Inspiriert wurde Sophie Rolshoven durch ihren Bruder Luis, der aufgrund einer Balkenagenesie schwerstbehindert auf die Welt kam. Je älter er wurde, desto häufiger stellte sie fest: Während sich viele Hilfsmittel in seinem Umfeld wie Roll- oder Duschstühle veränderten, komplexer und modularer wurden, blieben Produkte für den Freizeitbereich gleich, „hielten ihn in einem kindlichen Stadium gefangen“, so Rolshoven. Schon immer sei Luis musikbegeistert gewesen, doch interaktives Kinderspielzeug konnte eben nicht mehr als nur Kindermusik oder Kinderhörbücher abspielen. Luis aber fieberte bei den Geräuschen von Fußballspielen im TV und den Jubelschreien seiner Familie mit, hörte gerne Dubstep und genoss es, durch seine Interaktion Teil des Geschehens zu sein. „Ich wollte etwas entwickeln, bei dem er selbst Musik kreieren kann, experimentell, ohne vorgeschriebene Melodie und mit Berührung“, sagt Rolshoven – und das mit dem Ziel, sowohl zu unterhalten und zu entspannen als auch die Kreativität und Selbstständigkeit von Luis sowie anderen Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu fördern.
Die Form folgt der Funktion
Entwickelt hat die heute 26-Jährige das multisensorische Produkt mit Unterstützung von Orthopädietechniker Daniel Gerstner. Bis zu Luis‘ Tod im Jahr 2021 hat der Haßfurter Betrieb Mannl + Hauck den 18-Jährigen versorgt. „Es war der perfekte Designprozess“, resümiert Rolshoven. Regelmäßig waren die beiden im Austausch, diskutierten Ideen und fanden so die ideale Balance zwischen Design und Nutzen. Form follows function (Die Form folgt der Funktion, Anm. d. Red.) – das war Sophie Rolshoven schon zu Beginn ihres Studiums klar. Doch der Entstehungsprozess von „Luis Hug“ führte ihr diesen Grundsatz auch in der Praxis noch einmal deutlich vor Augen. „Wenn du in diese oder jene Richtung gehst, schließt du einige Nutzergruppen aus“, habe Gerstner beispielsweise zu bedenken gegeben. Das hieß für Rolshoven manchmal auch, sich von Ideen, von denen sie anfangs begeistert war, zu verabschieden und Abstriche beim Design zugunsten der Nutzerschaft und ‑freundlichkeit zu machen. „Daniel war eine super Hilfe. Er ist ein richtiger Macher, hat immer die richtigen – auch unangenehmen – Fragen gestellt und die Perspektive der Nutzer:innen gut erklären können.“
Dabei herausgekommen ist ein großes, blaues Kissen aus festem Schaumstoff und mit zwei „Armen“, die sich wie eine Umarmung um den Körper herumlegen. Es ist robust, hat weder scharfe Ecken und Kanten noch zusätzliche, störende Kleinteile und ist relativ schwer. „Bewusste Berührungen sind oft leichter zu verstehen als zartes Streicheln“, begründet Rolshoven die Entscheidung und auch die, für die „Arme“. „Umarmungen haben etwas Beruhigendes.“ Das hätten ihr die Reaktionen und Rückmeldungen der Kinder der Franziskus-Schule in Bad Windsheim (Förderzentrum der Lebenshilfe mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung), die „Luis Hug“ testen durften, bestätigt.
Bei Berührung der elf großen, hellen Flächen, den Soundpads, und den darunterliegenden Sensoren werden Klänge erzeugt. Dafür wurden in Kooperation mit einem Tontechniker verschiedene Klangwelten entworfen, die die Nutzer:innen zum Interagieren mit dem Produkt einladen sollen. „Es ist nutzbar wie ein Midi-Keyboard – ein Tool, das zum Beispiel Musiker:innen verwenden, um ihre Sounds aufzunehmen“, zieht Rolshoven einen Vergleich. Mithilfe eines via Bluetooth verbundenen Pulssensors wird zudem die Lautstärke reguliert: Ist die Herzfrequenz niedrig, erhöht sich die Lautstärke, mit dem Ziel, den oder die Nutzer:in aus sich herauszulocken und dazu zu animieren, aktiv zu werden. Ist die Frequenz sehr hoch, werden die Klänge wieder leiser.
Selbstbewusstsein und Kreativität gehen Hand in Hand
„Mir war es wichtig etwas Freundliches zu gestalten, etwas, das einfach zu verstehen ist und Menschen dazu befähigt, selber aktiv zu werden“, betont Rolshoven. Auf dem Weg dorthin war anfangs Luis selbst ihre Inspiration und ihr wichtigster Projektpartner. Nach seinem Tod prüfte dann der 15-jährige Manuel, der eine Mehrfachbehinderung mit Hemiplegie hat, das Produkt auf Herz und Nieren. Während des Entwicklungsprozesses gab es für die Industriedesignerin einen entscheidenden Wendepunkt: Während Manuel ausprobierte, was beim Drücken der Pads passiert, bezog er eines Tages mit seiner aktiven seine gelähmte Hand mit ein und produzierte mit ihr die Klänge. „Ich fand es beeindruckend zu sehen, wie eng Selbstbewusstsein und Kreativität miteinander verbunden sind und was aus Menschen herausgelockt werden kann, wenn man Produkte herstellt, die ansprechend und gleichzeitig einfach zu bedienen sind.“
Für Rolshoven ist Design mehr als nur „schön aussehen“. Es hat die Möglichkeit, Produkte für Menschen besser nutzbar zu machen und – für sie ganz entscheidend – sie zu Trendsettern zu machen. Durch die Interaktion mit „Luis Hug“ sei Manuel plötzlich zum „Center of Attention“ geworden. Menschen seien auf ihn zugekommen und beeindruckt von seinem „coolen“ Produkt gewesen. „Trendsetter – das ist eine Rolle, die Menschen mit Behinderungen fast nie zugeschrieben wird“, bedauert Rolshoven und hofft, dass künftig nicht nur moderne und besonders gestaltete Prothesen und Co. zu dieser neuen Rolle verhelfen, sondern auch Produkte im Entertainmentbereich. Schwer umzusetzen sei das nicht. Das habe ihr die Entwicklung von „Luis Hug“ gezeigt. „Im Designprozess sollten von Anfang an verschiedene Nutzergruppen befragt werden, um so möglichst viele Menschen, ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse zu integrieren und nicht zu stigmatisieren.“ Rolshoven verweist in diesem Zusammengang auf den Begriff „inclusive design“, also das Prinzip, Produkte für möglichst viele verschiedene Menschen einfach und ohne Erklärungsbedarf nutzbar zu machen. „Luis Hug“ soll darauf eine Antwort sein und Inklusion und Design in einem neuartigen Hilfsmittel vereinen, in dem Haptik und Akustik eine Symbiose bilden.
Noch handelt es sich bei „Luis Hug“ nur um einen Prototyp. Derzeit hat die 26-Jährige, die seit Abschluss ihres Studiums an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin im Jahr 2021 beim Spielwarenhersteller Lego in Dänemark arbeitet, jedoch keine Kapazitäten, um das Projekt weiter zu verfolgen. Sobald die Zeit es zulässt, will sie aktiv auf die Suche nach einem passenden Unternehmen gehen, das das Kissen produzieren möchte. Ihre Voraussetzung: Es muss ein Unternehmen sein, das das Potenzial in „Luis Hug“ und die Idee dahinter erkennt, die „Seele“ des Produkts wertschätzt und diese erhält.
Pia Engelbrecht
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