Euro­päi­scher Stan­dard in der Lipödem-Therapie

Auf dem jüngsten Lymphologiekongress der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie in Leipzig brachten mehrere Experten das Gespräch auf das „European Lipoedema-Forum“, von denen sie sich einen europaweiten Paradigmenwechsel in der Lipödem-Behandlung erhoffen.

Das Forum mit Exper­ten aus sie­ben Län­dern traf sich 2018 und 2019 auf Ein­la­dung von Dr. med. Tobi­as Bertsch, Lei­ten­der Ober­arzt an der 1979 gegrün­de­ten Föl­di­kli­nik – Fach­kli­nik für Lym­pho­lo­gie. Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on erklärt der Fach­arzt für Inne­re Medi­zin die Arbeit der euro­päi­schen Initia­ti­ve sowie ihre Aus­wir­kun­gen auf die Lipö­dem-The­ra­pie und den deut­schen Sanitätsfachhandel.

OT: Was war der Anlass für Ihre Ein­la­dung zum „Euro­pean Lipoedema-Forum“?

Tobi­as Bertsch: In den ver­gan­ge­nen Jah­ren wur­de zwei­er­lei immer deut­li­cher: Wir haben inner­halb Euro­pas unter­schied­li­che Stan­dards für die Lipö­dem-Behand­lung. Und die jahr­zehn­te­lang geleb­ten Stan­dards in Deutsch­land ent­beh­ren einer wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­ge. Dar­über hin­aus wider­spre­chen sie den kli­ni­schen Erfah­run­gen unter ande­rem mit rund 3.500 Pati­en­ten, die allein wir jähr­lich in der Föl­di­kli­nik ambu­lant oder sta­tio­när behan­deln. Da aber der Wider­stand gegen Ver­än­de­run­gen in Deutsch­land sehr groß war, habe ich im Juni 2018 renom­mier­te Exper­ten aus ver­schie­de­nen euro­päi­schen Län­dern zum Aus­tausch über das The­ma Lipö­dem nach Ham­burg eingeladen.

OT: Wer nahm am Tref­fen teil? 

Bertsch: In Ham­burg traf sich eine inter­dis­zi­pli­nä­re Exper­ten­grup­pe von lei­ten­den Phy­sio­the­ra­peu­ten, Psy­cho­lo­gen, Adi­po­si­tas-Spe­zia­lis­ten und kon­ser­va­tiv wie chir­ur­gisch täti­gen Ärz­ten aus sie­ben euro­päi­schen Län­dern. Die gro­ße Mehr­heit der Teil­neh­mer sind renom­mier­te und inter­na­tio­nal aner­kann­te Fach­kol­le­gen, die nahe­zu alle bereits zum The­ma Lipö­dem publi­ziert, an natio­na­len Leit­li­ni­en mit­ge­ar­bei­tet haben oder in den Vor­stän­den von Fach­ge­sell­schaf­ten aktiv waren bzw. sind.

OT: Mit wel­chem Ergeb­nis been­de­ten Sie Ihr zwei­tes Tref­fen im März 2019?

Bertsch: Im Ergeb­nis haben wir eine Euro­päi­sche Lipoe­de­ma Kon­sen­sus-Grup­pe gegrün­det, die auf der Basis aktu­el­ler Stu­di­en und der gesam­mel­ten kli­ni­schen Erfah­rung neue Stan­dards für die Lipö­dem-The­ra­pie erstellt hat, die in einem im Nach­gang zu erar­bei­ten­den Kon­sen­sus-Papier ver­öf­fent­licht wer­den soll­ten. In dem Papier woll­ten wir zum einen mit den Mythen rund um das Lipö­dem auf­räu­men und zwei­tens die neu­en „Euro­päi­schen Stan­dards“ für die Lipö­dem-The­ra­pie defi­nie­ren. Das ist uns jetzt nach ein­ein­halb Jah­ren der Zusam­men­ar­beit gelun­gen. Das Inter­na­tio­nal Con­sen­sus Docu­ment „Lipoe­de­ma: a para­digm shift and con­sen­sus“ liegt bereits online vor und erscheint als Bei­la­ge in der Novem­ber-Aus­ga­be des Jour­nal of Wound Care. Eine ers­te Zusam­men­fas­sung des Euro­päi­schen Kon­sen­sus wur­de bereits im Febru­ar 2020 in Teil fünf der Arti­kel­se­rie über das Lipö­dem auf Deutsch in der Zeit­schrift „Phle­bo­lo­gie“ veröffentlicht.

Hohe psy­chi­sche Belas­tun­gen erhö­hen die Schmerzwahrnehmung

OT: Was sind die wich­tigs­ten Bot­schaf­ten des Kon­sen­sus-Papier „Euro­pean Best Prac­ti­ce of Lipoedema“?

Bertsch: Das lässt sich in sechs Punk­ten zusam­men­fas­sen. Ers­tens: Das Lipö­dem ist kei­ne Öde­m­er­kran­kung und muss daher auch nicht „ent­staut“ wer­den. Zwei­tens: Das Lipö­dem ist in der Regel kei­ne fort­schrei­ten­de Erkran­kung. Drit­tens: Das Lipö­dem führt nicht zu einer Gewichts­zu­nah­me. Vier­tens: Bei schwe­rer Adi­po­si­tas führt eine Gewichts­ab­nah­me nach einer Adi­po­si­tas-chir­ur­gi­schen Ope­ra­ti­on zu einer ein­drucks­vol­len Ver­bes­se­rung auch des Lipö­dems. Fünf­tens: Hohe psy­chi­sche Belas­tun­gen, wie zum Bei­spiel Depres­si­on, Ess­stö­run­gen oder chro­ni­sche Stress­be­las­tung, die übri­gens bei etwa 80 Pro­zent unse­rer Pati­en­ten vor­lie­gen, erhö­hen die Schmerz­wahr­neh­mung. Sechs­tens: Die Stu­di­en­la­ge zur Lipo­suk­ti­on ist desas­trös. Wesent­li­che Punk­te wie Adi­po­si­tas oder Ess­stö­run­gen wer­den hier nicht berück­sich­tigt. Letzt­lich pro­fi­tiert nur eine sehr klei­ne Grup­pe von Lipö­dem-Pati­en­ten von die­ser Operationsart.

OT: Wel­che Fol­gen hat das für die Lipödem-Therapie? 

Bertsch: Das hat erheb­li­che Fol­gen! Da Ent­stau­ung beim Lipö­dem nicht ange­sagt ist, wird die Lymph­drai­na­ge ihren Stel­len­wert als The­ra­pie­säu­le ver­lie­ren. Unser ganz­heit­li­cher Ansatz bei der Behand­lung der Lipö­de­me rückt den Pati­en­ten und sein indi­vi­du­el­les Lei­den in den Mit­tel­punkt. Und die­se Lei­den sind viel­fäl­tig. Ers­tens: Die Pati­en­ten lei­den unter schmerz­haf­tem Weich­teil­ge­we­be in den Bei­nen. Zwei­tens: Die Schmerz­in­ten­si­tät hängt aller­dings stark von der psy­chi­schen Situa­ti­on der Pati­en­ten ab. Drit­tens: Die Pati­en­ten neh­men ste­tig an Gewicht zu, das liegt zwar nicht am Lipö­dem, aber an der oft damit ver­bun­de­nen Adi­po­si­tas. Vier­tens: Etwa die Hälf­te der Pati­en­ten mit Lipö­dem lei­den unter einer schwe­ren Form der Adi­po­si­tas und damit ein­her­ge­hend auch unter einer ein­ge­schränk­ten Mobi­li­tät und redu­zier­ter Fit­ness. Fünf­tens: Die Pati­en­ten lei­den auf­grund des gegen­wär­ti­gen Schön­heits­ide­als, wel­ches dün­ne Bei­ne prä­fe­riert, unter man­geln­der Selbst­ak­zep­tanz des eige­nen Körpers.

OT: Was bedeu­tet die­ser Kon­sen­sus für Pati­en­ten und Sani­täts­häu­ser in Deutschland? 

Bertsch: Für Pati­en­ten ver­bes­sert sich die Situa­ti­on, weil sie end­lich die indi­vi­du­ell auf ihr jewei­li­ges Lei­den zuge­schnit­te­ne Behand­lung erfah­ren. Die Sani­täts­haus­mit­ar­bei­ter müs­sen sich natür­lich auch mit den neu­en Stan­dards ver­traut machen, sofern sie sich damit noch nicht befasst haben. Sie ver­fü­gen aber meist über mehr Kom­pe­tenz in Sachen Kom­pres­si­on als Ärz­te. Kom­pres­si­on hat auf­grund sei­ner anti­in­flamm­a­to­ri­schen – und damit schmerz­re­du­zie­ren­den – Effek­te einen hohen Stel­len­wert im Euro­päi­schen Kon­sen­sus. Neben der Beschwer­de­bes­se­rung wird durch das Tra­gen der – mög­lichst flach­ge­strick­ten – Kom­pres­si­ons­strümp­fe auch das über­pro­por­tio­nal vor­han­de­ne Weich­teil­ge­we­be gestützt, mecha­ni­sche Beein­träch­ti­gung der Bewe­gung durch anein­an­der­rei­ben­de Haut­lap­pen ver­rin­gert und dadurch eine Ver­bes­se­rung der Mobi­li­tät ermög­licht. Da die Com­pli­ance der Pati­en­tin auch von der Mate­ri­al­qua­li­tät, Far­be, Mus­ter und des Kon­tur­ef­fekts abhängt, ist die gut geschul­te Fach­kraft im Sani­täts­haus von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung. Die Mit­ar­bei­te­rin im Sani­täts­haus ist aber dar­über hin­aus bei die­ser Pati­en­ten­grup­pe beson­ders gefor­dert: Pati­en­tin­nen mit Lipö­dem benö­ti­gen auf­grund der häu­fig bestehen­den psy­chi­schen Begleit­pro­ble­ma­tik ein hohes Maß an Empa­thie, Ver­ständ­nis und Geduld.

OT: Wie haben Lipö­dem-Exper­ten, die nicht Teil der Kon­sen­sus-Grup­pe sind, bis­her auf das Papier reagiert? 

Bertsch: Von der Mehr­heit unse­rer Kol­le­gen bekom­men wir ein über­aus posi­ti­ves Feed­back. Schon jetzt haben renom­mier­te Mei­nungs­füh­rer aus zehn euro­päi­schen Län­dern und dar­über hin­aus aus den USA und Kana­da ihre Unter­stüt­zung zuge­sagt. So stimmt zum Bei­spiel auch der US-Ame­ri­ka­ner Guen­ter Klo­se, der das welt­weit größ­te Aus­bil­dungs­in­sti­tut für Lymph­the­ra­peu­ten lei­tet, mit uns über­ein, sodass wir hof­fen, dass der Para­dig­men­wech­sel auch in den USA und Kana­da ankommt. Natür­lich gibt es Kol­le­gen, die auf ihrem jahr­zehn­te­al­ten Pfad wei­ter gehen wol­len. In Deutsch­land besteht aber bereits seit etwa zwei Jah­ren mehr­heit­lich ein Kon­sens der meis­ten Fach­kol­le­gen über die anste­hen­den Ver­än­de­run­gen. Die Imple­men­tie­rung in den ein­zel­nen Kli­ni­ken und Pra­xen wird aber nicht von heu­te auf mor­gen gelin­gen. Ein drit­tens Tref­fen mit renom­mier­ten Exper­ten aus zehn euro­päi­schen Län­dern, auf dem unter ande­rem auch die­se Imple­men­tie­rung The­ma sein wird, berei­te ich gera­de vor. Die­ses soll im Mai 2021 in Kopen­ha­gen stattfinden.

OT: Wor­an erken­nen Pati­en­ten, ob eine Kli­nik oder Pra­xis nach den Stan­dards des Kon­sen­sus-Papiers arbeitet?

Bertsch: Gute Fra­ge. Alle Kli­ni­ken und Pra­xen, die nach dem euro­päi­schen Stan­dard arbei­ten, soll­ten das im nächs­ten Schritt auf ihren Home­pages kom­mu­ni­zie­ren. Natür­lich müs­sen wir die Pati­en­ten auch direkt errei­chen und infor­mie­ren. Öffent­lich­keits­ar­beit ist daher auch Bestand­teil der neu­en Lipö­dem-Leit­li­ni­en, die feder­füh­rend von der Deut­schen Gesell­schaft für Phle­bo­lo­gie aktu­ell gera­de erstellt wer­den. Hier bin ich unter ande­rem auch als Teil der Arbeits­grup­pe „Öffent­lich­keits­ar­beit“ mit dar­an betei­ligt. Wir hof­fen, im Lau­fe der ers­ten Jah­res­hälf­te 2021 die neue natio­na­le Lipö­dem-Leit­li­nie der Öffent­lich­keit vor­stel­len zu kön­nen, die die bis­he­ri­ge von 2015 erset­zen wird.

Das Kon­sen­sus-Doku­ment „Lipoe­de­ma: a para­digm shift and con­sen­sus“ ist hier bereits online zu finden.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

 

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