Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Burholt, Kartellrechtsexperte und Fachanwalt für Medizinrecht und Verfahrensbevollmächtigter des BIV-OT, erläutert im Gespräch mit der OT-Redaktion die Hintergründe und Folgen des Verfahrens.
OT: Im März 2022 leitete das Bundeskartellamt ein Kartellverwaltungsverfahren gegen die sogenannte ARGE – bestehend aus Sanitätshaus Aktuell, Egroh, Rehavital, Reha-Service-Ring, Cura-San und dem BIV-OT – ein. Was genau war Gegenstand der Untersuchung?
Christian Burholt: Das Bundeskartellamt hat das gemeinsame Verhandeln und den gemeinsamen Abschluss von Hilfsmittelverträgen im Sinne von § 127 Abs. 1 SGB V durch die ARGE im Reha-Bereich ab Herbst 2021 untersucht. Zu diesem Zeitpunkt standen die Leistungserbringer pandemiebedingt unter enormem finanziellem Druck, weil extrem hohe Preise für persönliche Schutzausrüstungen bezahlt werden mussten und zugleich die Rohstoff- und Transportkosten explodierten. Diese gestiegenen Kosten wollten und mussten die ARGE-Beteiligten ausgleichen. Durch ihren Zusammenschluss konnten sie schnell und unbürokratisch in Verhandlungen mit den Krankenkassen treten und sich mit einer branchenübergreifenden Stimme um temporäre Vertragsanpassungen, also Übergangsvereinbarungen, bemühen. Dieses Vorgehen, das einen Zeitraum von etwa einem Jahr betraf, hat das Bundeskartellamt im Rahmen eines Kartellverwaltungsverfahrens untersucht.
OT: Das Bundeskartellamt hatte im Rahmen der Vorstellung seiner Zwischenergebnisse in dem Fall Anfang 2023 von einer „Abmahnung“ gegenüber den beteiligten Verbänden gesprochen. Hat diese Bestand und wie ist so eine Abmahnung im Rahmen des kartellrechtlichen Kontextes – auch im Vergleich zum Zivilrecht – zu verstehen?
Burholt: Sie haben es schon richtig formuliert: Diese „Abmahnung“ war lediglich ein Zwischenergebnis im Laufe des Kartellverwaltungsverfahrens. In dem Verfahren haben der BIV-OT sowie die übrigen Mitglieder der ehemaligen ARGE eng mit dem Bundeskartellamt zusammengearbeitet. Es ist üblich und auch verfahrensrechtlich vorgesehen, dass die Verfahrensbeteiligten vor einer etwaigen formalen Behördenentscheidung angehört werden. Zu diesem Zweck teilt das Bundeskartellamt den bisher ermittelten Sachverhalt und seine vorläufige Rechtsauffassung mit. Die Beteiligten bekommen daraufhin die Gelegenheit, ihre Einschätzung der Sach- und Rechtslage vorzutragen. Statt „Abmahnung“ könnte man also auch von einem „Anhörungsschreiben“ sprechen. Die sogenannte Abmahnung bringt in diesem Verfahrensstadium also nur die vorläufige Einschätzung des Bundeskartellamts zum Ausdruck. Der Ausgang des Verfahrens war zu diesem Zeitpunkt noch völlig offen. Eine kartellbehördliche Abmahnung ist also etwas völlig anderes als eine zivilrechtliche Abmahnung. Durch die Mitteilung des bisherigen Ermittlungsstands des Bundeskartellamts Anfang 2023 wurde das Verhalten der beteiligten Leistungserbringerverbände gerade nicht rechtlich bindend verboten, auch nicht vorübergehend. Die ARGE hatte damals ihre Tätigkeiten dennoch vorsichtshalber sofort auf Eis gelegt.
OT: Und wie hat das Bundeskartellamt nun entschieden? Anfang November 2023 hat es in dem Verfahren ja einen Beschluss erlassen und in seiner Pressemitteilung von „wettbewerbswidriger Preiskoordinierung“ gesprochen.
Burholt: Durch den Beschluss vom 2. November 2023 wurde das Verfahren – Sie hatten es eingangs gesagt – eingestellt. Es gab also keinen Untersagungsbeschluss bzw. keine Abstellungsverfügung. Es wurde auch kein Bußgeld verhängt. Das Bundeskartellamt hat keine Kartellrechtswidrigkeit festgestellt. Insofern ist auch die Pressemitteilung leider missverständlich formuliert: Den Vorwurf, dass durch die ARGE eine „wettbewerbswidrige Preiskoordinierung“ stattgefunden haben soll, hat das Bundeskartellamt gerade nicht rechtsverbindlich bestätigt. Vielmehr gibt der Beschluss durchgängig ausdrücklich nur die vorläufige Rechtsauffassung der Behörde wieder. Damit bleiben wesentliche Rechtsfragen – insbesondere was die Anwendbarkeit des Kartellrechts auf den Fall betrifft – ungeklärt.
Gleichzeitig haben die Beteiligten gewisse Verpflichtungszusagen abgegeben, die das Bundeskartellamt für bindend erklärt hat. Dabei haben sie insbesondere zugesagt, zukünftig für einen bestimmten Zeitraum keine Kooperationen in Form der ARGE mehr einzugehen.
Grenzen des Kartellrechts beachten
OT: Der GKV-Spitzenverband hatte sich bereits im laufenden Verfahren dahingehend geäußert, dass das Bundeskartellamt die Position der Leistungserbringer und ihr Verhalten im GKV-System insgesamt als wettbewerbsverzerrend einstufen würde. Wie sehen Sie diesen Vorwurf?
Burholt: Zunächst möchte ich noch einmal hervorheben, dass sich diese Behauptung des GKV-Spitzenverbandes gerade nicht bestätigt hat. Ich kann mich hier nur noch einmal wiederholen: Das Bundeskartellamt hat keinen Untersagungsbeschluss erlassen und damit auch keine Wettbewerbsverzerrung oder Ähnliches rechtsverbindlich festgestellt. Zum anderen ist mir wichtig zu betonen, dass das Bundeskartellamt in dem nun abgeschlossenen Verfahren einen ganz konkreten Sachverhalt untersucht hat: Den Zusammenschluss von Sanitätshaus Aktuell, Egroh, Rehavital, Reha-Service-Ring, Cura-San und dem BIV-OT gemäß § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die daran anschließende gemeinsame Verhandlung von übergangsweisen Reha-Hilfsmittelverträgen vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation der Corona-Pandemie. Irgendwelche allgemeingültigen oder pauschalen Aussagen für die Branche insgesamt lassen sich daraus schwer bis gar nicht ableiten.
Das Bundeskartellamt hat in seinem Beschluss sogar ausdrücklich festgestellt, dass sich Hilfsmittelanbieter grundsätzlich zusammenschließen und gemeinsam Verhandlungen mit Krankenkassen führen dürfen. Generelle Bedenken oder pauschales Misstrauen gegenüber den Leistungserbringern kann ich darin nicht erkennen. Nach vorläufiger Rechtsauffassung des Bundeskartellamts sind bei Kooperationen zwischen Leistungserbringern, insbesondere wenn es um die gemeinsame Verhandlung von Hilfsmittelverträgen mit Krankenkassen geht, aber die Grenzen des Kartellrechts zu beachten. Wo genau diese nach Ansicht der Behörde liegen, ist leider nach wie vor nicht ganz klar. Daher sollten Kooperationsvorhaben zwischen Leistungserbringerverbänden zukünftig sorgfältig geprüft und gegebenenfalls mit der 3. Beschlussabteilung des Bundeskartellamts abgeklärt werden, bevor sie eingegangen werden.
OT: Was haben der BIV-OT und die übrigen Mitglieder der ehemaligen ARGE in dem Kartellverwaltungsverfahren vorgetragen, um sich gegen den Vorwurf des Wettbewerbsverstoßes zu wehren?
Burholt: Unabhängig davon, wie genau sich die ARGE bzw. deren Mitglieder damals verhalten haben, stellt sich im Hilfsmittelbereich bereits die Frage, ob das Kartellverbot überhaupt zur Anwendung kommt. Denn § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V erlaubt es Leistungserbringern gerade ausdrücklich, sich in Verbänden oder „sonstigen Zusammenschlüssen“ zu organisieren und auf diese Weise gemeinsam Verträge mit Krankenkassen bzw. deren Verbänden zu schließen. An dieser Regelung haben sich der BIV-OT und die übrigen Beteiligten bei Gründung der ARGE – wie ich finde zu Recht – orientiert. Die Frage, ob § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V als Sondervorschrift die allgemeinen kartellrechtlichen Regelungen verdrängt, ist durch die Verfahrenseinstellung offengeblieben. Diese Grundsatzentscheidung – die dann ja auch noch gerichtlich überprüft worden wäre – hat das Bundeskartellamt nicht getroffen. Einen zweiten wichtigen Punkt bilden die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen die ARGE im Herbst 2021 gegründet wurde. Es ging den beteiligten Leistungserbringerverbänden nicht darum, unangemessene Preiserhöhungen zum Zwecke der Gewinnmaximierung durchzudrücken. Vielmehr sollten die pandemiebedingt enorm gestiegenen Kosten aufseiten der Leistungserbringer ausgeglichen werden. Noch einmal zur zeitlichen Einordnung: Die verfahrensgegenständlichen Vertragsverhandlungen fanden ab Herbst 2021 statt; zu diesem Zeitpunkt bestanden wie gesagt extrem hohe Kosten für persönliche Schutzausrüstungen, auch Rohstoff- und Transportkosten waren buchstäblich explodiert. Trotzdem waren die Krankenkassen überwiegend nicht zur Anpassung der bestehenden Hilfsmittelverträge bereit und haben die Leistungserbringerverbände dadurch – umgangssprachlich ausgedrückt – am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Gemeinsam als ARGE gelang es den Beteiligten, schnell und konstruktiv mit den Krankenkassen in Verhandlung zu treten, um so letztlich die Versorgungssicherheit der Patientinnen und Patienten sicherzustellen.
Keine „ARGE 2.0“
OT: Was bedeutet die Verfahrenseinstellung für den BIV-OT, die übrigen Beteiligten und andere Spitzen-/Zentralverbände? Können diese jetzt aufatmen oder gibt es trotz der Einstellung Konsequenzen?
Burholt: Die Verfahrenseinstellung war ein wichtiger Schritt und ein großer Erfolg. Entscheidend ist, dass das Bundeskartellamt die gemeinsame Betätigung der Leistungserbringer als ARGE eben nicht für kartellrechtswidrig erklärt hat. Damit gibt es keine Entscheidung, die eine Bindungswirkung zulasten des BIV-OT und der übrigen Beteiligten entfalten könnte. Zentrale Konsequenz der im November ergangenen Entscheidung für die Mitglieder der ehemaligen ARGE sind die Verpflichtungszusagen gegenüber dem Bundeskartellamt, die durch den Beschluss für bindend erklärt wurden. Klar ist: Die ARGE gehört schon lange der Vergangenheit an und besteht nicht weiter; Gleiches gilt für die durch die ARGE verhandelten Übergangsvereinbarungen – diese wurden zwischenzeitlich beendet oder sind ohnehin ausgelaufen. Außerdem haben die beteiligten Leistungserbringerverbände zugesagt, Hilfsmittelverträge gem. § 127 SGB V zukünftig zumindest für einen gewissen Zeitraum grundsätzlich ohne weitere Kooperationspartner auszuhandeln. Eine „ARGE 2.0“ nur unter anderem Deckmantel wird es also nicht mehr geben. Ich möchte aber gleichzeitig betonen, dass Kooperationen zwischen einzelnen Leistungserbringerverbänden nicht gänzlich ausgeschlossen sind – auch nicht durch die abgegebenen Verpflichtungszusagen: Wenn hier etwas geplant ist, muss der BIV-OT aber das Bundeskartellamt darüber informieren und sich die Zulässigkeit der angestrebten Zusammenarbeit bestätigen lassen.
OT: Warum betont das Bundekartellamt in seiner Begründung, dass sich Leistungserbringer weiterhin zusammenschließen und gemeinsam mit Krankenkassen Verträge aushandeln können? Stand das im Verfahren infrage?
Burholt: Nein, das generelle Zusammenschlussrecht der Leistungserbringer stand nie zur Debatte, dazu ist der Wortlaut des § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch viel zu eindeutig.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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