Viele hatten es gehofft, manche befürchtet und einige nicht mehr geglaubt: Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist der neue Bundesgesundheitsminister in der Ampel-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Als Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Dezember 2021 sein Kabinett vorstellte, ließ ein Versprechen Lauterbachs aufhorchen: „Mit uns wird es keine Leistungskürzungen im Gesundheitswesen geben“, versicherte der Mediziner und Gesundheitsökonom. Man werde „das Gesundheitssystem stärken“. Nicht zuletzt die Hilfsmittelbranche wird sich diese Worte merken.
Digitalisierung des Gesundheitswesens
Sechs „zentrale Zukunftsfelder“ definiert das gemeinsame Regierungsprogramm von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. An dritter Stelle: „ein vorsorgendes, krisenfestes und modernes Gesundheitssystem, welches die Chancen biotechnologischer und medizinischer Verfahren nutzt, und das altersabhängige Erkrankungen sowie seltene oder armutsbedingte Krankheiten bekämpft“. Im 177 Seiten starken Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, der am 7. Dezember 2021 unterschrieben wurde, konstatieren die Ampelpartner: „Deutschland braucht einen umfassenden digitalen Aufbruch.“ So soll „in einer regelmäßig fortgeschriebenen Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege“ ein besonderer Fokus „auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer“ gelegt werden. Bereits in ihren Wahlprogrammen hatten die drei Regierungsparteien, allen voran die FDP, es als eine wesentliche Herausforderung benannt, die Digitalisierung voranzubringen. Für die aktuelle Legislaturperiode wird ein Passus hinsichtlich der Digitalstrategie im Koalitionsvertrag besonders aufhorchen lassen: „Wir ermöglichen regelhaft telemedizinische Leistungen inklusive Arznei‑, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung“, heißt es da. Damit könnten die während der Corona-Pandemie bereits teilweise genutzten digitalen Möglichkeiten verstetigt und erweitert werden. Darin liegt ebenfalls die Chance einer erleichterten telemedizinischen Hilfsmittelverordnung – gerade bei Folgeversorgungen. Allerdings muss beobachtet werden, dass Digitalisierung nicht „nach hinten“ los – und mit einer Absenkung der Versorgungsstandards sowie einer Aufweichung der Meisterpräsenz einhergeht – sondern tatsächlich mit Innovation und Qualität verbunden ist.
Kommt Opt-out bei ePa?
Ein Paradigmenwechsel kündigt sich bei der elektronischen Patientenakte (ePA) an: Nicht nur, dass deren Einführung – wie übrigens auch die des elektronischen Rezepts (E‑Rezept) – beschleunigt werden soll, verbunden mit einer beschleunigten Anbindung „sämtlicher Akteure“ an die Telematikinfrastruktur (TI). Zusätzlich steht im Koalitionsvertrag: „Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform (entsprechend der europäischen Datenschutz-Grundverordnung, Anm. d. Red.) eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out).“ Somit würde für alle gesetzlich Krankenversicherten von der jeweils zuständigen Krankenkasse zunächst eine ePA eingerichtet – es sei denn, es wird aktiv widersprochen. Bisher ist es umgekehrt (opt-in). Mit der neuen Regelung, die freilich noch in ein Gesetzesvorhaben gegossen werden muss, soll wohl der lahmen Nachfrage nach den seit Anfang 2021 angebotenen digitalen Akten Beine gemacht werden.
Bitkom-Umfrage: ePA wenig genutzt
Wie eine im November 2021 durchgeführte repräsentative Umfrage des Digitalverbandes Bitkom zeigte, hatten erst 0,5 Prozent der Befragten die ePA in Gebrauch. Dies liege an der fehlenden Aufklärung, wie der Bitkom mitteilte: Demnach hätten mehr als die Hälfte – 52 Prozent – der Befragten gesagt, dass sie bislang noch nicht von ihrer Krankenkasse oder der Ärzteschaft über die elektronische Patientenakte informiert worden seien. Allerdings möchten laut Bitkom 76 Prozent die ePA nutzen. 73 Prozent fordern laut Bitkom, dass Ärztinnen und Ärzte aktiv auf die ePA hinweisen müssten. Zudem halten nach Information des Bitkom 41 Prozent der Befragten die Beantragung der ePA für zu umständlich – und immerhin 62 Prozent seien der Meinung gewesen, dass alle Versicherten automatisch eine elektronische Patientenakte bekommen sollten, heißt es weiter. Trotzdem liegt entsprechend der Befragung jedoch eine Bringschuld der Krankenkassen und Ärzteschaft vor. Warum es hier also ein Opt-out-Verfahren bzw. eine Widerspruchslösung braucht, wie im Koalitionsvertrag beschrieben, steht infrage.
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hat bereits vor Risiken eines Opt-out-Verfahrens gewarnt, das den „Weg zu einem flächendeckenden Sammeln von Gesundheitsdaten“ ebne, so der Verband. In einer Resolution betont der BDP, die „Opt-in-Regelung der elektronischen Patientenakte (ePA) muss erhalten bleiben“. Und weiter: „Die zugesicherten Opt-in-Regularien des Patientendatenschutzgesetzes (PDSG) würden […] nach Implementierung der Telematik-Infrastruktur ausgesetzt. Dies ist abzulehnen.“ Es bleibt abzuwarten, ob ein Opt-out-Verfahren den Segen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) erhalten würde. Wahrscheinlich ist das nicht. Denn der Bundesdatenschutzbeauftragte hat bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass Patient:innen auch bei der ePA die volle Hoheit über ihre Daten besitzen müssen. Zum anderen: Was eine beschleunigte Anbindung aller Akteure an die TI meint – unklar. Die für den Aufbau der TI zuständige Gematik wollen die Koalitionspartner zur „digitalen Gesundheitsagentur“ ausbauen. Welche Aufgaben damit verbunden sind, ist aber nicht beschrieben. Gestärkt werden könnte dadurch beispielsweise die von der Gematik entwickelte E‑Rezept-App – und diese wiederum könnte als neutrale „Vermittlerin“ zur Vermeidung einer interessengesteuerten Lenkung von Patient:innen beitragen.
Ein „Bürokratieabbaupaket“ verspricht das Koalitionspapier. Weniger Bürokratie, das klingt gut – wird allerdings bereits seit Jahren beteuert. Trotzdem, die Branche wird es gern hören. Vor allem, wenn sich dies auf die Europäische Medizinprodukte-Verordnung MDR (Medical Device Regulation), das Präqualizierungs-(PQ-)Verfahren und den Mehrkostenbericht beziehen würde. Ebenso soll das Sozialgesetzbuch (SGB) V auf Dokumentationspflichten durchforstet werden, die durch den technischen Fortschritt überholt sind. Ein Beispiel wäre der Ersatz der händischen Signatur der Versicherten auf diversen Dokumenten durch die digitale Unterschrift. Das würde zudem Papier sparen. „Wir verstetigen die Verfahrenserleichterungen, die sich in der Pandemie bewährt haben“, steht im Koalitionsvertrag. Interessant wird, welche der Verfahrenserleichterungen aus den „Empfehlungen zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung während der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV2“ des GKV-Spitzenverbandes letztlich beibehalten werden.
Spielräume ausweiten
„Unser Ziel ist eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“, betonen die Koalitionsparteien. Und das in Stadt und Land, menschlich und qualitativ hochwertig, dazu multiprofessionell, integriert, bedarfsgerecht und wohnortnah. Was sich erstmal gut anhört. Fortschrittlich liest sich der Passus: „Zudem erhöhen wir die Attraktivität von bevölkerungsbezogenen Versorgungsverträgen (Gesundheitsregionen) und weiten den gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern aus, um innovative Versorgungsformen zu stärken.“ An dieser Stelle könnte es haarig werden. Zum Beispiel, wenn somit Selektivverträge möglich werden, die aufgrund größerer Freiheitsgrade den Leistungspflichten des Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) gegebenenfalls zuwiderlaufen. Da kommt es letztlich auf die konkrete Ausgestaltung an.
Reform der Selbstverwaltung
Eine Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses (G‑BA) kündigt der Koalitionsvertrag ebenfalls an. Die Ampel-Koalition will damit Entscheidungen beschleunigen, die Vertretung der Patient:innen stärken sowie „der Pflege und anderen Gesundheitsberufen weitere Mitsprachemöglichkeiten“ einräumen, „sobald sie betroffen sind“. Die Forderung nach mehr Mitbestimmung bei den Abstimmungsprozessen des höchsten Beschlussgremiums der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen wurde von Leistungserbringerorganisationen bereits im Wahlkampf 2021 gefordert – und spielte ebenfalls in der Live-Videotalkreihe des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“ (WvD) zur Gesundheitspolitik eine Rolle. Kein Wunder, dass die GB-A-Reform und Stärkung der Gesundheitsfachberufe von den WvD-Bündnispartnern Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, Egroh-Service GmbH, Reha-Service-Ring GmbH, Rehavital Gesundheitsservice GmbH und Sanitätshaus Aktuell AG ausdrücklich begrüßt werden – neben den Plänen zur Entbürokratisierung und Digitalisierung. Wobei Leitplanken zu definieren seien, um Versorgungsqualität zu sichern, wie das Bündnis unterstreicht. Zu den weiteren Vorhaben der Ampel-Koalition zählt ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen, wofür bis Ende 2022 ein Aktionsplan erarbeitet werden soll. Gendermedizin soll in Aus‑, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe Einzug halten. Schwammig bleibt, was mit „mehr Transparenz über finanzielle Zuwendungen an Leistungs- und Hilfsmittelerbringer“ gemeint ist, womit Interessenkonflikte vermieden werden sollen. Spannend bleibt in den kommenden Jahren die Finanzierung der Gesundheitsversorgung. Gar keine Rede mehr ist übrigens von der noch in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen angekündigten „Bürgerversicherung“.
Cathrin Günzel
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