Wo es im regulären Geschäft endet, geht es beim Vredener Betrieb Wessels erst los. Damen finden hier Schuhe ab Größe 43, Herren ab 47. Nach oben gibt es keine Grenze, zumindest wenn man abseits der Regale in die Werkstatt lugt. Derzeit ist Adrian Wessels in den letzten Zügen, Basketballschuhe für zwei junge Männer in Dubai zu fertigen – in 60 und 62. Was wie eine Ausnahme scheint, ist für den Orthopädieschuhmacher-Meister Routine. Der Familienbetrieb ist seit mehr als 45 Jahren auf Übergrößen spezialisiert und versorgt Menschen aus dem In- und Ausland. Sogar der Venezolaner Jeison Rodriguez, der Mann mit den aktuell weltweit größten Füßen, trägt eine Sonderanfertigung aus Nordrhein-Westfalen. Vor rund zehn Jahren brauchte der damals 16-Jährige Größe 61, mittlerweile sind es neun mehr. Seine Füße sind demnach circa 44 Zentimeter lang.
Was speziell klingt, trifft im Alltag auf großen Bedarf. „Damenschuhe in 44 oder 45 sind absolut nicht unüblich“, berichtet Wessels, der froh ist, seinen Kundinnen und Kunden eine ebenso große Auswahl wie in einem typischen Geschäft bieten zu können – von Sneakern und Stiefeletten über Pumps, Ballerinas und Sandalen bis hin zu Pantoffeln und Sicherheitsschuhen. Konfektionierte Modelle gibt es bis Größe 56. Alles, was darüber hinausgeht, wird maßgefertigt. Im vergangenen Jahr nahmen sieben Personen dieses Angebot in Anspruch.
Grund für die enorme Körper- und Schuhgröße ist in der Regel Akromegalie, ein Tumor an der Hirnanhangdrüse, der vermehrt Wachstumshormone ausschüttet. Der Großteil der Betroffenen lebt in Entwicklungsländern, ohne die Möglichkeit, auf Operationen oder Medikamente zurückgreifen zu können, die das Wachstum hemmen. Ebenso für extra angefertigte Schuhe fehlt das Geld.

Aus diesem Grund hängt an den Vredener Originalen kein Preisschild. Das Team stellt seine Freizeit für die Fertigung zur Verfügung, Hersteller – allen voran Nora Systems – spenden notwendige Materialien. Rund 500 Paar Schuhe gingen auf diesem Wege in den vergangenen Jahrzenten an Menschen aus der Türkei, den USA, Simbabwe, China oder auch Myanmar.
Stabil, leicht und langlebig
Das Endprodukt im XXL-Format wirkt optisch zwar eindrucksvoller und aufwendiger, für Adrian Wessels macht es jedoch keinen Unterschied, ob er Exemplare in 38, 56 oder 70 herstellt. Der Ablauf, die Materialien und Werkzeuge sind grundsätzlich die gleichen. „Es ist alles nur größer“, sagt der OSM. „Und je nach Schuhgröße natürlich deutlich schwerer“, ergänzt er. Beim Schleifen beispielsweise ist daher mehr Kraft gefordert, das Zwicken falle ihm aufgrund der großen Rundungen dagegen sogar leichter. Der Schuh muss stabil und darf gleichzeitig nicht zu schwer sein. Wessels schaut deswegen stets, wo und wie sich Material einsparen lässt, etwa über dem Absatz oder auch innerhalb des Schuhs. Während die Außenkanten stabil sein müssen, kann in der Mitte schon mal Gewicht eingespart werden. Essenziell ist, dass die Modelle langlebig sind, mit Blick auf die Auflage der Krankenkassen mindestens zwei Jahre halten. Umso wichtiger ist das für die internationalen Kunden, die nicht die Möglichkeit haben, für Reparaturen nach Deutschland zu reisen. Viele Patienten mit Akromegalie haben zudem Diabetes. Für den Schuh bedeutet das: eine dicke und weiche Fußbettung, Sohlenversteifung, kein Lederfutter – da dieses hart und brüchig werden und die Füße aufreißen kann – sowie keine drückenden, innenliegenden Nähte.
„Einen Gipsraum empfand ich schon immer als Zumutung“, sagt Wessels und ist froh, für die Fußbettung mittlerweile zum 2D-Scanner und für die Leisten zum 3D-Scanner sowie anschließend zur Fräse greifen zu können. Das spart am Ende nicht nur Dreck, sondern ebenfalls Zeit. Um die perfekte Form herzustellen, nimmt der OSM die Füße seiner Kunden immer in die Hand. Und er betont: „Ich mache keine Versorgung ohne Zwischenschuh.“ Bei seinen größten Kunden ist das in der Regel aber nicht möglich. Die Auslieferung rund um den Globus übernehmen Wessels, sein Vater Peter und sein Onkel Georg zwar selbst, doch bei der Erstversorgung sind sie lediglich auf Maße und Fotos angewiesen, die die Deutsche Botschaft erstellt und nach Vreden schickt – ein Glücksspiel, das nicht immer von Erfolg gekrönt ist. „Die Folgeversorgung ist immer optimierter“, so Wessels.

Von klobig zu trendig
Optisch hat sich innerhalb der vergangenen Jahrzehnte viel getan. „Maßschuhe sind längst nicht mehr nur schwarz, klobig und kastenförmig“, berichtet Wessels. Sportliche Böden, bunte Farben – bei vielen Modellen haben seine Kunden nicht das Gefühl, überhaupt einen Maßschuh in der Hand zu halten. Schuhtechnisch gibt es bis Größe 56 eine breite Auswahl, schwieriger wird es an anderer Stelle: Die meisten Hersteller bieten Einlagen nur bis Größe 48 an. Wer 49 oder mehr trägt, muss demnach einen Aufschlag zahlen. Und: „Es gibt keinen Gummistiefelhersteller mehr für Übergrößen, geschweige denn für Sicherheitsgummistiefel, die zum Beispiel Personen auf dem Bauhof tragen müssen“, sieht Wessels weiteren Nachholbedarf. Einen Gummistiefel selbst herzustellen, ist dem OSM bisher nicht zufriedenstellend gelungen. „Es gibt Überziehgummistiefel. Vielleicht könnte man die mit Sicherheitsschuhen kombinieren“, nennt er eine Alternative. Doch können die den hohen Auflagen der EU-Baumusterprüfung standhalten? Daran zweifelt er. Außerdem: „Kein Arbeitgeber bezahlt einen maßgefertigten und geprüften Sicherheitsschuh in Übergröße für schnell mal 10.000 Euro.“
Seine Kunden mit einem Lächeln im Gesicht und im Bestfall ihren Gehstock vergessend aus dem Geschäft gehen zu sehen, treibt Wessels an, täglich die bestmögliche Versorgung für seine Kunden zu finden. Die Worte des bereits verstorbenen Charlie aus Simbabwe (Größe 57) bleiben ihm besonders in Erinnerung: „Die Leute lachen noch, aber sie schmeißen nicht mehr mit Steinen nach mir.“
Mit der Spezialisierung auf Übergrößen wagten die Geschäftsführer Georg und Peter Wessels bei der Übernahme des elterlichen Betriebs im Jahr 1980 einen mutigen Schritt in eine Nische, in der es sich zu behaupten galt. Die größten Menschen der Welt zu versorgen, war eigentlich nur als PR-Maßnahme gedacht, um die Bekanntheit zu steigern. Über die Jahre ist daraus eine Leidenschaft entstanden, die mit Adrian Wessels auf die nächste Generation übergegangen ist. „Das Feedback ist so herzlich und dankbar“, sagt er. Wer als Kunde das Geschäft betritt, geht nicht selten als Freund.
Pia Engelbrecht
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