OT: Was hat Sie und Ihre Partner bewogen, an der Weiterentwicklung bionischer Armprothesen zu forschen?
Oskar Aszmann: Ich arbeite seit 2007 an bionischen Armprothesen. Auslöser war ein junger Mann, der durch einen Stromausfall beide Arme verloren hatte, und für den klassische Versorgungen sicher zu kurz gegriffen hätten. Biologische Alternativen, wie eine Hand- oder Armtransplantation, kamen nicht infrage und so mussten wir in Bezug auf prothetische Rekonstruktion nach neuen Lösungen suchen. Im Rahmen dieser Suche bin ich auf Dr. Hans Dietl, dem damaligen CEO von Ottobock Österreich, gestoßen. Sehr schnell hat sich zwischen uns eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt, welche bis heute ein beträchtliches Forschungsfeld eröffnet hat. Die MedUni Wien hat gemeinsam mit der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Ottobock und dem Rehabilitation Institute Chicago die ersten gedankensteuerten Armprothesen entwickelt. Der Clou daran war die Gestaltung des „Interface“: Das heißt die Möglichkeit, eine Vielzahl von Bio-Signalen für die Bewegung der Prothese vom Körper in die Prothese zu leiten. Allerdings waren diese Prothesen sehr schwer, sie konnten nicht ohne fremde Hilfe angelegt werden und die Signalüberleitung war nicht immer stabil und funktionierte nur als Einbahnstraße von Mensch zu Maschine. Hier gab es also genügend Potenzial für Weiterentwicklungen.
Bei Patienten nach Handverlust gibt es ausreichend gute Systeme am Markt. Bei Amputationen oberhalb des Ellenbogens sieht das ganz anders aus. Hier können Prothesen aber nur schwer stabil angebracht werden und die Signalübertragung ist limitiert, fehleranfällig und meist unzureichend, um den Alltag selbstständig zu meistern. Um unabhängig von Assistenz zu werden, brauchen Anwender mit Amputationen oberhalb des Ellenbogens Prothesen, die weitere Bewegungen ausführen können.
Vor diesem Hintergrund entstand für uns ein klares Aufgabengebiet: Die Anzahl und Qualität der Bio-Signale von Mensch zu Maschine zu erweitern und zu verbessern sowie die Anbindung der Prothese an den Menschen stabiler und komfortabler zu machen. Beides geht Hand in Hand, je stabiler die Prothese passt, desto stabiler können die Signale gesendet und empfangen werden. Nicht zu unterschätzen ist zudem, dass die Passgenauigkeit der Prothese und die Anzahl der Bewegungsmöglichkeiten die Akzeptanz der Prothese durch den Anwender erhöht.
OT: Wie haben Sie das Projekt finanziert?
Aszmann: In Österreich gibt es eine Förderschiene, welche spezielle Projekte im Rahmen einer Public-Private Partnership unterstützt. Die Christian Doppler Forschungsgesellschaft hat in Folge unsere Konzepte gemeinsam mit der Firma Ottobock Healthcare Products von 2012–2019 unterstützt. Die Projekte sind in dieser Zeit so umfassend gewachsen, sodass der European Research Council (ERC) 2018 das Folgeprojekt „Natural BionicS“, welches sich mit Bionischer Rekonstruktion und der Entwicklung innovativer Bionik-Technologien befasste, insgesamt 10 Millionen Euro Forschungssumme zusprach. Dieses Projekt stellt eine Zusammenarbeit mit Dario Farina vom Imperial College in London und Antonio Bicchi von Italienischen Institut für Technologie in Genua dar und hat eine Laufzeit bis Ende 2026.
Damit hatten wir genug Mittel, um uns gemeinsam mit den Kooperationspartnern an die Lösung der Aufgabe zu machen, und die Forschungssumme hat zur Gründung des klinischen Labors für Bionische Extremitätenrekonstruktion an der MedUni Wien geführt.
OT: Wer sind die Kooperationspartner?
Aszmann: Schon vom ersten Moment an entstand ein multinationales Netzwerk, dessen Mitglieder bis heute eng zusammenarbeiten. Dieses Netzwerk ist vor allem aufgrund der unterschiedlichen Expertisen notwendig. Entwicklungen auf dem Gebiet biomedizinischer Technik, Neurobiologie, Elektroingenieurwesen, chirurgischer Forschung und Physiologie waren notwendig, um diese Aufgaben lösen zu können. Hier sind vor allem Rickard Brånemark vormals am Sahlgrenska University Hospital in Gothenburg und inzwischen am Massachussetts Institute of Technologya (Center für Extreme Bionics) tätig, und Max Ortiz Catalan vom Department of Electrical Engineering, Chalmers University of Technology sowie Otto Bock Healthcare Products, zu nennen.
OT: Wie sah die Zusammenarbeit der Partner aus?
Aszmann: Eine solche Zusammenarbeit funktioniert nur mit einer klaren Teilung der Aufgaben und Verantwortungen, damit nichts vergessen oder zwei Mal angefasst wird.
Mit Rickard Brånemark haben wir den Experten für Osseointegration an Bord. Max Ortiz Catalan und Enzo Mastinu sind für das Herzstück dieses Implantates verantwortlich: die elektronischen Bauteile, die die Signale von Mensch zur Maschine und zurück zum Menschen leiten sollen und dies unter Einbeziehung der osseointegrierten Prothese. Meine Aufgabe war es, die Nerven entsprechend zu verlagern, damit die elektronischen Bauteile bestmöglich mit dem Nervensystem der Patienten verknüpft werden und damit mehr Bio-Signale als bisher üblich abgeleitet und empfangen werden können.
OT: Wie sieht das System im Einzelnen aus?
Aszmann: Aufgabenstellung war eine stabilere Anbringung der Armprothese und eine Verbesserung der Bio-Signale. Deshalb bringen wir im ersten Schritt die Prothese als osseointegrierte Variante an, setzen also ein Implantat in den Knochen. Am Implantat wird die Armprothese direkt angebracht. Fester und stabiler kann man eine Prothese nicht anbringen.
Außerdem erlaubt das Implantat, dass wir im zweiten Schritt die Kabel, die wir für den Signal-Transport brauchen, hierin verstecken. Kabel müssen also nicht durch die Haut geführt werden, was für Anwender sehr gewöhnungsbedürftig ist.
Mit dem im Körper integrierten elektronischen Bauteil können wir sechs High-Fidelty-Signale glasklar ableiten und sechs Bewegungen ermöglichen. Außerdem senden die maschinellen Finger wiederum Rückmeldungen über ihre Bewegung an den Menschen. Damit ist dieses Prothesensystem auch weltweit das erste bidirektionale voll implantierte System, welches Nervensignale in die Prothese schickt und wieder zurückleitet.
Anwender können somit viel besser als bisher die „sensible“ Prothese als einen Teil von sich selbst begreifen und annehmen. Dieser Effekt wird verstärkt, weil die osseointegrierte Prothese eben direkt am Skelett des Patienten hängt und sehr einfach an- und abgelegt werden kann.
OT: Wie hoch ist der chirurgische Aufwand?
Aszmann: Im Durchschnitt dauert so eine Operation sechs Stunden. Im OP brauchen sie ein Team von etwa zehn Top-Spezialisten, zu denen übrigens auch Max Ortiz Catalan und zwei seiner Techniker gehören. Denn wir prüfen im OP, ob die sechs Signale auch wirklich senden. Bisher haben wir vier Patienten mit dem Plug-and-Play-System ausgestattet. Dabei haben wir natürlich auch die eine oder Ecke oder Kante entdeckt, die wir im folgenden Prozess noch verbessern können. Weitere elf Patienten wurden vom Ethikrat der Universität Göteborg für das Verfahren freigegeben und warten noch auf den Eingriff.
OT: Bei welchen Indikationen halten Sie den Einsatz der neuen Prothese für sinnvoll?
Aszmann: Grundsätzlich ist das System für alle Patienten geeignet, an deren Oberarmen Prothesenschäfte nicht mehr oder nur sehr instabil angebracht werden können, also bei allen oberhalb des Ellbogens Amputierten. Bei Amputationen unterhalb des Ellenbogens gibt es wie gesagt bereits weniger aufwendige und gute Versorgungskonzepte. Aber natürlich muss man immer – wie bei jeder Prothesenversorgung – das sozio-ökonomische Umfeld betrachten, die psychische und physische Verfassung beachten und die individuellen Bedürfnisse mit einkalkulieren. Derzeit kann die Anpassung dieses Prothesensystems nur von wenigen Spezialisten durchgeführt werden, sodass ein hoher Kostenaufwand dahintersteckt.
OT: Wie lange brauchten die vier Test-Anwender für die Eingewöhnung?
Aszmann: Das kommt darauf an. Wenn ein Patient bereits eine osseointegrierte Prothese besaß, fällt die postoperative Abheilung sehr viel schneller aus. Wenn wir bei null anfangen, muss der Patient mit etwa drei Monaten Abheilungsprozess des Implantats rechnen und weiteren drei Monaten, bis die Bio-Signale in beiden Richtungen eingeübt sind. Wir gehen daher von drei bis sechs Monaten aus, bis die Prothese voll einsatzbereit ist. Für die Patienten ist diese Versorgung ein Meilenstein, den wir alle noch vor Jahren nicht hofften, erreichen zu können. Für uns alle im Projektteam ist zudem die multinationale und multiprofessionelle Zusammenarbeit ein Gewinn.
OT: Welche Rolle spielen Orthopädie-Techniker beim Versorgungsprozess?
Aszmann: Wir arbeiten im Labor seit rund 15 Jahren mit zwei sehr erfahrenen Orthopädietechnikern zusammen, die über zahlreiche Weiterbildungszertifikate verfügen und sich mit komplexen und experimentellen Versorgungen auskennen. Einer von beiden ist auch immer bei unseren wöchentlichen Sprechstunden dabei. Auch für unser neues System gilt, dass Orthopädietechniker immer frühzeitig eingebunden werden sollten. Allerdings braucht es für das Plug-and-Play-System wirklich sehr erfahrene und umfassend aus- und weitergebildete Techniker, die sich insbesondere auf dem Gebiet der Osseointegration auskennen.
OT: Geht ihre Kooperation weiter?
Aszmann: Auf jeden Fall! Selbst die Corona-Pandemie konnte uns nicht auseinanderbringen (lacht). Ist das Vertrauen offline erst aufgebaut, funktioniert die Zusammenarbeit auch per Internet hervorragend. Manchmal sogar fokussierter als offline.
OT: Woran arbeiten Sie derzeit?
Aszmann: Wir haben mit dem voll integrierten Prothesensystem einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Im nächsten Schritt, also in den nächsten etwa fünf Jahren, gilt es, die Signalübertragung von Kabel auf kabellos umzustellen. Das biologische Milieu ist für elektrische Bauteile sehr aggressiv, sodass die zumindest bisher verwendeten Kabel keine unbegrenzte Lebensdauer haben. Jeder Austausch eines Kabels oder Kabelstücks bedeutet aber eine neue aufwendige und immer mit einem gewissen Risiko behaftete Operation für den Anwender. Deshalb arbeiten wir derzeit an der kabellosen Übertragung der Nervensignale bei gleicher Signalqualität.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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