Die Abiturientin klagt am 13. April 2017 über Kopf- und Gliederschmerzen. Nur einen Tag später liegt sie mit hohem Fieber und starken Schmerzen in der Uniklinik Köln. Diagnose: Meningokokken-Infektion. Die Infektion verläuft extrem dramatisch, mehrfach kämpft die junge Frau um ihr Leben. Innerhalb von 14 Tagen werden ihr ein Unterschenkel, später Stück für Stück alle zehn Finger und zum Schluss auch der zweite Unterschenkel amputiert. Dann endlich ist die Infektion im Griff. „Sie hat überlebt. Ihre Füße und Finger jedoch nicht“, fassen ihre Eltern, Rita und Bruno, das Unfassbare zusammen. Lobend erwähnen sie die enge Zusammenarbeit von Gefäß- und Handchirurgen in der Klinik. Doch bei der klinischen Nachsorge erhoffen sie sich mehr Eigeninitiative der Pfleger. „Immer wieder müssen wir an eigentlich selbstverständliche Behandlungsabläufe wie Verbandswechsel erinnern“, erklären Justinas Eltern im Gespräch. Die wichtigste Frage für Justina und ihre Familie lautet aber: Was nun? Wie soll es ohne die beiden Unterschenkel und zehn Finger weitergehen?
Schneller Kontakt zu Orthopädie-Technikern
Die behandelnden Ärzte und Pfleger verfügen, so der Eindruck der Eltern, kaum über Informationen zu einer geeigneten Prothesenversorgung. Daher sei ein schneller Kontakt mit Orthopädie-Technikern sehr wichtig für Patienten mit Amputationen. Die behandelnden Ärzte übergeben den Eltern eine Liste mit Leistungserbringern in der Region. Vermerkt ist hier unter anderem das Unternehmen „Rahm – Zentrum für Gesundheit“, für das sich die Familie nach Besichtigung verschiedener Betriebe entscheidet. Zusätzlich zu den klassischen Leistungen einer Orthopädie-Technik-Werkstatt und eines Sanitätshauses bietet die Firma mit der Tochter Protheofit eine Physiotherapie für Amputierte und neurologische Patienten an.
Protheofit betreibt seit 2013 zudem ein Test- und Trainingszentrum für Menschen mit Handicap. „Mittels videogestützter Analyse können wir im Test- und Trainingszentrum die Wirkung einzelner Passteile am Menschen messen und gegenüber den Krankenkassen dokumentieren“, erläutert Geschäftsführerin Meike Rahm. „Das erleichtert die Beantragung und Bewilligung auch vergleichsweise kostenintensiver Hilfsmittel enorm.“ Zu den Mitarbeitern des Unternehmens gehören am für Justina zuständigen Standort Troisdorf-Spich auch mehrere Experten speziell für die Armprothetik und für die untere Extremität. „Die Spezialisierung unserer Mitarbeiter führt zur professionellen Behandlung solcher komplexen Versorgungen. Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Bündelung dieser Kompetenzen mit der Physiotherapie“, erklärt Meike Rahm.
Perspektiven für eine hohe Mobilität
Nachdem sich die Familie für das Unternehmen in Troisdorf entschieden hat, findet im Mai 2017 ein erstes Gespräch am Krankenhausbett von Justina statt. Markus Rehm, Orthopädie-Techniker-Meister bei Rahm, besucht die junge Frau und ihre Familie in der Klinik. „Ich habe einen kleinen entscheidenden Vorteil. Ich bin zwar nur einseitig unterschenkelamputiert, kann aber sehr gut aus eigener Erfahrung nachvollziehen, wie sich die Zeit nach einer Amputation anfühlt“, so Rehm. „Das ist bei mir sehr präsent, auch wenn mein Unfall einige Jahre her ist.“ Für Justina ist dieser erste Besuch eines Orthopädie-Technikers, der anhand seiner eigenen Prothesen ein Beispiel für die Versorgung einer Unterschenkelamputation und den Umgang mit Prothesen erläutert, „sehr wichtig“. „Es ist ein erster Schritt in Richtung Zukunft“, so die junge Frau.
Im Vordergrund eines ersten Gesprächs stehen bei aller Emotionalität die technischen Aspekte einer Prothesenversorgung. „Es ist wichtig, den Patienten den Weg hin zum Gehen zu erklären und ihnen Perspektiven in eine möglichst hohe Mobilität aufzuzeigen. Als Betroffener ist das so weit weg vom derzeit Möglichen, dass ich hier sehr viel Hoffnung aufbauen muss“, betont Markus Rehm. „Es ist eine Gratwanderung zwischen größtmöglicher Motivation und Überforderung des Betroffenen.“ Der aktive Leichtathlet, unter anderem Paralympics-Gewinner im Weitsprung, ist spezialisiert auf die Versorgung der unteren Extremitäten. Sein Kollege Orthopädie-Techniker-Meister Lutz Klasen betreut seit 25 Jahren bei Rahm Menschen mit Amputationen an den oberen Extremitäten. Gemeinsam beraten und begleiten sie Justina.
Untere Extremitäten im Fokus
In den Gesprächen zwischen den Orthopädie-Techniker-Meistern und der Familie wird schnell klar: Justinas größte Leidenschaft vor der Erkrankung galt dem Tanzen. Ihr größtes Ziel ist es daher, möglichst schnell wieder selbstständig mobil zu sein. Zweitens: Ihre Hände sind nur teilamputiert und erlauben genug Funktion, um Stützleistungen etwa während des Gangtrainings mit Prothesen zu übernehmen. Der Schwerpunkt der Versorgung liegt damit auf den unteren Extremitäten. Im ersten Schritt sollten das Gehen und langfristig auch wieder sportliche Aktivitäten erlernt werden.
Um Justinas Wunsch nach einer Prothesenversorgung nachzukommen, die möglichst viele Aktivitäten zulässt, testen die Orthopädie-Techniker-Meister gemeinsam mit ihr viele Passteile im Test- und Trainingszentrum aus. Nach vier Monaten fällt die Entscheidung: Carbonfaserfüße sind für ihren Fall die beste Lösung. „Sie sind leichter als andere Prothesenarten und sorgen gleichzeitig für Stabilität und Dynamik. Zudem geben sie die gespeicherte Energie zurück“, erklärt Lutz Klasen im Gespräch. „Mit ihrer Hilfe kann die junge Frau im Alltag dynamisch und selbstständig mit wechselnden Geschwindigkeiten gehen.“ Inzwischen hat sie mit Markus Rehm sogar schon auf der Laufbahn erste Runden gedreht. „Sie ist so unglaublich positiv gestimmt“, so Lutz Klasen weiter. „Das beobachte ich bei allen Sepsis-Fällen, die ich bisher betreuen durfte. Es ist faszinierend, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie ein Ziel erreichen wollen.“
Erste Tanzschritte nach der Amputation
Zu den emotionalsten Augenblicken in der Versorgung von Justina zählt für die beiden betreuenden Orthopädie-Techniker-Meister der Augenblick, als ein Physiotherapeut ihres Hauses, der auch Tänzer ist, gemeinsam mit Justina eine Tanzchoreografie einstudiert. „Durch ihre Erfahrung im Hip-Hop-Tanzen vor ihrer Amputation war das wahnsinnig motivierend und hat ihre Koordination extrem gesteigert“, schwärmt Markus Rehm. „Ergotherapeutisch wurden Kniffe erarbeitet, Alltagssituationen mit den fehlenden Fingergliedern zu meistern.“ Um sportlich aktiv zu werden, trägt sie eine Sportprothese mit Cheetah-Carbonfedern. Zusätzlich verfügt sie über wasserfeste Prothesen, sodass sie sich auch frei und eigenständig im Nassbereich bewegen kann.
„Bei so schweren Fällen, die aber gleichzeitig so positive Perspektiven wie Justina haben, stimmen die Krankenkassen meist schnell und unbürokratisch den Versorgungsvorschlägen zu“, meint Meike Rahm. „Wenn man zusätzlich Evaluationsdaten zu den Vorteilen der ausgewählten Versorgung mitschicken kann, beschleunigt das natürlich den Prozess.“ Allerdings sei die Versorgung mit Armprothetik mit den Krankenkassen vertraglich nicht so gut geregelt wie bei den unteren Extremitäten und der Weg zur Bewilligung deshalb länger, wie Rahm betont. „Armprothetik ist technisch oft sehr hochgerüstet und entsprechend teuer. Hinzu kommt der optische Aspekt, der an den oberen Extremitäten eine noch größere Rolle spielt.“
Doch das ist nicht der Grund, warum Justina bisher keine Handversorgung trägt, die in ihrem Falle aus Silikonepithesen bestehen würde. Die Restfunktionen in ihren Händen und ihr unermüdliches Training erlauben ihr das Erreichen ihrer wichtigsten Ziele: das selbstständige Essen und Trinken sowie das Anziehen der Beinprothesen und damit ein selbstbestimmtes Leben. Um diesen Status zu erreichen, hat sie vor allem in den ersten sechs Monaten der Prothesenversorgung viel Zeit mit dem Erlernen des Gehens, aber auch mit der ständigen Anpassung des Schaftes an den Stumpf verbracht. „Zum Glück war und ist Justina sehr sportlich und schlank, sodass sich die Wassereinlagerungen bei ihr in Grenzen halten und zukünftig die Anpassung der Prothesen nicht mehr so häufig stattfinden muss“, erklärt Lutz Klasen. Ob und wann Justina eine prothetische Versorgung für ihre Hände angeht, steht noch nicht fest. Im nächsten Schritt will sich die junge Frau auf ihr Studium der Psychologie, das sie im Herbst 2018 aufgenommen hat, konzentrieren.
Viel Unterstützung – zu wenig Austausch mit Fachärzten
Als erschreckend bezeichnet Justina zwei Jahre nach ihrer Erkrankung vor allem die ersten Wochen des Krankheitsverlaufs. „Dennoch habe ich insgesamt positive Erfahrungen gemacht. So bekamen wir als Familie viel Unterstützung von dem Versorgungsteam, den Ärzten, dem Sanitätshaus und den Pflegern. Die Gehschule mit den Orthopädie-Technikern vor Ort ganz in unserer Wohnortnähe war besonders hilfreich. „Das alles hat mir den Weg erleichtert, wieder zurück ins Leben zu finden“, so Justina rückblickend. „Allerdings ist ein intensiverer Austausch mit dem Fachärzteteam nach der Klinikentlassung wünschenswert. Es gibt Fragen, etwa die nach einer sinnvollen Schmerztherapie, die Orthopädie-Techniker nicht allein mit dem Hausarzt beantworten können. Hier wird aus meiner Sicht zu wenig miteinander gearbeitet.“ Justina hingegen arbeitet unermüdlich weiter an ihrer Mobilität und an ihrem ganz normalen Leben. Im Mai 2019 steht für sie das erste Leichtathletiktrainingslager mit Schwerpunkt Laufen mit dem TSV Bayer 04 Leverkusen an. Über die Website walkwithjustina.jimdo.com können Menschen Justina auf ihrem Weg begleiten und mit positiven Nachrichten unterstützen.
Ruth Justen
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