Offe­ner Brief an Minis­ter Karl Lauterbach

Neun Vereine und Organisationen aus dem Hilfsmittelbereich und der Selbsthilfe haben sich in der vergangenen Woche in einem Offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach gewandt und eine klare Ablehnung der Forderung der Krankenkassen nach einer Rückkehr zur Ausschreibungspraxis in der Hilfsmittelversorgung gefordert.

Die Unter­zeich­ne­rin­nen und Unter­zeich­ner kri­ti­sie­ren ins­be­son­de­re die auf irre­füh­ren­den Zah­len beru­hen­de Argu­men­ta­ti­on der Kran­ken­kas­sen und war­nen vor mas­si­ven Qua­li­täts­ein­bu­ßen und lang­fris­tig stei­gen­den Kos­ten in der Ver­sor­gung, soll­ten Aus­schrei­bun­gen erneut ein­ge­führt wer­den. Sie appel­lie­ren an den Bun­des­mi­nis­ter für Gesund­heit, nach­hal­ti­ge Refor­men durch­zu­füh­ren und sich für Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung und die Ein­füh­rung eines ver­ein­heit­lich­ten, nied­ri­ge­ren Mehr­wert­steu­er­sat­zes auf Hilfs­mit­tel ein­zu­set­zen, statt über geschei­ter­te Instru­men­te der Ver­gan­gen­heit zu dis­ku­tie­ren. Die Erst­un­ter­zeich­ner sind: Wir ver­sor­gen Deutsch­land (WvD), Inter­na­tio­na­le För­der­ge­mein­schaft Reha­kind e. V., der Bun­des­ver­band für Men­schen mit Arm- und Bein­am­pu­ta­tio­nen (BMAB) e. V., Spec­ta­ris – Deut­scher Indus­trie­ver­band für Optik, Pho­to­nik, Ana­ly­sen- und Medi­zin­tech­nik e. V., der Bun­des­ver­band spe­zi­el­le Lebens­mit­tel (Diät­ver­band) e. V., Ottobock.care, die Lipö­dem Hil­fe Deutsch­land e. V., der Bun­des­ver­band Medi­zin­tech­no­lo­gie (BVMed) e. V. sowie die För­der­ge­mein­schaft der Quer­schnitt­ge­lähm­ten (FGQ) e. V. in Deutschland.

Der Offe­ne Brief im Wortlaut:

Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sichern – kei­ne Rück­kehr zur Ausschreibungspraxis!

Sehr geehr­ter Herr Bundesminister,

die Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger in unse­rem Land sichern Mil­lio­nen von Men­schen eine qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge, wohn­ort­na­he und indi­vi­du­el­le Ver­sor­gung mit pas­sen­den Hilfs­mit­teln. Sie ermög­li­chen damit gera­de Men­schen mit Behin­de­run­gen sowie Senio­rin­nen und Senio­ren die Ver­bes­se­rung ihrer Lebens­qua­li­tät, gesell­schaft­li­che Teil­ha­be und in vie­len Fäl­len eine siche­re Ver­sor­gung in den eige­nen vier Wän­den. Damit leis­tet die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zugleich einen ent­schei­den­den Bei­trag zur Stär­kung der ambu­lan­ten Ver­sor­gung und zur Ent­las­tung von Pfle­ge­an­bie­tern und Kran­ken­häu­sern in Deutsch­land. Zugleich ver­mei­det eine hoch­wer­ti­ge und indi­vi­du­el­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung teu­re Fol­ge­kos­ten in der Gesund­heits­ver­sor­gung und ent­las­tet somit auch lang­fris­tig die Kos­ten­trä­ger und damit die Bei­trags­zah­le­rin­nen und ‑zah­ler.

Kei­ne Rück­kehr zum geschei­ter­ten Instru­ment der Ausschreibungen!
Gera­de ange­sichts die­ses wich­ti­gen Bei­tra­ges zur Gesund­heits­ver­sor­gung sehen wir mit gro­ßer Sor­ge die aktu­ell von Sei­ten der Kran­ken­kas­sen mas­siv for­cier­te Dis­kus­si­on über eine Rück­kehr zum bereits in der Ver­gan­gen­heit ekla­tant geschei­ter­ten Instru­ment der Aus­schrei­bun­gen in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Mit irre­füh­ren­den Zah­len über angeb­li­che hohe Kos­ten­stei­ge­run­gen im Hilfs­mit­tel­be­reich seit Ende der Aus­schrei­bungs­pra­xis wird eine Angst­de­bat­te geschürt, die sowohl an den Bedürf­nis­sen der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten sowie an der wirt­schaft­li­chen Rea­li­tät völ­lig vorbeigeht.

Aus­schrei­bun­gen gefähr­den mas­siv die Versorgungsqualität
Die Erfah­run­gen der Ver­gan­gen­heit haben gezeigt: Aus­schrei­bun­gen füh­ren zu einer rei­nen Bil­lig­ver­sor­gung und gefähr­den mas­siv die Pati­en­ten­ver­sor­gung! Der Gesetz­ge­ber selbst hat 2019 die Abschaf­fung von Aus­schrei­bun­gen sowie damit ver­bun­de­ner Instru­men­te wie Open House Ver­trä­ge und Fest­prei­se mit der Gefähr­dung der Ver­sor­gungs­qua­li­tät begrün­det. Alle vor­he­ri­gen Ver­su­che, über angeb­li­che Qua­li­täts­kri­te­ri­en bei der Aus­schrei­bungs­pra­xis und die Auf­sichts­be­hör­den die Ver­sor­gungs­qua­li­tät zu sichern, waren kra­chend geschei­tert. Vor die­sem Hin­ter­grund erscheint es zynisch, dass der GKV-SV in der Wie­der­ein­füh­rung von Aus­schrei­bun­gen nun ein Instru­ment für den Qua­li­täts­wett­be­werb sehen will. Klar ist: Aus­schrei­bun­gen wer­den (wie­der) zu einem Bil­lig­wett­be­werb auf Kos­ten der Rech­te und Teil­ha­be der betrof­fe­nen Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten füh­ren. Wir appel­lie­ren an Sie, las­sen Sie es nicht dazu kommen!

Aus­schrei­bun­gen füh­ren zu stei­gen­den Kosten
Aus­schrei­bun­gen gefähr­den aber nicht nur die Qua­li­tät, son­dern auch die Wirt­schaft­lich­keit in der Ver­sor­gung. Wird in der Fol­ge von Bil­lig­aus­schrei­bun­gen zum Bei­spiel bei der Inkon­ti­nenz­ver­sor­gung gespart, dro­hen Ent­zün­dun­gen, Wun­den und damit zusätz­li­che Behand­lun­gen und Belas­tun­gen für die Betrof­fe­nen sowie Mehr­auf­wän­de in der Pfle­ge. Mit ent­spre­chen­den Fol­ge­kos­ten für die Kos­ten­trä­ger und damit letzt­lich für die Bei­trags­zah­le­rin­nen und ‑zah­ler. Ent­ge­gen der ver­zer­ren­den Dar­stel­lung der Kran­ken­kas­sen las­sen sich zudem seit Jah­ren für die Gesamt­aus­ga­ben im Hilfs­mit­tel­be­reich kei­ne über­durch­schnitt­li­chen Kos­ten­stei­ge­run­gen fest­stel­len. Weder die Ein­füh­rung der Aus­schrei­bun­gen 2007 noch ihre Abschaf­fung 2019 hat zu beson­de­ren Abwei­chun­gen in der Gesamt­ent­wick­lung der Aus­ga­ben der Kas­sen für Hilfs­mit­tel geführt. So beträgt die Abwei­chung bei den durch­schnitt­li­chen jähr­li­chen Stei­ge­rungs­ra­ten der Hilfs­mit­tel­aus­ga­ben zwi­schen der Zeit vor (2007–2019) und den vier Jah­ren nach der Abschaf­fung von Aus­schrei­bun­gen 2019 gera­de mal etwa ein Prozent.

Ja zu nach­hal­ti­gen Refor­men, Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung und Digitalisierung
Die Argu­men­ta­ti­on der Kran­ken­kas­sen igno­riert die eigent­li­chen Grün­de für Kos­ten­stei­ge­run­gen im Hilfs­mit­tel­be­reich: Weder der stei­gen­de Hilfs­mit­tel­be­darf durch die Alte­rung der Bevöl­ke­rung noch die mas­si­ven Aus­wir­kun­gen des Ukrai­ne­krie­ges und der hohen Infla­ti­ons­ra­te auf die Ver­sor­gun­gen wer­den erwähnt. Die Aus­wir­kun­gen die­ser Ent­wick­lun­gen wer­den sich jedoch nicht durch einen Abbau von Ver­sor­gungs­stan­dards und Pati­en­ten­rech­ten in Fol­ge einer Wie­der­ein­füh­rung von Aus­schrei­bun­gen lösen. Statt einer Rück­kehr zu geschei­ter­ten Expe­ri­men­ten bedarf es Refor­men, wel­che die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ins­be­son­de­re von der seit Jah­ren aus­ufern­den Büro­kra­tie befrei­en. Die Ein­füh­rung eines ein­heit­li­chen, ermä­ßig­ten Mehr­wert­steu­er­sat­zes auf Hilfs­mit­tel, büro­kra­ti­sche Ver­ein­fa­chun­gen bei Fol­ge­ver­ord­nun­gen, Wider­spruchs­ver­fah­ren sowie im Ver­trags­ge­sche­hen bei pro­dukt­über­grei­fen­den Ver­wal­tungs- und Abrech­nungs­pro­zes­sen wür­den mas­siv Res­sour­cen bei Kos­ten­trä­gern und Leis­tungs­er­brin­gern frei­set­zen und somit Kos­ten deut­lich redu­zie­ren. Hier muss der Hebel für künf­ti­ge Refor­men ange­setzt werden.

Gemein­sam für eine hoch­wer­ti­ge, zukunfts­fä­hi­ge und wirt­schaft­li­che Versorgung
Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter von Pati­en­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen, Leis­tungs­er­brin­gern und Her­stel­lern haben in den ver­gan­ge­nen Mona­ten kon­kre­te Vor­schlä­ge für sinn­vol­le Refor­men auf den Tisch gelegt und ste­hen für einen kon­struk­ti­ven Aus­tausch mit allen Betei­lig­ten bereit. Lei­der erle­ben wir von Sei­ten des GKV-Spit­zen­ver­ban­des bis­her kein Inter­es­se, in einen offe­nen und ziel­füh­ren­den Dia­log im Sin­ne einer hoch­wer­ti­gen, zukunfts­fä­hi­gen und wirt­schaft­li­chen Ver­sor­gung einzutreten.

Wir appel­lie­ren an Sie, Herr Bun­des­mi­nis­ter, leh­nen Sie im Sin­ne einer hoch­wer­ti­gen, indi­vi­du­el­len und wohn­ort­na­hen Ver­sor­gung eine Rück­kehr zur Aus­schrei­bungs­pra­xis in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ab! Las­sen Sie uns statt­des­sen gemein­sam mit allen an der Ver­sor­gung betei­lig­ten Akteu­ren über zukunfts­fä­hi­ge und nach­hal­ti­ge Refor­men spre­chen und so wei­ter­hin sicher­stel­len, dass die begrenz­ten Mit­tel im Gesund­heits­we­sen opti­mal in die Ver­sor­gung der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten fließen.

Mit freund­li­chen Grüßen

Die Unter­zeich­ne­rin­nen und Unterzeichner.

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