„Ich habe immer gedacht: Wenn ich ein eigenes Sanitätshaus hätte, dann würde ich es ganz anders machen“, erinnert sich Inga Marquart. Anfang des Jahres ist aus diesem Gedankenspiel Wirklichkeit geworden. Im niedersächsischen Schwanewede hat die Orthopädietechnikerin, die sich auf Brust- und Lymphversorgung spezialisiert hat, das Lymphstudio „StauEnde“ eröffnet und damit einen Ort geschaffen, an dem sich ihre Kundinnen gesehen und wohlfühlen sollen. Und auch sie selbst sieht sich hier – umgeben von Wald und Wiese – endlich angekommen.
Der Name lässt es bereits vermuten: Das Holz-Häuschen hat einen blauen Anstrich. Davor die Terrasse: Auf Holztisch, Stühlen und Bank macht sich bei wolkenfreiem Himmel großflächig die Sonne breit. Drumherum Bäume, Wiese und Vogelgezwitscher. Das klingt ländlich, idyllisch und ist tatsächlich etwas „weiter ab vom Schuss“. Die Anreise bereitete ein paar Kundinnen Probleme, wie Marquart erzählt. Letztendlich fanden sie aber alle den Weg – und der gehört nicht nur redensartlich zum Ziel. Wer ins Grüne fährt, fährt gleich herunter. Damit ist der Startschuss für die Beratung bereits gefallen. Die Natur gibt laut Marquart eine besondere Energie, die Kundinnen kommen an, kommen zur Ruhe. Auch im Häuschen selbst ist die Natur zu sehen und zu spüren. Und das nicht nur beim Blick durch die Fenster. Die 44-Jährige hat bei der Einrichtung auf Naturmaterialien Wert gelegt, ebenso auf Farbe, Fröhlichkeit und darauf, dass ihre Persönlichkeit mit einzieht. All das schafft für sie die besten Voraussetzungen für ein Gespräch auf Augenhöhe und von Mensch zu Mensch. Termine gibt es nur nach Absprache, um Zeit für die Kundinnen zu haben und das auch zu vermitteln. Ein warmes Getränk gehört im Häuschen nach der Begrüßung dazu. „Nach wenigen Minuten fließen oft die Tränen“, erzählt Marquart. „Weil ich die richtigen Fragen stelle und die Frauen, die oft eine lange Tortur hinter sich haben, sich trauen, alles rauszulassen.“ Ihr Ziel ist es, dass ihre Kundinnen das Gefühl haben, nach Hause zu kommen. „Ich möchte sie dort abholen, wo sie stehen, und ihnen vermitteln: Ich sehe dich, ich fühle dich. Denn in dem Moment, wo sie merken, dass sie nicht allein sind, bekommen sie die Energie, weiterzugehen.“
Marquart hat mit ihrem Häuschen nicht nur eine Wohlfühlumgebung für ihre Kundinnen geschaffen, sondern auch einen Ort, an dem sie sich selbst gern aufhält. „Je wohler ich mich fühle und je entspannter ich bin, desto besser kann ich meinem Gegenüber helfen“, betont sie. In der Vergangenheit habe sie immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich Kolleg:innen in ihrem Beruf verstellen (müssen), „weil man dieses und jenes eben so macht“. Marquart sieht darin einen Grund für krankheitsbedingte Ausfälle, Frust und Müdigkeit. „Wenn wir so sein dürfen, wie wir sind, wenn wir uns erlauben, unsere eigene Persönlichkeit mit einzubringen, dann sind wir gesünder, leistungsfähiger, kreativer und kommen viel mehr in die Umsetzung“, ist sie überzeugt.
Die Orthopädietechnikerin war über viele Jahre für verschiedene Sanitätshäuser tätig, sowohl als Angestellte als auch auf selbstständiger Basis. Zwischendurch legte sie eine dreijährige Pause ein und nutzte diese Zeit zur persönlichen Entwicklung und Weiterbildung, u. a. als Mindset- und Gesundheitscoach. Für ein Jahr zog es sie dann zurück in die Welt des Sanitätsfachhandels. Schnell spürte sie wieder: Hier läuft etwas falsch. „Wenn man in eine Brustkabine hineingeht und die Tür schließt, hat man das Gefühl, man ist in einer Besenkammer“, sagt sie. Für sie kein Ort, um über sensible und emotionale Themen zu sprechen und zu versorgen. Und mit der Tür zur „Besenkammer“ schließe sich ebenso oft das notwendige Zeitfenster. Dabei sei der ständige Blick auf die Uhr ein No-Go für eine gute Beratung und Versorgung. Marquart ist überzeugt, dass viele Mitarbeiter:innen mehr wollen, doch die Kapazitäten reichen nicht aus oder ihre Ideen werden von höherer Ebene gebremst. Mit Folgen: „Was du in Hektik verbockst, kannst du in Ruhe bereuen.“
Die Symptome zu behandeln, ist laut Inga Marquart das eine. Den Ursachen einer Erkrankung auf den Grund zu gehen, das andere. Sie versteht Versorgung ganzheitlich und erachtet es als wichtig, nicht „nur“ eine Therapie zu machen, sondern den Lebensstil zu hinterfragen und anzupassen, um das Risiko für beispielsweise ein Rezidiv und/oder weitere Symptome wie Fatigue zu verringern. Marquart sieht in jeder Krankheit eine Einladung, die Dinge anders zu machen. Deswegen endet für sie der Kundenkontakt nicht mit einer Hilfsmittelversorgung. Die Orthopädietechnikerin arbeitet u. a. mit einer Heilpraktikerin, die ebenfalls Apothekerin ist, zusammen sowie mit einer Yin-Yoga-Lehrerin, die als psychoonkologische Beraterin tätig ist. Seit Eröffnung des „Blauen Häuschens“ gibt es auf dem Hof in Schwanewede Veranstaltungen und Retreats rund um gesundheitsrelevante Themen. Kürzlich war Influencerin Caroline Sprott zu Gast, las aus ihrem Buch „Diagnose Lipödem – Du bist nicht alleine“ vor und verriet Tipps und Tricks für den Alltag mit der Erkrankung. Zusätzlich wurde ein Rahmenprogramm angeboten, das die Kombination schulmedizinischer und alternativer – oder wie Marquart es nennt ursprünglicher – Betrachtungsweisen in den Blick nahm. In Zukunft will die 44-Jährige solche Veranstaltungen fest etablieren und ein „Gesundheitsatelier“ aufbauen. Hier sollen Breathwork, Yoga, Heilkreise, Ausflüge in die Natur sowie Informationstage zu Ernährung und Entgiftung stattfinden. Mit solchen Angeboten steht sie nicht allein da, sagt sie. Bei vielen – auch großen – Sanitätshäusern würden Gesprächskreise mit Mitarbeiter:innen stattfinden oder Räume nach Konflikten von Schamanen ausgeräuchert werden, nennt Marquart zwei Beispiele. „Spiritualität wird leider nur im Geheimen gelebt“, sagt sie und appelliert an die Branche: „Macht das, was ihr tut, öffentlich. Wir müssen wieder Mensch sein. Und dazu gehört auch Spiritualität, dazu gehört, verrückte Dinge zu machen.“ Verständnis hat die Orthopädietechnikerin für die Geheimniskrämerei dennoch: Zu groß sei die Angst vor Bewertungen, vor einem Shitstorm, davor, die Kundschaft zu vergraulen. „Dabei ist genau jetzt die Zeit, die Dinge anders zu machen. Spiritualität wird Mainstream werden.“
Pia Engelbrecht
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