangt immer speziellere Versorgungen. Einige Hersteller sind darin sehr fortschrittlich, bei anderen hat man das Gefühl, noch zehn Jahre zurück zu sein. Ich persönlich glaube an mehr individuelle Lösungen, d. h. Maßprothesen. Die Patientinnen kommen auch öfters besser informiert, das heißt, ich muss mitreden können. Nichts ist kundenfeindlicher als das Gefühl, dass die Kundin besser informiert ist über z. B. die Kollektionen oder in Social Media beworbene Produkte wie Brustprothesen.
OT: Wie hat die Corona-Pandemie die Arbeit verändert?
Prüstel: Corona hatte zur Folge, dass die Betreuungsleistungen im Rahmen der Behandlungen abnahmen und ich dafür viele offene Fragen rund um das Thema Brustkrebs beantworten musste. Nicht zu vergessen ist dabei, dass auch die psychologische Behandlung nicht mehr so war bzw. ist wie vorher. Die Frauen sind noch ängstlicher und leiden unter Ungewissheit zum Beispiel über die Folgen einer Corona-Infektion während der Chemotherapie. Dies alles führte dazu, dass mein Arbeitspensum immer mehr stieg, da sich die Frauen auch nach Feierabend und am Wochenende an mich wandten und meinen Rat suchten. Die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmt mehr.
OT: Die Frauen, die zu Ihnen kommen, haben ja auch eine Lebens- und Leidensgeschichte hinter sich. Welche Rolle spielt das bei der Versorgung?
Prüstel: Da kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Nachfragen und Interesse zeigen ist genauso wichtig wie eine gute Versorgung abzuliefern. Sich auf dieser Ebene zu engagieren, hat den Vorteil, dass sich die Patientinnen auf den nächsten Termin bereits freuen und mit einem positiven Gefühl zu mir in den Laden kommen. Ich wiederum habe viel von den Frauen gelernt, habe von den mir berichteten Erfahrungen profitiert und konnte das Wissen auch an andere Frauen weitergeben. Eine – wie sagt man so schön – Win-win-Situation. Außerdem spricht sich eine gute Atmosphäre bei der Versorgung bei Ärzten und Patientinnen schnell rum und sorgt in der Folge für weitere Aufträge – eine gute und preiswerte Werbung.
Psychologin, Krankenschwester und Modeberaterin
OT: Vom Versorger werden verschiedene Kompetenzen erwartet, die über die technische Expertise hinausgehen. In welche Rollen mussten Sie in Ihrer Berufslaufbahn schon schlüpfen während einer Versorgung?
Prüstel: Allen voran als – ungelernte – Psychologin, auch mit der Aufgabe, evtl. geduldig darauf hinzuweisen, Hilfe zu holen. Als Krankenschwester, also um auch mal ein neues Pflaster anzubringen oder den Hinweis zu geben evtl. zum Arzt zu gehen, wenn mir etwas aufgefallen ist. Und meine Lieblingsrolle – als modische Beraterin und Tippgeberin. Ich habe immer gesagt, ich habe die beste Rolle bei der Versorgung, ich darf den Frauen mit Brustprothesen, Wäsche und Bademode ein bisschen Lebensqualität zurückgeben. Ich habe mich immer sehr für die Kundin interessiert, das hatte viele schöne Erlebnisse zur Folge. Darunter waren Betreuungen in der Schwangerschaft/Stillzeit mit einer Brust, Beratung zum Brautkleid oder wenn eine Kundin mit einer Brust einen Partner gefunden hat. Es gab auch die Schattenseiten: Wenn eine Kundin gestorben ist, dann habe ich z. B. die Entsorgung der Brustprothesen angeboten und oft nicht einfache Gespräche führen müssen.
OT: Wie haben Sie sich fortgebildet?
Prüstel: Durch Schulungen der Hersteller. Darüber hinaus habe ich immer das Gespräch mit Ärzten und Krankenschwestern gesucht und nicht zu vergessen durch die tägliche Arbeit. Ärztekongresse sind auch eine sehr gute Möglichkeit zur Weiterbildung sowie die Lektüre zu den Themen Verkauf, Warenpräsentation, Kataloge und Homepages der Hersteller. Außerdem sollte man immer im Blick behalten, was es bei „normalen“ BH-Herstellern gibt. Ich habe mich und mein Geschäft immer wieder hinterfragt und überlegt, ob die Versorgung ausreichend war.
OT: Fühlten Sie sich mit den Aus- und Fortbildungsmaßnahmen gut informiert oder hätten Sie sich da mehr gewünscht?
Prüstel: Von den Herstellern hätte ich mir mehr gewünscht. Letztlich war es mehr oder weniger immer dasselbe. Dabei ist das Thema sehr umfassend. Persönlich habe ich die psychologischen Aspekte bei der Versorgung als unzureichend empfunden. Bei Schulungen, die nicht aus dem Brustkrebsbereich kamen, gab es mehr Tipps. Und es geht außerdem in meinen Augen viel zu wenig konkret um die Hilfe für den eigentlichen Verkauf/Zusatzverkauf.
OT: Stichwort Kosten. Welche Erfahrungen haben Sie mit Kostenträgern gemacht und sehen Sie die Beratungsleistung von Brustkrebspatientinnen in den verhandelten Verträgen angemessen abgebildet?
Prüstel: Ein klares Nein! Wie schon angeführt ist eine Beratung für zwei Prothesenhalterungen mit dem Zuschuss deutlich unterbezahlt, es sollte bei jeder Versorgung eine pauschale Stundenvergütung mit dabei sein. Des Weiteren der tägliche Kampf mit den Kostenträgern, allen voran um die Maßprothesen. Dabei habe ich mich gefragt: „Warum darf ein Kostenträger oder der Medizinische Dienst entscheiden, wie die optimale Versorgung für die Brustkrebspatientinnen aussieht, aus der Ferne, eben ohne Ahnung von dem Leben und der Leidensgeschichte sowie ohne ausreichende Produktkenntnis?“. Oder die Frage nach der Schwimmprothese. Welche Mitarbeiterin eines Kostenträgers würde sich z. B. am öffentlichen Strand mit Kindern ohne Kabinen beim Umziehen mit einer Brust zeigen wollen? Und dann die noch feuchte Prothese wieder vor allen anderen in den BH fummeln?
OT: Wenn Sie drei Ratschläge an andere Sanitätshausinhaber:innen geben dürften bezüglich der Versorgung von Brustkrebspatientinnen, welche wären das?
Prüstel: Mut, die Aufgabe anzugehen. Gut geschulte Mitarbeiterinnen in diesem Bereich, die Lust darauf haben und in anderen Bereichen entlastet werden. Es ist etwas völlig anderes, einen BH oder eine Brustprothese zu verkaufen. Es hat in meinen Augen nichts mit dem klassischen Sanitätshaus zu tun. Das zu verstehen, ist der Weg zum Erfolg. Und das Wichtigste: Mitarbeiterinnen gut zu bezahlen und für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen und nicht zu vergessen, dass es belastend sein kann mit krebskranken Menschen zu arbeiten.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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