Stattdessen wird an vielen Fronten über Deutungshoheit gestritten und es werden natürlich auch wirtschaftliche Interessen verfolgt. Stephan Pilsinger (CSU) sitzt im Deutschen Bundestag und ist zeitgleich – in einer Nebentätigkeit – weiterhin als Hausarzt tätig. Er erfährt also ganz direkt welche Auswirkungen seine Entscheidungen im Berliner Plenarsaal für seine Patient:innen haben.
OT: Herr Pilsinger, die Corona-Pandemie hat die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems auf die Probe gestellt. Wie sieht Ihr Zwischenfazit aus – wie haben sich Versorger und Politiker:innen in dieser Zeit geschlagen?
Stephan Pilsinger: Alles in allem haben wir die Pandemie bislang gut gemeistert, denke ich. Ärzte und Zahnärzte, Klinikpersonal, Pflegekräfte, Medizinische Fachangestellte in den Praxen, Apotheker und die weiteren in der Versorgung Tätigen haben oft Tag und Nacht und auch am Wochenende bis zur Erschöpfung dafür gearbeitet, dass infizierte Patienten schnell und bestmöglich behandelt werden und dass wir so wenig Todesfälle haben, wie das in den Hochzeiten der Pandemie möglich war. Dafür gebührt dem gesamten Personal im Gesundheitssektor weiterhin unser tiefer Dank. Corona hat aber auch bestehende Defizite im Gesundheitssystem schonungslos offengelegt: Genannt seien hier vor allem der Fachkräftemangel im ärztlichen und pflegerischen Bereich, die in Pandemiezeiten nicht immer ausreichende Zahl an Intensivbetten in den Krankenhäusern, aber auch die rückständige bis teils nicht vorhandene Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen.
OT: Trotz der Herausforderungen muss man feststellen, dass die Zeit natürlich nicht stehen bleibt und andere, bereits angestoßene Projekte, wie zum Beispiel die Digitalisierung des Gesundheitswesens, parallel zur Pandemie weiterlaufen. Jüngst wurde der E‑Rezept-Rollout aus Gründen des Datenschutzes gestoppt. Wie bewerten Sie den Entwicklungsstand des deutschen Gesundheitswesens in Sachen Digitalisierung?
Pilsinger: Es ist frustrierend, wie weit Deutschland in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens – auch im internationalen Vergleich – im Rückstand ist. Nicht, weil uns – den Versorgern und den IT-Dienstleistern – die Ideen und Lösungen fehlen, wie man eine smarte digitale Gesundheitsversorgung aufbauen könnte. Sondern weil wir uns durch datenschutzrechtliche Bedenken, durch überhöhte Regulierung und durch einen überzogenen, in der Sache kontraproduktiven Anspruch an Perfektionismus selbst lähmen. Leider sind es sehr oft gerade datenschutzrechtliche Einwände, aktuell insbesondere des Datenschutzbeauftragten der Bundesregierung, die den Versorgern und den Patienten völlig unnötig ein schlechtes Gewissen machen und jegliche Entwicklung im Keim ersticken. Wir müssen ein Umdenken in den Köpfen der deutschen Bevölkerung und Entscheidungsträger bewirken: Digitalisierung schadet uns nicht, sie erleichtert uns allen den Alltag und sie optimiert Anwendungen und Versorgung im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung. Natürlich in dem dafür geeigneten Rechtsrahmen, um schwarze Schafe außen vor zu halten.
Estland mindestens ein Jahrzehnt voraus
OT: Als Musterland für Digitalisierung wird häufig Estland genannt. Was kann man sich vom Spitzenreiter in Sachen Digital-Health-Index abschauen und welche Erfolgsfaktoren lassen sich nicht auf Deutschland übertragen?
Pilsinger: 2018 habe ich zum Thema Digitalisierung eine Dienstreise nach Estland unternommen. Die Esten waren 2018 schon so weit, wie wir es vielleicht 2028 sein werden. Das hat vor allem mit den deutlich niedrigeren Hürden hinsichtlich des Datenschutzes zu tun. Eine zentrale Rolle im estnischen Gesundheitssystem spielt das Netzwerk ENHIS, das landesweit ausgebaut ist und in dem fast die gesamte Krankengeschichte der Bevölkerung von der Geburt bis zum Tod registriert ist. Alle Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken sind daran angeschlossen und haben potenziell Zugriff auf diese Daten, wenn der jeweilige Patient ihnen dies grundsätzlich erlaubt hat. Das wäre hier in Deutschland so undenkbar. Undenkbar sicherlich deswegen, weil in Deutschland jahrzehntealte Strukturen gewachsen sind, von denen sich das Gesundheitssystem schwer trennen kann. Estland hat nach Staatsgründung in den 1990er- und 2000er-Jahren von Null auf ein effizientes und modernes Gesundheitssystem aufgebaut, bei dem digitale Elemente wesentliche Stützpfeiler sind. Manchmal ist es leichter, ein neues Haus zu bauen als ein altes zu renovieren. Das spüren wir im alten analogen Haus Deutschland sehr stark, finde ich.
OT: Wie lässt sich eine erfolgreiche Digitalisierung überhaupt definieren?
Pilsinger: Eine erfolgreiche Digitalisierung ist für mich ein Zustand, in dem den Leistungserbringern im Alltag ein höchstmögliches Maß an Vernetzung zur Hand gegeben wird und in dem sie so viel Entlastung an Dokumentation erfahren, wie es der Qualität nicht schadet. Auf der anderen Seite ist Digitalisierung für die Leistungsnehmer, also die Patienten, dann erfolgreich, wenn sie schnell und erfolgreich an medizinische Leistungen kommen und wenn ihre Daten von den Leistungserbringern komplikationslos im Sinne einer in sich abgestimmten, qualitätsorientierten Therapie verwendet werden.
OT: Sie sind sowohl Bundestagsabgeordneter als auch Arzt. Sie haben also den direkten Draht zu den Patient:innen. Wie E‑Health-ready ist aus Ihrer Sicht die deutsche Gesellschaft?
Pilsinger: Es ist nicht so, dass die deutsche Gesellschaft per se nicht dazu bereit wäre. In vielen anderen Bereichen funktioniert es auch. Aber besonders beim Thema Gesundheitsdaten lassen wir uns von Datenschützern und von der insgesamt viel zu negativen Berichterstattung der Medien zu sehr verunsichern. Klar soll es den total „gläsernen Patienten“ so nicht geben, aber auch nicht weiterhin den analogen Patienten der 1980er-Jahre, der von der Arztakte über das Rezept bis hin zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als reiner Papierakt geführt wird. Wir müssen vielmehr die Chancen der Vernetzung und der abgestimmten Therapie auch unterschiedlicher Fachrichtungen sehen, als die Missbrauchsrisiken durch schwarze Schafe, die es leider wohl immer geben wird.
OT: Was glauben Sie sind die Erwartungen an die Digitalisierung von Patient:innen? Bequemlichkeit, Effizienz, Datenhoheit, Mobilität – oder doch etwas ganz anderes?
Pilsinger: Wenn wir zum Beispiel das E‑Rezept nehmen oder die eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Anm. d. Red.), dann geht es dem Patienten darum, von Papierkram entlastet zu werden und mit wenigen Klicks in der App „den ganzen Kram“ erledigt zu haben. Also Effizienz. Wenn wir die Menschen im Land noch mehr über die Möglichkeiten einer durchdachten elektronischen Patientenakte aufklären, mit der ja das individuelle Krankheitsbild des Einzelnen zu seinem Vorteil erfasst werden soll, dann wird das Bewusstsein für die ePA (elektronische Patientenakte, Anm. d. Red.) in der Bevölkerung noch deutlich steigen. Schlussendlich geht es immer um das Patientenwohl.
Qualitätsstandards müssen bleiben
OT: Im Bereich der Hilfsmittelversorgung gab es bereits den Vorstoß Einlagen auf Rezept über einen Online-Shop zu vertreiben. Auch bei Bandagen stehen Anbieter in den Startlöchern und warten darauf, dass die Rahmenbedingungen dementsprechend angepasst werden. Ist das „digitale“ Gesundheitsversorgung?
Pilsinger: Wenn dabei die bewährten Qualitätsstandards nach dem Hilfsmittelverzeichnis, die ja auf Basis der Empfehlungen der ärztlichen Fachgesellschaften erlassen wurden, eingehalten werden, ja. Wichtig ist für mich immer, dass die Qualität nicht leidet, sondern mindestens im bekannten Maße beibehalten wird. Diese Qualität gewährleisten im orthopädischen Bereich vor allem unsere mittelständischen Handwerksbetriebe. Die müssen bei solchen digitalen Angeboten zum Zug kommen. Hier müssen wir Leitplanken einbauen, damit die Aufträge nicht an unbekannte Billiganbieter ins Ausland gehen, deren Hilfsmittel dem Patienten vielleicht eher schaden als helfen.
OT: Glauben Sie, dass das – durch die Corona-Pandemie nochmals befeuerte – digitalisierte Konsumverhalten der Menschen die Gesundheitsversorgung verändert oder sollte das Bewusstsein der Patient:innen noch einmal dafür geschärft werden, dass administrative Aufgaben durchaus digital funktionieren, eine Versorgung durch den Fachmann oder die Fachfrau nur persönlich möglich ist?
Pilsinger: Im orthopädischen Bereich ist sicherlich der Vor-Ort-Termin besser, wenn es um die individuelle Anpassung z. B. von Einlagen geht. Aber auch hier können wir uns administrativen Aufwand sparen, indem wir die Verordnung digital einreichen und der Patient dann nur noch zum Anpassen in das orthopädische Fachgeschäft kommen muss. Verschickt werden können die Einlagen dann ja per Post.
OT: Ein anderes Schlagwort, das bei Digitalisierung immer mitschwingt, ist der Bürokratieabbau. Wie beurteilen Sie die Chancen des Abbaus des berühmten „Papierkrams“ durch die Digitalisierung?
Pilsinger: Hier ist das Entlastungspotential klar am höchsten. Es ist ja nicht das Papier an sich, das für die Patienten lästig ist, sondern der Aufwand, das Papier an die richtigen Stellen zu bringen: zum Facharzt, zur Apotheke oder zur Krankenkasse. Andererseits werden die Ärzte und ihre medizinischen Fachangestellten jeden Tag mehrfach entlastet, wenn Berichte und Dokumentationen nicht alle schriftlich in Dreifachausfertigung erstellt werden müssen, sondern als elektronische Datei auch schnell mal digital kopiert oder z. B. vom Praxisverwaltungssystem in die ePA übertragen werden können. Das spart in den Praxen und Krankenhäusern allen Akteuren viel Ärger und Zeit, die sie sinnvollerweise besser am Patienten einsetzen können.
OT: Wo sehen Sie die Bundesregierung in der Pflicht mehr zu tun, um Bürokratieabbau zu ermöglichen?
Pilsinger: Während Jens Spahn die Digitalisierung trotz der Corona-Pandemie mit Vollgas vorangebracht hat, kündigt der heutige Bundesgesundheitsminister Lauterbach bislang nur an, welche großartigen Projekte und Visionen er voranbringen will. Die werden dann entweder nicht umgesetzt oder Pilotprojekte zerplatzen wie Seifenblasen, siehe das vor Kurzem wieder eingestellte E‑Rezept-Projekt der KV Westfalen-Lippe. Das ist frustrierend. Lauterbach fehlt auch bei diesem Zukunftsthema jegliche Führungskraft. Er lässt das alles vor sich hinplätschern statt auch einmal ein Machtwort zu sprechen, wo es nötig wäre. So kommen wir keinen Meter bzw. keinen Megabit voran.
OT: Zum Abschluss noch einmal eine Frage an den Hausarzt Dr. Pilsinger: Wie viele Patient:innen von Ihnen verfügen über die elektronische Patientenakte und wie intensiv wird diese genutzt?
Pilsinger: Gute Frage. Meine Antwort wird Ihnen den dringenden Handlungsbedarf bzgl. der ePA aufzeigen: Meines Wissens hat keiner meiner Patienten eine ePA. Das liegt einerseits daran, dass ich in einer Landarztpraxis arbeite, wo ein Breitbandempfang noch keine Selbstverständlichkeit ist. Zum anderen aber an dem Schneckentempo, das die Bundesregierung hier vorkriecht. Wenigstens hat Lauterbach kürzlich die Opt-Out-Lösung für die ePA angekündigt – wohlgemerkt angekündigt… Das unterstütze ich inhaltlich. Sonst kommen wir hier nie wirklich voran.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.