Exo­ske­lett für Hän­de nach dem Lego-Prinzip

Das Ulmer Start-up HKK Bionics GmbH hat die nach eigenen Angaben erste myoelektrische Handorthese mit Einzelfingeransteuerung für vollständig gelähmte Hände entwickelt, die es zur OTWorld in den Markt einführen will. Die „Exomotion Hand One“ ist ein Exoskelett für Hände, das alltagsrelevante Greifaufgaben ermöglichen soll und in der orthopädietechnischen Werkstatt aus einem Bauteilesatz zusammengebaut wird. Herzstück ist eine individuelle Unterarmschiene, die alle Komponenten inklusive der Antriebe verbindet. Diese Schiene wird von HKK Bionics – einer Ausgründung der Technischen Hochschule Ulm THU – wie auch alle anderen Kunststoffteile 3D-gedruckt und basiert auf einem Scan, den der Orthopädie-Techniker vornimmt. Trotzdem spielt Gips bei der Herstellung der Orthese noch eine Rolle. Dominik D. Hepp, Mitgründer und Geschäftsführer der Firma, erläutert die Funktionen und Einsatzgebiete der Orthesenhand.

OT: Wann ent­stand die Idee zu die­ser Entwicklung?
Domi­nik D. Hepp: Am Anfang stand ein Bache­lor-Pro­jekt zu bio­ni­schen Hilfs­mit­teln wäh­rend mei­nes Medi­zin­tech­nik-Inge­nieur­stu­di­ums an der THU im Jahr 2011. Außer­dem konn­te ich als Jugend­li­cher nach einem Ver­kehrs­un­fall über meh­re­re Mona­te mei­ne Hän­de nicht benut­zen. Die­se Erfah­rung hat mich nach­hal­tig geprägt. In Zusam­men­ar­beit mit mei­nem Kom­mi­li­to­nen Tobi­as Knob­loch ent­stand aus den Ideen ein Pro­to­typ. Mit­hil­fe eines EXIST-Grün­der­sti­pen­di­ums star­te­ten wir 2015 die Aus­grün­dung. 2017 haben wir unse­re GmbH gegrün­det, um die Orthe­se zur Markt­rei­fe zu brin­gen. Wir haben das Pro­dukt paten­tiert, in weni­gen Wochen sind wir CE-zer­ti­fi­ziert und wir berei­ten bis zur OTWorld die Markt­ein­füh­rung vor.

OT: Wie funk­tio­niert die „Exo­mo­ti­on Hand One“?
Hepp: Die Hand kommt mit nur einem elek­tro­m­yo­gra­fi­schen (EMG) Sen­sor aus. Die­ser sitzt auf einem noch intak­ten Mus­kel des ent­spre­chen­den Arms. Im Zusam­men­spiel mit einer Soft­ware erkennt der EMG-Sen­sor die Bewe­gungs­ab­sicht des Trä­gers. Griff­mus­ter wer­den akti­viert und leis­tungs­star­ke Klein­st­an­trie­be in der Arm­schie­ne ange­steu­ert. Die­se lei­ten gezielt Kraft in die Mecha­ni­ken des zuge­hö­ri­gen Sili­kon­hand­schuhs ein. Dadurch wer­den die Fin­ger geöff­net, geschlos­sen und es wird die nöti­ge Griff­kraft bereit­ge­stellt. Eine Unter­arm­schie­ne führt alle Kom­po­nen­ten zusam­men. Die­se Schie­ne wird pati­en­ten­in­di­vi­du­ell per 3D-Druck gefer­tigt und vom Ortho­pä­die-Tech­ni­ker mit den ande­ren Orthe­sen­bau­tei­len wie bei einem Bau­kas­ten ver­bun­den. Das Gerät ist im Übri­gen spritz­was­ser­ge­schützt, ein Som­mer­ge­wit­ter macht der Ver­sor­gung nichts aus.

OT: Für wel­che Krank­heits­bil­der ist die Orthe­se geeignet?
Hepp: Unser Exo­ske­lett kann bei Läh­mun­gen an der Hand, die von Schlag­an­fäl­len oder Ner­ven­ver­let­zun­gen her­rüh­ren, ein­ge­setzt wer­den. Für die Steue­rung wird im Opti­mal­fall ein Mus­kel im betref­fen­den Arm, bes­ten­falls im Unter­arm, aus­ge­wählt. Dabei genügt ein ein­zi­ger akti­ver Mus­kel. Ist dort kei­ne Mus­kel­ak­ti­vi­tät mehr vor­han­den, kann auf ande­re Mus­keln des Kör­pers aus­ge­wi­chen wer­den. Bei voll­stän­di­ger halb­sei­ti­ger Läh­mung ist die Eig­nung für die Orthe­se im Ein­zel­fall zu prüfen.

OT: Wel­che Vor­aus­set­zun­gen müs­sen ansons­ten erfüllt sein?
Hepp: Die Fin­ger­ge­len­ke müs­sen mecha­nisch frei­gän­gig sein. Das heißt, bei star­ker Spas­tik oder einer jah­re­lang nicht the­ra­pier­ten, stark kon­tra­hier­ten Hand ist unse­re Orthe­se nicht ein­setz­bar. Der Hand­schuh ist nicht dazu gedacht, die Hand auf­zu­deh­nen. Zudem müs­sen die Nut­zer voll­jäh­rig sein – zum einen aus recht­li­chen Grün­den, zum ande­ren wäre das Kon­zept der ana­to­misch ange­pass­ten Orthe­sen­hand bei einem Anwen­der, der sich noch im Wachs­tum befin­det, durch die stän­dig erfor­der­li­chen Erneue­run­gen sehr kostspielig.

OT: Wie ist die Bedien­ein­heit konzipiert?
Hepp: Das Touch­dis­play mit der Steu­er­ein­heit, in der auch der Akku unter­ge­bracht ist, lässt sich am Hosen­bund oder Gür­tel befes­ti­gen. Ein bio­kom­pa­ti­bles Kabel ver­bin­det die Bedien­ein­heit mit der Hand. Über das Touch­dis­play las­sen sich zwei Grif­fe zur direk­ten Steue­rung mit­tels EMG-Sen­sor vor­aus­wäh­len. Das Gerät unter­schei­det zwi­schen einer kur­zen und einer lan­gen Mus­kel­kon­trak­ti­on. Damit wer­den Steue­rungs­be­feh­le wie Öff­nen, Schlie­ßen oder der Wech­sel zwi­schen den bei­den prio­ri­sier­ten Grif­fen aus­ge­führt, ohne das Touch­dis­play zu benut­zen. Zum bes­se­ren Hand­ling hat das Dis­play ein Gelenk mit Ein­rast­funk­ti­on, man kann es somit nach oben klap­pen und bes­ser sehen.

OT: Wie vie­le Grif­fe sind ins­ge­samt möglich?
Hepp: Die Orthe­se ver­fügt über sechs ver­schie­de­ne Griff­ar­ten, dar­un­ter die geschlos­se­ne Faust, der soge­nann­te Scheck­kar­ten­griff, bei dem sich nur der Dau­men bewegt, oder der Zei­ge­fin­ger­griff, mit dem man zum Bei­spiel eine PC-Tas­ta­tur bedie­nen kann. Auch die Bedie­nung der Com­pu­ter­maus ist möglich.

OT: Gibt es zur Steue­rung auch eine App?
Hepp: Nein, eine App steht noch auf unse­rer Wunsch­lis­te. Wir haben die Orthe­se zu einem Zeit­punkt ent­wi­ckelt, als noch kei­ner genau wuss­te, wohin die neue Euro­päi­sche Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung (Medi­cal Device Regu­la­ti­on, MDR) füh­ren wird. Bei den The­men Son­der­an­fer­ti­gun­gen und App-Soft­ware gab es etli­che Fra­ge­zei­chen. Des­halb haben wir uns für eine ein­ge­bet­te­te Soft­ware­lö­sung ent­schie­den – das kann sich in Zukunft zuguns­ten einer App ändern.

OT: Wie schwer ist das System?
Hepp: Die Ver­sor­gung an der Hand wiegt rund 600 Gramm. Die Bedie­nungs­ein­heit mit Akku und Touch­dis­play, die am Gür­tel getra­gen wird, wiegt 500 Gramm. Der Akku ist fest verbaut.

OT: Wie lan­ge hält der Akku?
Hepp: Das kommt auf die Nut­zungs­in­ten­si­tät an. Bei durch­schnitt­li­cher Nut­zung hält er von mor­gens bis abends. Zudem hat er eine Schnell­la­de­funk­ti­on, ist in zwei Stun­den aufgeladen.

OT: Das Pro­dukt ist kon­form zur neu­en MDR?
Hepp: Ja. Das Bau­kas­ten­sys­tem als Basis einer pati­en­ten­in­di­vi­du­el­len Son­der­an­fer­ti­gung der Gesamt­or­the­se durch den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker ent­spricht nach heu­ti­gem Stand den Anfor­de­run­gen der neu­en MDR.

OT: Wie funk­tio­niert die­ses Baukastenprinzip?
Hepp: Zuerst lie­fern wir dem Ortho­pä­die-Tech­ni­ker einen Satz Fin­ger­me­cha­ni­ken. Der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker erstellt einen Gips­ab­druck von Hand und Unter­arm des Pati­en­ten. Nach die­sem Abdruck fer­tigt er den Sili­kon­hand­schuh bzw. die Sili­kon­fin­ger­lin­ge, die er mit unse­ren Exo­me­cha­nik-Stan­dard­tei­len ver­sieht. Vom Gips­mo­dell erzeugt er außer­dem einen 3D-Scan, den er uns sen­det. Wir kon­stru­ie­ren die pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Arm­schie­ne mit der Abde­ckung, die die Antrie­be ver­schließt. Sie wird dann bei einem pro­fes­sio­nel­len 3D-Dienst­leis­ter mit­tels SLS-Ver­fah­ren (selek­ti­ves Laser­sin­tern) gedruckt. Auch alle ande­ren Kunst­stoff­tei­le kom­men aus dem 3D-Dru­cker. Fin­ger­me­cha­nik, Arm­schie­ne und Cover kön­nen in nahe­zu jeder RAL-Far­be ein­ge­färbt wer­den. Zum Schluss baut der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker die Ein­zel­tei­le zusammen.

OT: Also eine Art „Orthe­sen-Lego“?
Hepp: Im Prin­zip ja. Von uns kommt ledig­lich der Bau­satz, aus dem die pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Son­der­an­fer­ti­gung ent­steht. Außer der ange­pass­ten Arm­schie­ne haben wir alle Ele­men­te stan­dar­di­siert und bezie­hen die­se von Lie­fe­ran­ten und Her­stel­lern aus Deutsch­land, dazu gehö­ren eben­falls das Antriebs­pa­ket, der Sen­sor und die Bedieneinheit.

OT: Ganz ohne Gips geht es nicht?
Hepp: Eine gelähm­te Hand ist schwie­rig zu scan­nen, weil sie nicht in der nöti­gen Posi­ti­on bleibt. Da ist der klas­si­sche Gips im Vor­teil. Zudem braucht man für den Sili­kon­hand­schuh sowie­so ein Gips­mo­dell. Es ist ein­fa­cher, die­ses einzuscannen.

OT: Braucht der Ortho­pä­die-Tech­ni­ker eine spe­zi­el­le Qua­li­fi­ka­ti­on, um die „exo­mo­ti­on hand one“ anzubieten?
Hepp: Ja, dem geht eine Schu­lung voraus.

OT: Wie vie­le Nut­zer haben die Orthe­se getestet?
Hepp: Wir haben bis­her ein­zel­ne Anwen­dungs­er­pro­bun­gen durch­ge­führt. Unter­su­chun­gen zur Nut­zer­freund­lich­keit haben wir im Som­mer 2019 vor­ge­nom­men. Ers­te Anwen­dungs­be­ob­ach­tun­gen erfolg­ten kurz vor Jah­res­wech­sel des ver­gan­ge­nen Jah­res. Das Feed­back war posi­tiv. Unser Kon­zept eines ganz­tä­gig, also von mor­gens bis abends ein­setz­ba­ren Hilfs­mit­tels, hat in der Pra­xis funktioniert.

OT: Wor­in lag für die Test­nut­zer der größ­te Vorteil?
Hepp: Am hilf­reichs­ten ist das Gerät, wenn bei­de Hän­de gebraucht wer­den – zum Bei­spiel beim Tra­gen einer gro­ßen Kis­te oder eines Wäsche­korbs. Auch beim Gemü­se­schnei­den, beim Anzün­den eines Streich­hol­zes oder beim Ein­schen­ken, wenn man neben der Fla­sche eben­falls das Glas hal­ten muss.

OT: Gibt es Anwendungsstudien?
Hepp: Noch nicht. Für 2020 ist eine Stu­die gemein­sam mit der Kli­nik für Neu­ro­chir­ur­gie im Bezirks­kran­ken­haus Günz­burg geplant.

OT: Wo wird die Orthe­se künf­tig vertrieben?
Hepp: Wir begin­nen in Süd­deutsch­land. In den nächs­ten Wochen neh­men wir mit dem Ulmer Sani­täts­haus Häuss­ler, mit dem wir schon län­ger zusam­men­ar­bei­ten, ers­te Ver­sor­gun­gen vor. Im Lau­fe des Jah­res wol­len wir mit wei­te­ren Sani­täts­häu­sern in ganz Deutsch­land zusam­men­ar­bei­ten. Als zwei­ten Schritt wol­len wir die Märk­te in Öster­reich und der Schweiz bedienen.

OT: Über­neh­men die Kran­ken­kas­sen die Kosten?
Hepp: Das wird sich in den nächs­ten Mona­ten zeigen.

OT: Was kos­tet das Produkt?
Hepp: Nach Kal­ku­la­ti­on wird ein Kos­ten­vor­anschlag erstellt. Die Kos­ten hän­gen stark davon ab, ob ledig­lich die Hand selbst gefer­tigt wird oder das Sani­täts­haus noch ein mecha­ni­sches Gelenk als Unter­stüt­zung für den Ellen­bo­gen bau­en muss. Ins­ge­samt sind Ver­sor­gungs­pro­zess und Preis ähn­lich wie bei einer myo­elek­tri­schen Handprothese.

OT: Wie lan­ge dau­ert es, bis das Gerät letzt­lich fer­tig ist?
Hepp: Ich rech­ne mit 1,5 bis 2 Mona­ten bis zu Anpro­be des fer­ti­gen Pro­dukts. Das hängt nicht zuletzt von den Arbeits­ab­läu­fen des Ortho­pä­die-Tech­ni­kers, aber auch vom Druck der indi­vi­du­el­len Schie­ne ab. Die Dau­er von Geneh­mi­gungs­pro­zes­sen bei den Kran­ken­kas­sen sind hier noch nicht berücksichtigt.

OT: Wie wird die Ent­wick­lung weitergehen?
Hepp: Mit der Exo­ske­lett­me­cha­nik las­sen sich eben­falls pas­si­ve Arm­schie­nen bau­en. Wir pla­nen eine ver­ein­fach­te Ver­si­on als post­ope­ra­ti­ve Schie­ne, die die Fin­ger in eine gewünsch­te Stre­ckung oder Beu­gung bringt. Dafür braucht man kei­ne teu­re Antriebs­tech­nik, hat aber eine kom­for­ta­ble­re Alter­na­ti­ve zum klas­si­schen „Metall­gal­gen“. Auch Radia­lis­ver­let­zun­gen mit der klas­si­schen Fall­hand soll­ten sich ver­sor­gen las­sen. Außer­dem arbei­ten wir als Ent­wick­lungs­part­ner in einem Pro­jekt der Ber­li­ner Cha­ri­té zur Mensch-Maschi­ne-Schnitt­stel­le. Dabei geht es um die Gedan­ken­steue­rung von Handexoskeletten.

Das Inter­view führ­te Cath­rin Günzel.

Michael Blatt
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