Damit Kindern mit Amputationen während ihrer Abenteuerreisen nichts im Wege steht, hat das Team des englischen Familienunternehmens Orthomobility das Prothesenkniegelenk VGK‑J entwickelt, das bereits ab einem Alter von drei Jahren genutzt werden kann. Welche Herausforderungen dieser Prozess mit sich brachte und welche Bedeutung fluidgesteuerten Kniegelenken zukommt, darüber berichtet das Führungsteam um Jacob, Jennifer, Jay und Jona Boender im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: Das Kniegelenksystem VGK‑J ist für Kinder ab drei Jahren entwickelt worden. Sehen Sie in dieser Altersklasse generell Nachholbedarf auf dem Markt?
Jennifer Boender: Kinder lernen vor allem durch Spielen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass amputierte kleinere Kinder bereits Prothesen tragen, die ihnen ein natürliches und intuitives Gefühl vermitteln. Hochfunktionelle Kniegelenke helfen ihnen dabei, alltäglichen Aktivitäten nachzugehen.
Mikroprozessorgesteuerte Kniegelenke für erwachsene Amputierte gibt es bereits seit 1995. Damals erfand James Kelly das erste Modell, das zunächst auf wenig Interesse am Markt stieß, bevor es später sehr erfolgreich wurde. Nachholbedarf gibt es allerdings definitiv bei der Entwicklung eines Knies für Amputierte ab drei Jahren. Soweit wir wissen, gibt es auf dem Weltmarkt noch nichts vergleichbar Hochfunktionales. Die Kinder befinden sich in diesem Alter in einer entscheidenden Lern- und Entwicklungsphase – und das VGK‑J hilft ihnen, ihre grundlegenden Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen. Dabei müssen wir auf jeden Fall auch bedenken, dass sie für den Rest ihres Lebens amputiert sein werden. Diese Marktlücke für jüngere Amputierte zu schließen, ist unser ganz persönliches Ziel und unsere Herzensangelegenheit.
Die Entwicklung von Prothesen für Kinder ist ein entscheidender Schritt in der modernen Medizintechnik, der nicht nur die Mobilität, sondern auch die Lebensqualität junger Patienten erheblich verbessern kann. Insbesondere bei der Gestaltung von Prothesenkniegelenken für Kinder ab drei Jahren stehen Ingenieure bei der Entwicklung vor einzigartigen Herausforderungen. Diese Altersgruppe erfordert nicht nur funktionale, intuitiv bedienbare und anpassungsfähige Lösungen, sondern auch ein besonderes Augenmerk auf das Wachstum und die sich verändernden Bedürfnisse der kleinen Nutzer. In diesem Kontext wird die Entwicklung eines innovativen Prothesenkniegelenks für Kinder zu einem wichtigen Forschungsfeld, das darauf abzielt, die Bewegungsfreiheit und das Selbstbewusstsein der betroffenen Kinder zu fördern und ihnen ein aktives und erfülltes Leben zu ermöglichen.
OT: Kinder laufen, fallen, toben, spielen im Sand, springen in Pfützen – ihre Prothese muss im Alltag viel aushalten. Hält das VGK‑J all dem stand?
Jay Boender: Eltern wissen, wie stark und eifrig Kinder beim Toben und Spielen sein können. Kinder in diesem Alter testen Grenzen aus und sind in ihrer Unbeschwertheit unberechenbar und denken meist nicht darüber nach, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Dementsprechend muss ihre Prothese im Alltag tatsächlich viel aushalten. Prothesenkniegelenke wie das VGK‑J sind Medizinprodukte, die erst dann auf den Markt kommen, wenn sie ausgiebig strukturell und funktionell getestet worden sind. Das bedeutet, dass sie unter anderem destruktiven Tests unterzogen werden und diesen standhalten müssen. Das sind regulatorische Anforderungen, die wir streng
einhalten.
Am Anfang steht die Fantasie
OT: Welche Herausforderungen galt es bei der Entwicklung zu überwinden?
Jona Boender: Die Zahl der betroffenen Amputierten ist sehr gering – einer von tausend Menschen ist amputiert, und amputierte Kinder machen nur einen sehr kleinen Teil aus. Ein Teil der Herausforderung war also eine rein wirtschaftliche Entscheidung, da der Markt für ein solches Produkt sehr klein ist. Doch wie einst James Kelly hat auch unser Team eine Vision: Wir glauben, dass es keinen „Durchschnittsamputierten“ gibt, und wir arbeiten daran, Produkte zu entwickeln, die einer Vielzahl von spezifischen Bedürfnissen gerecht werden.
Wir mussten ein sicheres und dynamisches Kniegelenk für jüngere Kinder entwickeln, das alle der folgenden Eigenschaften in sich vereint: hochfunktionell, sehr robust, kompakt und leicht. Auch die Wahl der verschiedenen Materialien mit ihren spezifischen Eigenschaften für Festigkeit, Haltbarkeit oder Flexibilität sowie die verschiedenen Arten von Oberflächenbeschichtungen zum Schutz vor äußeren Einflüssen und für den robusten Einsatz und die Verwendung im Wasser mussten sorgfältig abgewogen und durchdacht werden. Die kreativen Designaspekte und die Formgebung des Kniegelenks waren weitere Herausforderungen bei der Entwicklung dieses Prothesenpassteils, das größtenteils aus hochwertigen Metallen besteht, damit es wie ein menschliches Körperteil aussieht und funktioniert. Dieser Teil der Arbeit ist für uns unbezahlbar und wird mit Hingabe und Liebe gestaltet. Die Herausforderung besteht darin, Kunst und Ausführung zu vereinen, um ein funktionelles Design zu schaffen. Es beginnt in der Fantasie, geht dann weiter mit einer ausgeklügelten Software auf einem Laptop und entwickelt sich später zu einer realen Form, die man fühlen, anfassen und in einer Werkstatt mit den vorhandenen Materialteilen zusammenbauen kann.
Fluidsteuerung vs. elektronische Steuerung
OT: Wie Ihre anderen Modelle wird auch das VGK‑J fluidgesteuert. Was bedeutet das?
Jacob Boender: Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass ein Kniegelenk, das lediglich mit Flüssigkeit gefüllt ist, nicht zwangsläufig ein „gesteuertes“ Kniegelenk ist. Der Begriff „Steuerung“ ist in der technischen Fachsprache von besonderer Bedeutung: Er besagt, dass das Knie unter variierenden äußeren Bedingungen stabilisiert wird. Es gibt einige flüssigkeitsgefüllte Kniegelenke, die sich bei einer doppelt so großen Steigung doppelt so schnell beugen – das ist problematisch! Es muss über eine Steuerung verfügen! Ein gesteuertes Kniegelenk sollte die Beugegeschwindigkeit an einer Steigung begrenzen, wie es das menschliche Bein von Natur aus tut. Das menschliche Kniegelenk beugt sich nicht doppelt so schnell, wenn die Belastung doppelt so hoch ist. Die Muskeln passen sich an. Eine Steuerung ist dann gegeben, wenn die Beugegeschwindigkeit stabilisiert und begrenzt wird, zum Beispiel bei einem doppelt so steilen Abhang – sie sollte dann nur 10 Prozent, aber keinesfalls 100 Prozent höher sein. In diesem Sinne ist beim Gehen mit einem „gesteuerten“ Gelenk der Kniebeugewinkel auf maximal 63 Grad begrenzt, wie es beim menschlichen Bein der Fall ist, unabhängig von der Gehgeschwindigkeit. Ein weiteres Merkmal eines „gesteuerten“ Gelenks ist nicht zwangsläufig die Elektronik, sondern die Tatsache, dass eine Rückkopplung stattfindet, die den Widerstand dynamisch regelt. Dies ist zwar auch mit Elektronik möglich, aber Elektronik allein bedeutet nicht, dass es immer eine Steuerung gibt. Fluidgesteuerte Kniegelenke sind in diesem Sinne dynamisch gesteuerte Gelenke.
OT: Wie genau funktioniert der Prozessor?
Jacob Boender: Der Fluidik-Prozessor nutzt die natürlichen Eigenschaften von Flüssigkeiten und die Lage im Raum, um mathematische Operationen durchzuführen, Rückkopplungsschleifen zu implementieren und einen Statusspeicher zu integrieren. Dadurch hat das fluidgesteuerte Kniegelenk eine Verarbeitungsgeschwindigkeit, die 300 Hertz entspricht. Das bedeutet, dass das Kontrollsystem innerhalb von 0,003 Sekunden auf Veränderungen reagiert – also gefühlt in Echtzeit. Der Fluidik-Prozessor ermöglicht zudem auch eine intuitive Bedienung, die dem Anwender das Gefühl vermittelt, seine Mobilität selbst in der Hand zu haben, anstatt dass eine Software die Kontrolle übernimmt und unter Verbrauch von Energie (Strom) vorprogrammierte Algorithmen ein- oder ausschaltet. Die Funktionsweise des Prozessors ist äußerst ausgeklügelt. Interne Sensoren interagieren mit den natürlichen Eigenschaften der Hydraulikflüssigkeit, um den Durchfluss präzise zu steuern. Mit anderen Worten, ein fluidgesteuertes Kniegelenk nutzt dynamische physikalische Prinzipien zur Steuerung: Es verwendet Sensoren, die Geschwindigkeit und Kraft messen, sodass die Ventilfunktionen angepasst werden. Auf diese Weise reagieren sie in unterschiedlichen Situationen beim Gehen in Echtzeit, indem sie den Bewegungswiderstand und die Gehgeschwindigkeit innerhalb eines einzigen Schrittes anpassen.
OT: Fluidsteuerung vs. elektronische Steuerung: Wo liegen die Vor- und Nachteile?
Jay Boender: Betrachtet und vergleicht man flüssigkeitsgesteuerte (FPK) und mikroprozessorgesteuerte (MPK) Kniegelenke, ergeben sich mehrere Gemeinsamkeiten und Unterschiede, aus denen sich die jeweiligen Vor- und Nachteile ableiten lassen. Sowohl FPK als auch MPK sind grundsätzlich mechanische Geräte, die unter anderem die gleichen Materialien wie Metall und Kunststoff verwenden, die aus mechanischen Komponenten wie Ventilen bestehen und Kolben verwenden. Beide Arten zielen darauf ab, die Mobilität von Amputierten zu verbessern und eine höhere Gehdynamik und Stabilität zu erreichen. Der klare Vorteil der fluidgesteuerten Kniegelenke ist ihre intuitive Bedienung. Diese Gelenke sind besonders benutzerfreundlich und benötigen keine Batterien, die regelmäßig aufgeladen werden müssen. Das macht den Nutzer unabhängig, denn die Prothese kann jederzeit eingesetzt werden und bleibt einsatzbereit. Darüber hinaus reagieren FPK in Echtzeit ohne elektronische Verzögerung und stellen sich sofort auf die Bewegungen des Prothesenträgers ein. Fluidgesteuerte Kniegelenke punkten auch durch ihre Robustheit, da sie raueren Umgebungen standhalten können. Sie sind wasserdicht und somit unempfindlich gegenüber unterschiedlichen Umweltbedingungen und reagieren zuverlässig. Die Flexibilität der anpassbaren Optionen mag zwar im Vergleich zu mikroprozessorgesteuerten Kniegelenken eingeschränkter sein, aber Fluidik-Kniegelenke sind in puncto Sicherheit und Anpassungsfähigkeit gleich leistungsstark.
Begleitung von Kindheit über Jugend bis hin zum Erwachsenenalter
OT: Kaum hat man ein neues Paar Schuhe für sein Kind gekauft, ist es diesen schon wieder entwachsen. Wie sieht es mit dem Kniegelenksystem aus – passt es sich den Bedürfnissen der Anwender:innen an?
Jona Boender: Wir haben das VGK‑J so konzipiert, dass es bereits im frühen Alter eingesetzt werden kann. Das Kniegelenk kann sich dem Wachstum und der Entwicklung der Kinder anpassen. Wenn sie größer werden, wird das VGK-XS für Jugendliche ab 35 Kilogramm empfohlen, um sie bis ins Erwachsenenalter zu begleiten.
Markeinführung des VGK‑J in Planung
OT: Noch ist das Kniegelenk nicht auf dem Markt. Zu wann planen Sie die Einführung und welche Schritte sind bis dahin noch erforderlich?
Jennifer Boender: Wir haben bereits den Prototyp des VGK‑J auf der OTWorld in Leipzig im Mai 2024 vorgestellt. Wir streben eine Markteinführung in Deutschland im Dezember 2024 oder Januar 2025 an. Bis dahin wird das VGK‑J von der Zielgruppe in Zusammenarbeit mit orthopädischen Werkstätten auf Herz und Nieren geprüft.
OT: Welches Feedback haben Sie von den Anwender:innen erhalten? Was schätzen die Kinder besonders?
Jacob Boender: Das VGK‑J basiert auf einer ähnlichen Technologie wie das etablierte VGK-XS für Jugendliche. Nutzer des VGK-XS sagen, dass sie die Sicherheit des Knies und die Möglichkeit, verschiedene Aktivitäten durchzuführen (Radfahren, variables Gelände, variable Gehgeschwindigkeiten), schätzen. Dies sind alles Eigenschaften, die wir trotz des begrenzten Platzes in das VGK‑J übernommen haben.
Das VGK‑J hat bereits umfangreiche Finite-Elemente-Tests durchlaufen. Die Spannung ist also groß. Da die strukturellen Tests jedoch noch nicht abgeschlossen sind, bleibt abzuwarten, wie das Feedback der jüngeren Kinder ausfallen wird.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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