Die in der Spitze am zweiten Veranstaltungstag mehr als 200 Teilnehmer der Fachtagung wollten sich schließlich keinen Beitrag der eingeladenen Experten entgehen lassen. Zum Auftakt am Freitag stand der kompetente Austausch zwischen Technikern und Medizinern im Fokus, den die FOT zusammen mit dem örtlichen BG Klinikum Bergmannstrost als Partner initiiert hatte. Im Anschluss an die offizielle Begrüßung durch FOT-Präsident Ingo Pfefferkorn stellten unter anderem Ärzte aus dem Bergmannstrost verschiedene Versorgungskonzepte zu den Schwerpunkten „Trauma, Handverletzung, Brandverletzung“, „Amputationschirurgie“ und „Schlaganfall“ vor. „Trotz modernster medizinischer Verfahren sind nach Verletzungen verbleibende Funktionseinbußen oder gar Amputationen nicht immer vermeidbar. Die orthetische und exoprothetische Hilfsmittelversorgung ist uns aus diesem Grund ein besonders Anliegen“, betonte Prof. Dr. Dr. Gunther O. Hofmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Bergmannstrost. Einen universellen Überblick über die therapeutischen Leistungen für Schlaganfall-Patienten in den Bereichen Physio‑, Ergo- und Logopädische Therapie gaben am zweiten Tag in aufeinanderfolgenden Beiträgen drei Experten vom Klinikum Karlsbad Langensteinbach vor. Die Resonanz aus dem Publikum in der folgenden Diskussionsrunde zeigte, dass auf Seiten der Orthopädietechniker auch der interdisziplinäre Fachaustausch mit Vertretern anderer nicht-medizinischer Gesundheitsberufe gewünscht ist.
Allerdings dokumentierten im Verlauf der Veranstaltung gleich mehrere Fallbeispiele, dass die Rolle des Orthopädietechnikers in der sogenannten Stroke-Unit, der speziellen Akut-Versorgung von Schlaganfallpatienten in der Klinik, nur sporadisch ausgefüllt wird. „Der OTler kommt zu spät an den Patienten“, bemängelte bspw. Bernhard Preisler, Egelsbach, und führte fort: „Die Weichen werden auf der Intensivstation gestellt. Eine frühe Orthesenversorgung ist entscheidend.“ Rund 40 Prozent der Betroffenen hätten im Anschluss mit mittleren oder starken Nachwirkungen zu kämpfen. Preisler plädierte in Halle für eine Frühmobilisation ab dem 2. Tag nach einem Schlaganfall: „Eine Woche Immobilität kostet bis zu 25 Prozent der Muskelmasse.“ Auf letztgenannten Umstand hatte bereits Jochen Schickert, Markkleeberg, im Verlauf seiner Schilderungen zum Einsatz von Orthesen im Bereich der oberen Extremität (OEX) hingewiesen. Ziel müsse die Rückführung betroffener Gelenke in eine neutrale Stellung sein, wie auch Heike Oberländer, Erfurt, in ihrem Vortrag zur Schlaganfallversorgung der unteren Extremität (UEX) bestätigte. Dabei sei zu beachten, die Orthese kontinuierlich dem sich verändernden Mobilitätslevel des Patienten anzupassen. Anhand eines Versorgungsbeispiels dokumentierte sie die verschiedenen Vorteile der Material-Nutzung von Carbonfasern bei der Maßanfertigung einer Ganzbein- oder Unterschenkelorthese, sowohl hinsichtlich der Belastbarkeit als auch in Bezug auf das geringe Volumen: „Wir wollen in den Schuh reinkommen.“
Allein in Deutschland kommt es, so Benedikt Preisler, jährlich zu rund 200.000 Schlaganfällen. Darunter seien circa 60.000 wiederholte Fälle. Ebenfalls 60.000 Fälle endeten tödlich. Mona Seifert-Maciejczyk, Bad Krozingen, wies in ihrem Beitrag daraufhin hin, dass die Erkrankungen keinesfalls in der Regel nur ältere Personen betreffe: „Das Patientenklientel wird immer jünger.“ Seifert empfahl bei Untersuchungen des Gangbildes von Schlaganfallpatienten die Anwendung des standardisierten GAIT-Klassifikationsschemas, um ein möglichst eindeutiges Therapieziel formulieren zu können und gleichermaßen den interdisziplinären Versorgungsdialog zu vereinfachen. Zwei Produktvorstellungen zur orthetischen Versorgung nach Schlaganfall vervollständigten den Vortragsblock.
Blick über den Tellerrand
Nach einer gesprächsintensiven Mittagspause und ausgiebiger Ausstellerfrequentierung widmete sich die FOT-Tagung der Funktionellen Elektrostimulation (FES). Erneut wagten die Programmgestalter hier einen Blick über den Tellerrand und räumten Dr. Thomas Schauer, Berlin, für seine Ausführungen zum therapeutischen Schwimmen mit Elektrostimulation in der Rehabilitation nach Querschnittslähmung sogar die doppelte Vortragszeit ein. Den Staffelstab nahm Günter Bieschinski, Troisdorf, auf und verlagerte den Schauplatz der Versorgung ins Sanitätshaus. Hier seien nicht nur geeignete Anwender zu identi_ zieren, die „voll hinter der Versorgung stehen“, sondern ebenso Kenntnisse von Nöten, die das Genehmigungsverfahren mit den Krankenkassen managten. Zustimmung in dieser Sache bekam Bieschinski von Claudia Weichold, die in der Funktionellen Elektrostimulation einen „wichtigen Baustein zum Beispiel in der Behandlung von Patienten mit Cerebralparese“ sieht und an anderer Stelle ihres Vortrags Vorteile der FES gegenüber klassischen Fußheberorthesen skizzierte.
Im letzten Themenblock des Tages standen verschiedene Rehatechnologien auf der Agenda. So befasste sich Norbert Stockmann, Dortmund, mit der Rollstuhlversorgung bei Hemiplegie nach Schlaganfall und ging im Zuge dessen auf die Vor- und Nachteile gängiger Antriebstechniken ein. Bei aller aktuellen und in vielen Aspekten auch berechtigten Popularität des Doppelgreifreifens sei der Hebelantrieb laut Stockmann alles andere als ein Auslaufmodell. Den Schlusspunkt des Tages setzte Andree Bolte, Berlin, mit einem Input zum Thema „Exoskelette bei nicht gehfähigen Patienten“. Der Industrievertreter stellte die Vorteile von Assistenzsystemen für die Betroffenen vor, darunter die Schmerzreduktion, eine Verbesserung der Darm-Aktivität sowie eine Dekubitus- und Osteoporoseprophylaxe. Die technischen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Robotik wähnt Bolte erst am Anfang: „Die Büchse der Pandora ist gerade erst geöffnet worden.“
Ehe die 63. Jahrestagung der Fortbildungsvereinigung am dritten Veranstaltungstag mit zwei Vortragsblöcken zur Prothetik der OEX und UEX beschlossen wurde – in deren Verlauf wurden bspw. Endo-Exo-Versorgungen konventionellen Schaftsystemen gegenübergestellt – gehörte die Bühne dem Nachwuchs. Absolventen der Meister-Ausbildung waren im Vorfeld aufgerufen, sich mit ihren praktischen Abschlussarbeiten für die Auszeichnung mit dem FOT-Oscar-Diplom zu bewerben. Aus den Einreichungen wählte eine Jury um Mona Seifert-Maciejczyk die drei besten aus. Vor dem versammelten Fachpublikum durften Stefan Wandsleb („Myoelektrische Teilhandprothese, neue Möglichkeiten“/ Bernburg), Alexandros Papadopoulos („Borggreve Umkehrplastik als Versorgung zur Meisterprüfung“/ Wuppertal) und Simon Mayer („Mein Meisterstück – KAFO mit E‑mag Orthesengelenk“/ Hannover) in Halle ihre Meisterstücke in einem eigenen Vortrag präsentieren. Mit dem Format bietet die FOT den jungen Orthopädietechnikern nicht nur eine öffentliche Plattform, sondern reicht der nachrückenden Generation die Hand zum fachlichen Austausch. FOT-Präsident Ingo Pfefferkorn zog im Anschluss der Jahrestagung ein zufriedenes Resümee – zum einen in Bezug auf die Teilnehmerzahlen, zum anderen hinsichtlich der Vorträge, die professionsübergreifend für Interesse beim Publikum gesorgt und die gewünschten Diskussionsreize gesetzt hatten. Die 64. Ausgabe endet vom 25. bis zum 27. September 2020 in Heidelberg zu den Schwerpunkten Kinderorthopädie, Querschnittlähmung und Reha-Technik statt.
Michael Blatt
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