Wenn Florian Fritsch mit verbundenen Augen durch die verschiedenen Abteilungen seines Betriebs gehen würde, wüsste er dennoch jederzeit, wo er sich befindet. Er muss dabei nur ganz Ohr sein. In der Buchhaltung geht es beim Tippen und Telefonieren recht ruhig zu, auf dem Weg zur Werkstatt wird die Geräuschkulisse dann immer lauter. Unter das Rattern und Piepsen der Maschinen und das Klimpern der Werkzeuge mischt sich ein Stimmengewirr der Mitarbeitenden, während im Hintergrund konstant das Radio läuft. „Hier ist auf jeden Fall am meisten Musik drin“, sagt der Orthopädietechnik-Meister. Wohl wissend, dass das etwas kitschig klingen könnte, ist ihm ein Geräusch das liebste – und das zieht sich durch alle Abteilungen: das Lachen der Teammitglieder. Denn egal, ob es – buchstäblich beim Werkeln oder im übertragenden Sinne im Gespräch – mal rumort, scheppert oder knallt, der offene und herzliche Umgang miteinander bleibt bestehen. Hier stoßen alle auf offene Ohren.
Wir bleiben erst einmal am lautesten Ort im Betrieb. Fritsch fallen direkt mehrere typische Geräusche ein: Beim Ausgießen vom Gips nimmt er das Gluckern wahr. Ist dieser getrocknet, ertönt ein Raspeln und Schleifen beim Modellieren. Pfeift es beim Absaugen, wissen Erfahrene wie er: Hier stimmt etwas nicht, denn luftdicht klingt anders. Erst beim charakteristischen kurzen Schlürfgeräusch stellt sich Befriedigung ein. Ein lehrreicher Moment für die Auszubildenden. Beim nächsten Mal wissen sie, dass sie nur genau genug hinhören müssen, um ihren Fehler zu erkennen. Kaum ein Handgriff geht wohl völlig geräuschlos vorüber. Selbst der dezente Schnitt am Polster entlarvt den aktuellen Arbeitsschritt. Viele davon werden gemeinsam gemacht. Ein (Zusammen)schweißen, für das es keinen Helm braucht.
Wann ist laut eigentlich zu laut? Das empfindet jede:r anders und greift dementsprechend früher oder später zu Stöpseln oder Mickey-Mäusen. Beim Schleifen oder beim Arbeiten mit dem Drucklufthammer ist Gehörschutz aber Pflicht. „In der Werkstatt herrscht immer ein gewisser Pegel. Aber ich habe den Eindruck, meinem Team gefällt das sogar“, sagt Fritsch und lacht. Durch den Einsatz anderer Materialien und Maschinen habe sich die Geräuschkulisse in den vergangenen Jahren aber grundsätzlich reduziert. Zu seinen Lehrzeiten war die Verarbeitung zum Beispiel von Metall gang und gäbe – ein Scheppern, das heute noch nachhallt. Auch das Gipsen und damit verbundene laute Verarbeitungsprozesse sind weniger geworden und werden mehr und mehr durch additive Fertigungsmethoden ersetzt. 3D-Scan und ‑Druck fordern die Ohren deutlich weniger. Oder sogar gar nicht, wenn man wie der Darmstädter Betrieb auf einen Druckdienstleister zurückgreift.
Erst beraten, dann versorgen
Im Gegensatz zur Werkstatt nimmt im Geschäft die Geräuschkulisse deutlich ab, dennoch kommt dem Gehör an diesem Ort die wohl größte Bedeutung zu, findet Fritsch. Denn hier treffen Mitarbeitende und Patient:innen aufeinander und legen durch das Gespräch den Grundstein für alle weiteren Schritte. Und damit die nicht aus dem Laden herausführen, bedarf es einer offenen, herzlichen und empathischen Kommunikation. „Es menschelt. Deswegen ist es entscheidend, wer wie zuhört“, betont Fritsch. Das Motto: Erst beraten, dann versorgen. Wichtige Details werden im Gespräch erfragt, um die passende Versorgung zu finden und die Argumentation gegenüber der Krankenkasse zu erarbeiten. Zeitgleich wird versucht, Vertrauen aufzubauen und ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Lachen und Weinen liegen im Sanitätshaus nah beieinander. Und beides darf sein – allen Emotionen muss Raum gelassen werden. Kommunikation ist für Fritsch daher eine Kunst. Doch nicht jede:r bringe dafür das Talent mit. Während manche Mitarbeiter:innen die Arbeit in der Werkstatt vorziehen, brennen andere für den Kundenkontakt und dafür, zu erleben, wohin das Hilfsmittel geht und wie es ankommt. Letzteres beherrscht das Außendienst-Team besonders gut. Die Kolleg:innen rücken zu den Erstgesprächen in Kliniken und zu Pflegediensten aus und versuchen, die Patient:innen dort nach Amputation, Schlaganfall und Co. emotional abzuholen. Wie geht es nach der Entlassung weiter? All das besprechen die „Kümmerer“ mithilfe eines Fragenkatalogs – dem betriebseigenen Hilfsmittelkompass. Ob wirklich gut zugehört wurde, dabei verlässt sich das Sanitätshaus nicht nur aufs Gefühl. Sowohl die Kliniken und Pflegedienste als auch die Patient:innen werden mithilfe eines Feedbacksystems zu ihren Erfahrungen befragt. Aus Fehlern kann man schließlich lernen.
Hörte man früher oft den Stift übers Papier gleiten, dominiert heute das Klicken und Tippen am PC. So wie viele andere Betriebe setzt Fritsch auf eine digitale Abrechnung der Rezepte. Im Oktober steht ein Software-Wechsel an. Damit soll sich der Prozess weiter vereinfachen. Ebenfalls in der Planung ist der Einsatz eines Telefonchats. Im Gegensatz zu von vielen Unternehmen bereits genutzten Chat-Bots können die Kund:innen statt zur Tastatur zum Hörer greifen. Am anderen Ende der Leitung „sitzt“ eine Künstliche Intelligenz und steht für Fragen zu Produkten und Co. zur Verfügung.
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Aus Ideen wachsen Standards
Fritsch schätzt besonders das Miteinander und die flachen Hierarchien im Betrieb. „Bei uns wird viel gelacht“, betont er. Woran das liegt? Vielleicht am jungen Alter der Mitarbeitenden, vielleicht an der Innovationskraft, vermutet er. Deswegen wird im Bewerbungsprozess nicht nur auf gute Noten geschaut, sondern ebenfalls auf die Persönlichkeit und das Potenzial, ins Team zu passen. Mit Blick auf andere Betriebe hält Fritsch stets Augen und Ohren offen und stellt dabei oft fest, dass der Branche noch viel Staub anhaftet. Veraltete Denkmuster und Workflows, wenig Freiräume und Arbeit unter Druck gehörten bei vielen zum Alltag, nicht aber zu seiner Philosophie. Fehler dürfen sein, Spaß ist ein Muss, und Wertschätzung, ebenfalls gegenüber dem Nachwuchs, selbstverständlich. „Wer sich über den Fachkräftemangel beschwert, sollte auch aktiv etwas dagegen tun“, findet er. Ein zusätzliches Plus: „Auszubildende bringen eine erfrischende Dynamik rein.“ Alle Mitarbeiter:innen sollen das Gefühl haben, wachsen zu dürfen, und Ideen, die ihnen auf dem Herzen liegen, ansprechen zu können. Ein offenes Ohr erwartet der Geschäftsführer auf beiden Seiten. „Den Satz ‚Ich habe keine Zeit‘ mag ich von niemandem hören – auch nicht von mir selbst.“ Außerdem bekommt Fritsch ganz gern mal einen Floh ins Ohr gesetzt. Denn Ideen von heute können sich durchaus zu Standards von morgen entwickeln, die das Arbeiten effizienter machen und das Unternehmen damit nach vorne bringen.
Also immer nur Friede, Freude, Eierkuchen? Definitiv nein. Komplett harmonisch geht es wohl in keiner Firma zu. Denn wo Menschen zusammenkommen, treffen Meinungen, Charaktere, Stimmungen und Emotionen aufeinander. Und wer viel um die Ohren hat, bei dem wird der Geduldsfaden auch schon mal dünner. „Das ist einfach nur menschlich“, findet Fritsch. Einen schroffen Umgangston wie aus anderen ihm bekannten Betrieben duldet er in seinem aber nicht. Angst ist für ihn kein Motivator, Respekt dagegen schon.
Musik verbindet
Während in der Firmenküche tagsüber das Gurgeln der Kaffeemaschine und das Sprudeln beim Eingießen des Wassers zu hören sind, ploppen nach Feierabend auch schon mal die Kronkorken. In der Runde lässt man den Tag Revue passieren oder plant sogar den nächsten gemeinsamen Festivalbesuch. Manchmal reicht das tägliche Radiohören nicht aus. Und was gibt es Schöneres, als festzustellen, dass die Herzen auf gleicher Frequenz schlagen? Der Beat zu Hip-Hop, Rock und Techno verbindet über die Arbeitsgrenzen hinaus.
Musik kann sich Fritsch auch aus seinem „Büro“ nicht wegdenken. Meist ist er mit dem Auto unterwegs, lenkt dort telefonisch die Geschicke des Unternehmens oder spinnt neue Ideen. Braucht er Ruhe, wird die Musik aufgedreht. Den „Lärm liebenden“ Techniker bekommt man aus dem Geschäftsführer eben nicht mehr heraus.
Pia Engelbrecht
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