In welchen Bereichen KI bereits angewendet wird, welche Vorteile sie mit sich bringt und ob KI eher Ersatz oder Stütze ist, das verrät Alina Carabello, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Chemnitz, im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: KI ist derzeit in aller Munde. Egal ob privat oder beruflich – überall kommt die Technik vermehrt zum Einsatz. Ist auch die Orthopädie-Technik bereits auf den Zug aufgesprungen?
Alina Carabello: Ja, auch die Orthopädie-Technik ist bereits auf den KI-Zug aufgesprungen und das bereits vor einigen Jahren. Der Einsatz von KI kann zur Verbesserung der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit innovativen, bedarfsgerechten Lösungen beitragen. Erste Ansätze und Lösungen zur Integration von KI in der Orthopädie-Technik habe ich bei Ottobock, Bauerfeind und Medi kennengelernt.
OT: Wie sieht der Status quo aus, für welche Bereiche setzen OT-Betriebe KI bereits ein?
Carabello: KI wird bereits in verschiedenen Bereichen eingesetzt. Zuerst möchte ich den Einsatz beim Design maßgeschneiderter Prothesen und Orthesen nennen. Mithilfe KI-gestützter Systeme werden 3D-Scandaten analysiert und so biometrische Daten zur individuellen Anpassung der Hilfsmittel herangezogen. So kann ein Beitrag zu einer patientenspezifischen Morphologie und Passform geleistet werden. Darüber hinaus werden mithilfe von KI-Algorithmen Biosignale und Bewegungsdaten analysiert und so die Steuerung von Prothesen optimiert. Das hilft, um möglichst natürliche Bewegungen mit den künstlichen Extremitäten nachzuahmen. Die Analyse von Biosignalen mittels KI wird aber auch in der Telemedizin und in Telerehabilitationssystemen eingesetzt und kann so zur bedarfsgerechten Anpassung des Therapieplans durch das therapeutische Fachpersonal beitragen.
OT: Welche Vorteile kann KI für OT-Betriebe mit sich bringen? Warum lohnt sich die Auseinandersetzung damit?
Carabello: Die Geschichte der Orthopädie-Technik ist stark geprägt von Handwerkskunst und der individuellen Fertigung orthopädischer Hilfsmittel. Mit den steigenden Anforderungen an personalisierte Lösungen und einem wachsenden Versorgungsbedarf gewinnt die Digitalisierung zunehmend an Bedeutung. KI kann dabei ein nützliches Unterstützungstool sein, um Prozesse weiter zu automatisieren, sie effizienter zu gestalten, aber auch die hohe Qualität des Endprodukts zu prüfen und sicherzustellen. KI ist außerdem nützlich bei der Analyse großer Datenmengen und kann dabei Muster in den Daten identifizieren. Der Einsatz von KI zur Analyse von Patientendaten kann daher einen wertvollen Beitrag zum Verständnis bestehender Herausforderungen und zur Entwicklung innovativer Lösungen liefern.
OT: Wo könnte die Reise hingehen?
Carabello: Die künftigen Einsatzmöglichkeiten von KI in der Orthopädie-Technik sind enorm vielfältig und können von einfachen Anwendungen, wie der Nutzung von Sprachassistenzen als Eingabemöglichkeit, bis hin zu komplexen Aufgaben, beispielsweise der Vorhersage von Krankheits- oder Therapieverläufen und Ableitung geeigneter Maßnahmen, reichen. In der Verwaltung und im Handwerk können KI-Tools zum Beispiel bei wiederkehrenden Aufgaben wie Terminplanung, Abrechnung und Dokumentation unterstützend eingesetzt werden. Auch ist künftig der vermehrte Einsatz virtueller Assistenzen wie Chatbots denkbar. Diese können online bei der Beantwortung von einfachen Patientenanfragen, der Vereinbarung von Terminen und der Informationsbereitstellung unterstützen. Daneben können in der Zukunft generative KI-Algorithmen eingesetzt werden, um beispielsweise maßgeschneiderte Orthesen und Prothesen anhand von Scan-Daten zu entwerfen. Aber auch die Auswertung und Analyse eben dieser Scan-Daten kann mithilfe von KI-Algorithmen erfolgen, um eine Qualitätskontrolle der Daten vor der eigentlichen Fertigung durchzuführen. Betrachten wir den weiteren Produktionsprozess, kann KI-basierte Bilderkennung die Überwachung der Produkte unterstützen und so einen Beitrag zur weiteren Sicherung der Qualität liefern. Durch Überwachung des Produktionsprozesses mithilfe von Sensoren, die an den Fertigungsanlagen angebracht werden, kann KI dabei helfen, frühzeitig auf mögliche Fehler oder Ausfälle hinzuweisen, um Wartungsarbeiten besser planen zu können.
Auch im Hinblick auf Datenanalyse und ‑management ist der Einsatz von KI-basierten Methoden denkbar. Durch Implementierung von KI-Systemen können große und komplexe Datenmengen analysiert werden, was dazu beitragen kann, Krankheitsverläufe besser zu verstehen und neue Erkenntnisse in der Orthopädie-Technik zu gewinnen. In Kombination mit Sensoren zur Echtzeitdatenerfassung von Bewegungs- und Gesundheitsdaten und deren Analyse, wie sie zum Beispiel schon in Wearables eingesetzt werden, können so auch potenzielle Probleme frühzeitig erkannt und präventive Maßnahmen empfohlen werden.
Bedarfsgerechte Algorithmen entwickeln
OT: Wer mit dem Einsatz von KI starten möchte, weiß im Zweifel gar nicht, wo und wie er starten soll. Haben Sie Tipps für den Einstieg im Betrieb?
Carabello: Zunächst sollte möglichst klar definiert werden, welches Ziel mit dem Einsatz der KI verfolgt werden soll und in welchem Bereich die KI unterstützen soll. Handelt es sich um ein bereits bekanntes Problem, kann vielleicht auf kommerzielle Lösungen zurückgegriffen werden. Dann kann man mit einem entsprechenden Anbieter zusammenarbeiten und bei Bedarf die Lösung personalisieren.
Ist das Problem nicht durch eine kommerzielle Lösung handhabbar, ist die Entwicklung einer spezifischen KI erforderlich. Für den Einstieg empfehle ich auf jeden Fall die Zusammenarbeit mit Experten, um die notwendigen Grundlagen der Technologie kennenzulernen und zu verstehen. Dieses Wissen bildet die Basis, um die Ergebnisse der KI interpretieren und richtig einordnen zu können. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Orthopädie-Technik, Ingenieurswesen und Informatik halte ich für enorm wichtig, um bedarfsgerechte KI-Algorithmen zu entwickeln, zu implementieren und zu verifizieren.
OT: Manchmal ist einem vielleicht gar nicht bewusst, dass man bereits mit KI arbeitet. Wo „versteckt“ sich KI im Arbeitsalltag?
Carabello: Künstliche Intelligenz ist definiert als die Fähigkeit von Maschinen, Aufgaben auszuführen, die eigentlich eine menschliche Intelligenz erfordern würden. Unter diese Definition fallen auch die Methoden des sogenannten maschinellen und tiefen Lernens. Dabei handelt es sich um Algorithmen zur Bilderkennung und Verarbeitung von natürlicher Sprache sowie zur Schrifterkennung. KI „versteckt“ sich im Arbeitsalltag in Hilfsmitteln, die sich dieser Algorithmen bedienen. Das können die Diktierfunktion von MS Word, die Sprache in Text umwandelt, sowie die Face-ID oder der Fingerabdruckscanner zum Entsperren von Smartphones und Tablets sein. Auch Motion-Capturing-Systeme arbeiten auf Basis dieser Algorithmen zur automatischen Identifikation von Gelenkzentren bei der Bewegungsanalyse oder zur Gestenerkennung.
OT: Das Handwerk hat seit Jahren mit einem wachsenden Fachkräftemangel zu kämpfen. Kann KI dem entgegenwirken?
Carabello: Ich vermute, dass KI allein nicht die Lösung ist, aber vielleicht ein Baustein sein kann. KI kann helfen, die Abläufe im Unternehmen zu optimieren und zu automatisieren. Das umfasst sowohl die Verwaltungs- als auch die Produktionsprozesse. Durch den Einsatz von KI zur Unterstützung des Fachpersonals bei bestimmten wiederkehrenden, routinierten Arbeitsaufgaben, beispielsweise der Qualitätskontrolle von CAD-Daten oder dem Ausfüllen von Formularen, kann die dafür aufgewandte Arbeitszeit reduziert werden. Im besten Fall bleibt so mehr Zeit für Aufgaben, die nicht automatisiert werden können – wie die direkte Interaktion mit den Patientinnen und Patienten. Daneben kann der Einsatz dieser neuen Technologien im Handwerk vielleicht auch ein Anreiz für Schülerinnen und Schüler sein, den Beruf zu erlernen und zu verfolgen.
Kein Ersatz, sondern Unterstützung
OT: Bei all den Vorteilen, die „Digitalisierung“ oder auch „Additive Fertigung“ mit sich bringen, werden die Entwicklungen in diesem Bereich auch durchaus kritisch in der Branche beäugt. Die Sorge schwingt mit, dass dadurch das traditionelle Handwerk in den Hintergrund geraten könnte. Die Diskussion um KI gießt neues Öl ins Feuer. Sind die Sorgen berechtigt? Ist KI tatsächlich eine Konkurrenz oder eher eine Assistenz, eine Art zusätzliche:r Kolleg:in?
Carabello: Ich verstehe diese Sorgen, denn die zunehmende Digitalisierung, Automatisierung und auch die Additive Fertigung erfordern mitunter ganz neue Fähigkeiten und Kompetenzen von den Orthopädietechnikerinnen und Orthopädietechnikern. Dabei bildet sicher auch KI keine Ausnahme. KI soll dennoch das traditionelle Handwerk nicht ersetzen oder in den Hintergrund stellen, sondern soll die Orthopädietechnikerinnen und Orthopädietechniker bei der Bewältigung ihrer Aufgaben unterstützen.
OT: Wie wird KI auf Kundenseite bewertet: Herrscht Vertrauen oder Misstrauen in die Technologie?
Carabello: Laut einer Studie von Bosch zum Vertrauen der Menschen in KI-generierte Entscheidungen vertrauen Menschen eher KI, die in der industriellen Produktion Einsatz findet (57 Prozent der Befragten), als KI, deren Entscheidungen einen direkten Einfluss auf Menschen haben (wie etwa Gesundheitsfragen, Pflege, Personalentscheidungen). Auf die Problemstellungen der Orthopädie-Technik skaliert würde das bedeuten, dass kundenseitig eher mit Vertrauen in KI, die zum Beispiel die Güte von CAD-Daten aus fertigungstechnischer Sicht bewertet, zu rechnen ist und eher Misstrauen in KI herrscht, die Patientendaten analysiert und daraus Maßnahmen oder Empfehlungen für die weitere Behandlung ableitet.
OT: Welche Rolle spielen dabei Datenschutz und Privatsphäre?
Carabello: Diese beiden Aspekte nehmen eine zentrale Rolle ein. Der Schutz der Privatsphäre einzelner ist von höchster Bedeutung. Daher müssen Organisationen, die KI entwickeln und nutzen, sicherstellen, dass die von der KI verarbeiteten Daten ethisch gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden. Das meint, dass in jedem KI-System Maßnahmen zum Datenschutz implementiert werden, die gewährleisten sollen, dass die Daten der Patientinnen und Patienten sicher und vertraulich behandelt werden. Zudem müssen die Betroffenen über die Verwendung ihrer Daten aufgeklärt werden und ihr Einverständnis über die Nutzung der Daten unter den genannten Bedingungen erteilen.
OT: Wie kann das Vertrauen der Kund:innen – und auch der Mitarbeiter:innen – in KI-Anwendungen gestärkt werden bzw. die Hemmschwelle gesenkt werden?
Carabello: Um das Vertrauen in KI zu stärken, müssen noch weitere technologische sowie soziodemografische Herausforderungen bewältigt werden. Dazu zählt die Schaffung ganzheitlicher Datensätze hoher Güte, um die KI zu trainieren und zu testen, geeignete Methoden und Technologien zur Erfassung dieser Daten sowie umfassende Untersuchungen zur Validierung der Ergebnisse. Zudem muss sichergestellt werden, dass KI-Technologien auf verantwortungsbewusste Weise entwickelt und genutzt werden. Dazu sollten alle relevanten Interessengruppen in den Prozess einbezogen werden und klare ethische Prinzipien zugrunde gelegt werden. Das umfasst unter anderem einen offenen Diskurs zu den Möglichkeiten und Grenzen der Technologien, Transparenz und Aufklärung sowie geeignete Regularien, um Akzeptanz und Vertrauen in KI zu schaffen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
Alina Carabello hat Medical Engineering an der Technischen Universität (TU) Chemnitz studiert. Aktuell arbeitet sie am Institut für Werkzeugmaschinen und Produktionsprozesse der TU an der Professur Adaptronik und Funktionsleichtbau. Sie forscht im Bereich der Biomechatronik, einem Gebiet an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik. Der Fokus liegt auf dem Einsatz mechatronischer Systeme und Systemkomponenten (beispielsweise Sensoren, Aktoren) am Menschen zur Verbesserung der Versorgung, Gesunderhaltung oder Prävention. Dabei spielen auch zunehmend intelligente Systeme zum Handling der Datengrundlagen oder zur Regelung der Systemkomponenten eine wichtige Rolle. Carabello arbeitet mit dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) zusammen und ist als Koordinatorin verschiedener Forschungsverbundinitiativen tätig, u. a. zum Thema KI in der Orthopädie-Technik.
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