Tra­di­tio­nel­le Bil­dungs­in­hal­te, digi­ta­le Ver­mitt­lung und neue Ausreden

In den 16 Bundesländern herrschen unterschiedliche Regelungen für die verschiedenen Schulformen im Umgang mit der Corona-Pandemie. Selten ist in der Öffentlichkeit von den Berufsschulen die Rede, obwohl Hunderttausende pro Jahr in Deutschland auf den Besuch von Berufsschulen etwa am Max Born Berufskolleg (MBBK) in Recklinghausen angewiesen sind. Das Berufskolleg bietet unter anderem den Bildungsgang Orthopädietechnik-Mechaniker/in an. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt der Studienrat, Dipl. Ing. Orthopädietechnik (FH) und Orthopädietechnik‐Meister Daniel Schulze Frenking, wie das MBBK und speziell sein Bildungsgang auf dieses besondere Schuljahr reagiert hat.

OT: Wie vie­le Aus­zu­bil­den­de besu­chen aktu­ell den Bil­dungs­gang Orthopädietechnik? 

Anzei­ge

Dani­el Schul­ze Fren­king: Wir haben ein gro­ßes Ein­zugs­ge­biet aus dem Regie­rungs­be­zirk Müns­ter, Det­mold und Arns­berg und zum Teil auch dar­über hin­aus. Daher besu­chen in die­sem Schul­jahr ins­ge­samt ca. 180 Azu­bis in sie­ben ver­schie­de­nen Klas­sen unse­ren Bil­dungs­gang an der Schule.

OT: Wie hat das Kol­leg auf die Schul­schlie­ßun­gen in Nord­rhein-West­fa­len (NRW) reagiert? 

Schul­ze Fren­king: Bevor ich die Situa­ti­on an mei­nem Berufs­kol­leg schil­de­re, möch­te ich in mei­ner Funk­ti­on als Prä­si­dent der Arbeits­ge­mein­schaft aller Leh­re­rin­nen und Leh­rer für Ortho­pä­die­tech­nik und För­de­rer (ALLOF) e.V. kurz vor­weg erklä­ren, dass jeder Schul­stand­ort in Deutsch­land unter­schied­li­che Rah­men­be­din­gen wie Block- oder Teil­zeit-Unter­richt und län­der­spe­zi­fi­sche Vor­ga­ben wie Unter­richts­stun­den und Lehr­plä­ne hat. Dies ist in der Län­der­ho­heit so gewollt und auch gut so, da man sich mit der schu­li­schen Bil­dung auf die jewei­li­gen Gege­ben­hei­ten vor Ort bezie­hen muss. Daher fin­den die Abschluss­prü­fun­gen auch dezen­tral statt, was ich nicht nur in die­ser spe­zi­el­len Situa­ti­on als unab­ding­bar und kla­ren Vor­teil sehe. Wir am MBBK fah­ren einen Teil­zeit­un­ter­richt: Unse­re Aus­zu­bil­den­den kom­men im ers­ten und zwei­ten Aus­bil­dungs­jahr pro Woche an je einem Tag und vier­zehn­tä­gig an einem zusätz­li­chen zwei­ten fach­prak­ti­schen Tag und in den Ober­stu­fen­klas­sen an jeweils einem Tag zu uns.

Als am Frei­tag­nach­mit­tag, dem 13. März, unser NRW-Minis­ter­prä­si­dent Armin Laschet die Schul­schlie­ßun­gen ver­kün­de­te, hat­ten wir bereits einen Home­page-Ein­trag vor­be­rei­tet, damit sich alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler und deren Betrie­be über unse­re Home­page infor­mie­ren konn­ten. Dort wur­den im Fol­gen­den tages­ak­tu­el­le Infor­ma­tio­nen ein­ge­stellt. Zunächst wur­de die Prio­ri­tät auf die Umstel­lung zur Online-Beschu­lung der Voll­zeit-Klas­sen gelegt. Das sind von unse­ren ins­ge­samt 3.200 Schü­lern fast die Hälf­te! Schon seit län­ge­rem hat unser Schul­trä­ger für alle Leh­re­rin­nen und Leh­rer als auch für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler einen per­sön­li­chen Zugang zu einer gemein­sa­men Lern­platt­form zur Ver­fü­gung gestellt. Nun galt es, aus der Fer­ne allen Schü­lern bei der wei­te­ren Ein­rich­tung und prak­ti­schen Nut­zung die­ser Platt­form Unter­stüt­zung zu geben.

OT: Wie sah das kon­kret in Ihrem Bil­dungs­gang aus?

Schul­ze Fren­king: In unse­rem Bil­dungs­gang haben wir für die anste­hen­de Gesel­len­prü­fung II (GPII) für die knapp 50 Prüf­lin­ge Prü­fungs­auf­ga­ben online gestellt und bespro­chen. Für das 1. und 2. Aus­bil­dungs­jahr „ruh­te“ in die­ser Zeit der Berufs­schul­un­ter­richt. Unse­re Schü­le­rin­nen und Schü­ler gin­gen an fünf Tagen die Woche in ihre Ausbildungsbetriebe.

OT: Wie orga­ni­sie­ren Sie die Zusam­men­ar­beit mit den Ausbildungsbetrieben?

Schul­ze Fren­king: Zunächst wur­den alle Aus­bil­dungs­be­trie­be aller Gewer­ke über die Schul­home­page und per Mail über die Schlie­ßung infor­miert. Mitt­ler­wei­le schrei­ben wir Aus­bil­dungs­be­trie­be unse­rer Ortho­pä­die­tech­nik-Schü­ler per Mail an, wenn es Neue­run­gen gibt. Zudem haben wir über die Online-Platt­form direk­ten Kon­takt mit den Azu­bis, die dann wie­der­um Infor­ma­tio­nen par­al­lel wei­ter­ge­ben können.

OT: Wie sieht der Unter­richt der­zeit aus? 

Schul­ze Fren­king: Nach den Oster­fe­ri­en muss­te unse­re Schu­le zunächst für die Prü­fungs­klas­sen ein Hygie­ne­kon­zept zur Wie­der­auf­nah­me des Unter­richts ent­wi­ckeln. Da an unse­rem Berufs­kol­leg alle unter­schied­li­chen Schul­ab­schlüs­se des deut­schen Bil­dungs­sys­tems erwor­ben wer­den kön­nen, ergibt das für uns eine enor­me Anzahl an Prüf­lin­gen! Wir hat­ten hier den gro­ßen Vor­teil, dass eini­ge Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die frü­her in der Wirt­schaft im Bereich der Medi­zin­tech­nik gear­bei­tet haben, auf­grund ihrer Erfah­rung in kür­zes­ter Zeit ein prak­ti­ka­bles Kon­zept ent­wi­ckeln konn­ten. Zu unse­rem Kon­zept gehört das Tra­gen von Nasen-Mund­schutz und die maxi­ma­le Beschu­lung von sie­ben Schü­le­rin­nen und Schü­lern pro Klas­sen­raum. Wir haben also die Abschluss­klas­se auf ins­ge­samt sie­ben Klein­grup­pen an unter­schied­li­chen Tagen bzw. unter­schied­li­chen Klas­sen­räu­men auf­tei­len müssen.

Das 1. und 2. Aus­bil­dungs­jahr wur­de par­al­lel mit Prü­fungs­auf­ga­ben online beschult. Für mich als Leh­rer war es sehr span­nend, wel­che tol­len Ergeb­nis­se über die­se Mög­lich­keit ent­stan­den sind. Es gab sogar Schü­ler, die Lern­vi­de­os für alle erstellt haben!

Seit dem 25.05. ist es uns mög­lich, auch das 1. und 2. Aus­bil­dungs­jahr in einem rol­lie­ren­den Sys­tem zu unter­rich­ten. Dazu wird jede Klas­se an ihrem nun 14-tägi­gen Unter­richts­tag ver­teilt auf zwei Klas­sen­räu­me unter­rich­tet mit nun maxi­mal 14 Schü­le­rin­nen und Schü­lern pro Klassenraum.

OT: Kön­nen die Aus­zu­bil­den­den ihre Gesel­len­prü­fun­gen ablegen? 

Schul­ze Fren­king: Die GP II und die ver­scho­be­nen GP I fin­den nun gera­de mit redu­zier­ten Grup­pen­grö­ßen par­al­lel zum Unter­richt bis zu den Som­mer­fe­ri­en statt. Dank der sehr guten Aus­stat­tung unse­rer Werk­stät­ten, kön­nen auch hier am MBBK Prü­fun­gen durch­ge­führt wer­den. Natür­lich müs­sen hier sehr star­ke Hygie­ne­vor­schrif­ten ein­ge­hal­ten wer­den, aber der Prü­fungs­ab­lauf und ‑inhalt ist wie gehabt.

OT: Was bedeu­ten die Ver­än­de­run­gen für den prak­ti­schen Teil der Aus­bil­dung am Kolleg? 

Schul­ze Fren­king: Für die Arbeit in Werk­stät­ten gibt es zur­zeit noch stär­ke­re Auf­la­gen als für den Theo­rie-Unter­richt. Nor­ma­ler­wei­se tei­len wir in dem 14-tägig statt­fin­den­den fach­prak­ti­schen Unter­richt die Lern­grup­pe in zwei Grup­pen auf, jetzt müss­ten wir sie vier­teln! Zudem haben wir auf­grund der Aus­nah­me­si­tua­ti­on und den aktu­ell ver­dich­tet statt­fin­den­den Gesel­len­prü­fun­gen per­so­nel­le und räum­li­che Eng­päs­se. Daher „ruht“ die­ser Unter­richt zunächst bis zu den Sommerferien.

OT: Wel­che Reak­tio­nen gab es von­sei­ten der Auszubildenden? 

Schul­ze Fren­king: Die meis­ten Schü­le­rin­nen und Schü­ler waren froh, dass Inhal­te nun online ver­mit­telt wer­den kön­nen. Aller­dings gab es eini­ge tech­ni­sche Pro­ble­me zu über­win­den und manch­mal lag das Pro­blem der Anwen­dung der Soft­ware „zwi­schen den Ohren“ des Azu­bis. Die Soft­ware kann sowohl am PC, Han­dy oder Tablet genutzt wer­den. Zudem haben sehr vie­le Aus­bil­dungs­be­trie­be ihren Aus­zu­bil­den­den die Mög­lich­keit gege­ben, die betrieb­li­chen Res­sour­cen nut­zen zu kön­nen. Hier­über freue ich mich als Leh­rer beson­ders, schließ­lich ist die­se enge Zusam­men­ar­beit zwi­schen Betrieb und Schu­le der Kern und Erfolg der dua­len Aus­bil­dung in Deutschland!

OT: Mit wel­chen Kon­zep­ten star­ten Sie ins neue Schuljahr? 

Schul­ze Fren­king: Wir sind gera­de dabei, die Stun­den­plä­ne für das nächs­te Schul­jahr zu erstel­len. Hier pla­nen wir zunächst den Unter­richt wie gewohnt. Soll­te es zu einem erneu­ten regio­na­len Lock­down kom­men, kön­nen wir sehr schnell auf den Online-Unter­richt bzw. auf das rol­lie­ren­de Unter­rich­ten umstellen.

OT: Wagen Sie eine Pro­gno­se, ob sich der Unter­richt nach der Coro­na-Pan­de­mie am Kol­leg ändern wird? 

Schul­ze Fren­king: Die digi­ta­len Kon­zep­te, die wir gera­de nut­zen wie flip­ped Class­room – das Erar­bei­ten der Lern­in­hal­te zu Hau­se und die Anwen­dung des­sel­ben im Unter­richt –, distance Lear­ning (Fern­un­ter­richt), blen­ded Lear­ning – eine Kom­bi­na­ti­on der Vor­tei­le des Online-Unter­richts mit denen des Prä­senz­un­ter­richts – sind nicht neu. Aller­dings waren wir nun alle – Leh­rer wie Schü­ler – gezwun­gen, die­se zu nut­zen. Gera­de in der Ortho­pä­die-Tech­nik, wo die Berufs­schu­len ein sehr gro­ßes Ein­zugs­ge­biet haben, kann man die­se Platt­for­men und Kon­zep­te auch zukünf­tig sehr gut als Add-on zum Prä­senz­un­ter­richt nut­zen. Die­ser, auch das zei­gen mei­ne aktu­el­len Erfah­run­gen, ist auf Dau­er nicht gänz­lich zu erset­zen. Unter­richt lebt von der Inter­ak­ti­on von Schü­lern und Leh­rern. Mei­ne Pro­gno­se: Die Aus­re­de „ich habe alle Auf­ga­ben gemacht, aber der Hund hat mei­ne Haus­auf­ga­ben gefres­sen“ wird nun abge­löst durch „ich habe alle Auf­ga­ben gemacht, aber ich habe irgend­wie ver­ges­sen zu spei­chern“. Auf jeden Fall wird uns die­ses Schul­jahr als ein ganz beson­de­res in Erin­ne­rung bleiben!

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

 

Zur Per­son
Dani­el Schul­ze Fren­king, 1983 in Müns­ter gebo­ren, absol­vier­te zunächst eine Aus­bil­dung zum Ortho­pä­die-Mecha­ni­ker. Von 2006 bis 2010 schloss er ein Stu­di­um als Diplom-Inge­nieur für Ortho­pä­die­tech­nik inklu­si­ve Meis­ter­prü­fung und von 2010 bis 2013 ein Lehr­amts­stu­di­um an. Zum Max Born Berufs­kol­leg kam er 2010 als Sei­ten­ein­stei­ger. Seit 2015 ist er Stu­di­en­rat und lei­tet den Bil­dungs­gang Ortho­pä­die­tech­nik. Zudem ist er als Prü­fer im Regie­rungs­be­zirk Arns­berg, Bie­le­feld, Müns­ter tätig. Im Sep­tem­ber 2019 wur­de er für drei Jah­re zum Prä­si­den­ten der ALLOF e.V. gewählt.
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