Welchen Einfluss haben Kniebandagen bei verbliebenen funktionellen Defiziten? Das hat Physiotherapeutin Prof. Gisela Sole, tätig an der Universität von Otago (Neuseeland), anhand der „Genutrain“ von Bauerfeind untersucht. Im Gespräch mit der OT-Redaktion stellt sie die zentralen Ergebnisse der Studie vor.
OT: Eine Operation ist nach einem Kreuzbandriss erst der Anfang. Welche Rolle spielt die Rehabilitation für das langfristige Ergebnis einer Kreuzbandrekonstruktion?
Gisela Sole: Das Ziel der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ist die Wiederherstellung der anatomischen Stabilität des Kniegelenks. Die Operation allein vermindert weder die Hemmung und Schwäche der Oberschenkelmuskulatur nach der Ruptur noch das Risiko einer langfristigen posttraumatischen Kniearthrose. Nach einer VKB-Ruptur und ‑Rekonstruktion haben die Betroffenen oft lange Zeit Angst vor einer erneuten Verletzung, was angesichts der hohen Rate sowohl am ipsilateralen als auch am kontralateralen Knie realistisch ist. Eine Studie von Noyes und Barber-Westin zeigte, dass statistisch gesehen bis zu einer von fünf Sportlern, die nach einer VKB-Rekonstruktion wieder Sport treiben, sich erneut am Knie verletzt. Vermeidung aufgrund von Angst kann zu verminderter körperlicher Aktivität und damit zu erhöhtem Körpergewicht und Adipositas führen, was das Risiko einer Arthrose erhöht. Rehabilitation ist notwendig, um die neuromuskuläre Kontrolle und Kraft der Oberschenkelmuskulatur des Knies und der gesamten kinetischen Kette zu verbessern und das Selbstvertrauen zu stärken und schafft die Voraussetzung für die Wiederaufnahme von Sport und Arbeit. Eine langfristige Förderung der körperlichen Aktivität ist notwendig, um die Gesundheit des Kniegelenks und des gesamten Körpers zu optimieren.
OT: Welche Komponenten sind für eine erfolgreiche Rehabilitation entscheidend? An welchem Punkt kommen Hilfsmittel wie Bandagen ins Spiel?
Sole: Die Definition von Erfolg im Zusammenhang mit der Rehabilitation ist schwierig, da sich die Ziele oder Erfolgsindikatoren des Einzelnen im Laufe der Zeit ändern können. Solche Veränderungen können auf Veränderungen der Lebensumstände zurückzuführen sein, etwa Veränderungen der beruflichen oder familiären Rolle, aber auch darauf, ob die betroffene Person wieder Sport treiben oder ihre sportlichen Aktivitäten auf dem Niveau von vor der Verletzung fortsetzen möchte oder nicht. Unabhängig von solchen Veränderungen erfordert die Rehabilitation einen multimodalen, individuellen Ansatz. Ein kürzlich veröffentlichter Expertenbericht von Kotsifaki et al. enthält evidenzbasierte Leitlinien, die eine Stärkung der Oberschenkelmuskulatur durch Übungen in offener und geschlossener kinetischer Kette, plyometrisches Training und Beweglichkeitstraining beinhalten, die für den individuellen Kontext der Person relevant sind. Während in der Akutphase nach einer VKB-Rekonstruktion eine Orthese eingesetzt wird, ist über den Einsatz von Kniebandagen weniger bekannt. In unserer früheren qualitativen Studie mit zehn Teilnehmern, die bis zu zehn Jahre nach der Rekonstruktion teilnahmen, berichteten einige, dass sie eine Orthese oder Bandage während des Trainings oder bei Aktivitäten, bei denen sie Angst vor einer Verletzung hatten, verwendeten. Es wurde über Erfahrungen berichtet, nach denen eine solche Bandage in jeder Phase der Rehabilitation und auch längerfristig verwendet wurde, wenn sie dem Patienten half, körperlich aktiv zu bleiben.
OT: Um die Wirksamkeit von Bandagen zu untersuchen, haben Sie eine Studie im postoperativen Setting mit der Genutrain durchgeführt. Welche Fragestellungen lagen der Studie zugrunde?
Sole: Das Hauptziel der Studie war die Bestimmung der Akuteffekte der Genutrain-Kniebandage unmittelbar nach dem Anlegen sowie der Auswirkungen nach sechs Wochen Tragedauer auf die von den Teilnehmern berichteten Ergebnisse, die Funktion sowie die Kinematik und Kinetik des Kniegelenks während des Step-Down-Springens. Die Teilnehmer waren Patienten, deren VKB-Rekonstruktion zwischen sechs Monaten und fünf Jahren zurücklag und die noch nicht wieder zu ihrem normalen Niveau körperlicher Aktivitäten zurückgekehrt waren.
Die primäre Fragestellung war, ob das Tragen der Bandage die maximale einbeinige Sprungweite beeinflusst, alle anderen Variablen waren sekundäre Fragestellungen. Eine weitere sekundäre Analyse wurde hinzugefügt, um festzustellen, ob das Tragen der Bandage die Bodenreaktionskräfte und die Kraft des Knies während des Step-Down-Sprungs beeinflusst.
Die Studie bestand aus zwei Teilen, wobei erstens die Akuteffekte in einem laborbasierten Crossover-Design und zweitens die Sechs-Wochen-Effekte in einem randomisierten klinischen Design untersucht wurden. Da während der Covid-19-Phase die Teilnehmerzahl im zweiten Teil reduziert war, sind diese Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren.
OT: Zu welchen zentralen Ergebnissen hat die Studie geführt?
Sole: Zu den unmittelbaren Effekten zählen folgende: Beim maximalen einbeinigen Distanzsprung (Horizontal Jump) mit der Genutrain um das verletzte Knie erhöhte sich die Sprungweite signifikant um 3,6 Prozent im Vergleich zum Sprung ohne Bandage. Beim Step-Down-Hop-Test verbesserte sich die Kniebeugung mit Kniebandage um durchschnittlich 3 Grad, was eine Verbesserung darstellt. Auch die Kniekraft verbesserte sich, insbesondere in den ersten 5 Prozent der Standphase nach Bodenkontakt, der Phase, in der Kreuzbandrisse am häufigsten wieder auftreten. Nach sechs Wochen waren die Teilnehmer, die eine Bandage trugen, nach eigenen Angaben aktiver als die Teilnehmer ohne Bandage. Sie hatten auch eine kürzere Dauer der Standphase beim Step-Down-Hop-Test, was auf eine schnellere Leistung hindeutet.
OT: Wie erklären Sie sich die Effekte?
Sole: Wie wir in unseren Veröffentlichungen dargelegt haben, ist es möglich, dass nach einer VKB-Verletzung beim Bodenkontakt ohne Bandage weniger Kontrolle über das Knie vorhanden ist und eine geringere Fähigkeit besteht, das erste Aufkommen zu absorbieren. Das Tragen einer Kniebandage könnte die neuromuskuläre Kontrolle oder das Bewusstsein für die Position und Bewegung des Knies verbessern. Wir spekulieren, dass das Tragen der Bandage die unterschwellige Angst vor einer erneuten Verletzung oder vor einer Bewegung verringern könnte, wodurch die muskuläre Sicherung durch den Quadrizeps abnehmen könnte. Das verbesserte Bewusstsein könnte zu einer besseren Absorption und Kontrolle bei Bodenkontakt führen, was sich in einer leicht erhöhten Kraft während der ersten fünf Prozent der Standphase äußert, während die Bandage getragen wird. Basierend auf unseren Ergebnissen spekulieren wir vorsichtig, dass die Bandage die sensomotorischen Mechanismen während der frühen exzentrischen (Absorptions-)Phase des Bodenkontakts verbessern könnte, was wiederum das Risiko einer VKB-Verletzung oder einer erneuten Verletzung verringern könnte.
OT: An der Studie haben Patient:innen teilgenommen, deren Operation zwischen sechs Monaten und fünf Jahren zurücklag. Hat die Länge des Zeitraums einen Einfluss auf die Wirkung der Genutrain-Bandage?
Sole: In unserer Studie wurde nicht untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zeit seit der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes und einer der Variablen gibt. Wir bräuchten eine viel größere Stichprobe, um einen solchen möglichen Zusammenhang zu untersuchen. Grobe Beobachtungen unserer Rohdaten deuten jedoch darauf hin, dass die Zeit seit der Operation keinen Einfluss auf die Ergebnisse hatte. Dies würde bedeuten, dass Personen mit einer VKB-Rekonstruktion eine Bandage als nützlich empfinden könnten, unabhängig davon, ob die Operation weniger als ein Jahr oder viel länger zurückliegt.
OT: Gab es Dinge, die Sie überrascht haben?
Sole: Ja, wir waren überrascht, dass sich der Kniebeugewinkel allein durch das Anlegen einer Bandage so schnell verändern kann. Beim Training von Personen mit VKB-Ruptur/-Rekonstruktion werden häufig Übungen zur Verbesserung der Kniebeugung durchgeführt, zum Beispiel die Anleitung, mit „weicheren Knien“ zu landen. Welling et al. fanden bei einer gemischten Gruppe von kniegesunden Männern und Frauen Unterschiede von durchschnittlich circa 2 Grad bei einem beidbeinigen Sprung, wenn verschiedene Formen von verbalem Feedback gegeben wurden. Wir gaben unseren Probanden kein Feedback, sondern forderten sie auf, nach dem Aufsetzen auf der Kraftmessplatte „so schnell wie möglich“ nach vorne zu springen.
OT: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ergebnissen der Studie?
Sole: Eine Kniebandage kann als Ergänzung zur Rehabilitation nützlich sein, um die Bewegungsmuster der Kniebeugung bei bestimmten Personen zu verbessern.
OT: Würden Sie mit Blick auf die Studienergebnisse empfehlen, dass die Versorgung mit einer Bandage zur Standardtherapie nach einer Kreuzbandrekonstruktion gehören sollte?
Sole: Nein, wir haben keine Belege dafür, dass eine Kniebandage Teil der Standardrehabilitation nach einer vorderen Kreuzbandrekonstruktion sein sollte. Kliniker können jedoch mit ihren jeweiligen Patienten erörtern, ob eine solche Bandage für sie von Nutzen sein könnte, und ihre Entscheidung auf das Feedback der Patienten nach der Anwendung stützen.
OT: Sind Fragen offengeblieben?
Sole: Die Corona-Pandemie beeinträchtigte den randomisierten klinischen Part, sodass dieser Teil der Studie statistisch nicht ausreichend aussagekräftig war. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um die Wirksamkeit der Bandage in der Rehabilitation zur Verbesserung der körperlichen Aktivität und zur Stärkung des Vertrauens in das Knie zu ermitteln.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
- Sole, G., Lamb, P., Pataky, T. et al. Immediate and 6‑week effects of wearing a knee sleeve following anterior cruciate ligament reconstruction: a cross-over laboratory and randomised clinical trial. BMC Musculoskelet Disord 22, 655 (2021) and Immediate and six-week effects of wearing a knee sleeve following anterior cruciate ligament reconstruction on knee kinematics and kinetics: a cross-over laboratory and randomised clinical trial. BMC Musculoskelet Disord 23, 560 (2022)
- Sole G., Pataky T., Hammer N., Lamb P. Can a knee sleeve influence ground reaction forces and knee joint power during a step-down hop in participants following anterior cruciate ligament reconstruction? A secondary analysis. PLOS ONE 17(12) (2022): e0272677
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