Wie ist die französische Hauptstadt vorbereitet auf die Spiele? Und was erwartet der Verbandschef von seinen Athlet:innen? Diese und weitere Fragen beantwortet Beucher im Interview mit der OT-Redaktion.
OT: Herr Beucher, Ende August starten in Paris die Paralympischen Spiele. Nach Südamerika und Asien kommen die Spiele wieder zurück nach Europa. Spüren Sie eine große Vorfreude auf die kommenden Wochen?
Friedhelm Julius Beucher: In die Vorfreude mixt sich jetzt schon fast ein leichtes Kribbeln. Die Wochen sind gut gefüllt mit Vorbereitungsarbeiten für mich und den Verband. Es steht die finale Kadernominierung (am 19. Juli, Anm. d. Red.) in Berlin an, danach ist klar, mit welchen Athletinnen und Athleten wir nach Paris fahren werden. Um eine erfolgreiche Paralympics-Teilnahme zu haben, ist sehr viel Vorarbeit nötig. Unsere gesamte Delegation wird aus rund 250 Personen bestehen, davon werden voraussichtlich über 140 Athletinnen und Athleten sein. Dazu kommen noch Trainer, Ärzte, Physiotherapeuten, unser Presseteam und auch ein Tierarzt. Für dieses Team muss alles vorbereitet werden.
OT: Im Vergleich zu den vergangenen Spielen – hat Deutschland mehr Startplätze oder weniger?
Beucher: Das Team wird größer sein als bei den Spielen vor drei Jahren in Tokio. Insgesamt nehmen diesmal in Paris mehr als 180 Nationen an den Paralympics teil. Es werden 4.400 Sportlerinnen und Sportler starten – so international und so groß waren die Spiele noch nie. Klar ist aber auch: Mehr Nationen bedeutet, dass die vorhandenen Startplätze auf mehr Nationen aufgeteilt werden müssen und die einzelne Nation tendenziell weniger Startplätze zur Verfügung hat.
Interesse so groß wie noch nie
OT: Wie groß ist das mediale Interesse in Deutschland an den Paralympics?
Beucher: Das steigt wirklich täglich. Wir haben eine bisher nie da gewesene Zahl von akkreditierten Journalisten und da merkt man eben, dass die Spiele quasi vor der Haustür stattfinden. Wir haben seit langer Zeit schon die Zusage, dass in den öffentlich-rechtlichen Sendern im TV über 60 Stunden live berichtet wird. Und: Durch die fehlende Zeitverschiebung werden erstmals paralympische Wettkämpfe in der Prime-Time zu sehen sein. Hinzu kommt ein umfangreiches Livestream-Angebot. Auch die Eröffnungsfeier beziehungsweise die Schlussfeier werden live übertragen. Für die Eröffnungsfeier ist der DFB mit seinem Topspiel des Pokals in den Vorabend ausgewichen. Ich finde, dass das eine sehr noble Geste ist und auch als Anerkennung der Paralympischen Bewegung verstanden werden darf. Der Respekt vor unseren Sportlerinnen und Sportlern ist groß.
OT: Sind Sie damit zufrieden?
Beucher: Es gibt immer Luft nach oben, aber ich finde, wir haben uns sehr gut behauptet. Schließlich haben wir in Europa mit der Tour de France, der Fußball-Europameisterschaft und den Olympischen Spielen einen tollen Sport-Sommer, der um die Aufmerksamkeit der Menschen buhlt. Sieht man da die Zahlen unserer Kanäle in den Sozialen Medien, mit denen wir teilweise Reichweiten in Millionenhöhe erzielen, dann haben wir unsere Hausaufgaben gemacht.
OT: Welche Rückmeldungen bekommen Sie von Athlet:innen über die Vorbereitungen auf Paris?
Beucher: Viele der Athletinnen und Athleten befinden sich richtig im Tunnel und fokussieren sich auf das Ziel Paris. Vor allem natürlich diejenigen, die bereits frühzeitig durch ihre Erfolge bei Weltmeisterschaften oder im Weltcup wussten, dass sie dabei sein werden. Außerdem haben mir schon viele berichtet, dass sie sich sehr darüber freuen, dass die Spiele quasi vor der Tür stattfinden. Und natürlich ist Paris eine besondere Stadt mit großer Strahlkraft. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Rollstuhlfechter tragen ihre Wettkämpfe im Grand Palais aus und auch andere Athletinnen und Athleten werden an berühmten Monumenten in Paris und im Umfeld um Medaillen kämpfen.
Erfolgsbilanz ausbauen
OT: Welche Erwartungen haben Sie an das deutsche Team?
Beucher: Wir sagen immer: Wir zählen nicht nur Medaillen, sondern wenn die Besten der Welt im Para-Sport zusammenkommen, dann wissen wir auch den Wert eines vierten, fünften oder achten Platzes zu schätzen. Achtbester in einer Welt von über sieben Milliarden Menschen und einem großen Anteil von Menschen mit Behinderung zu sein, ist ja auch eine besondere Auszeichnung. Trotzdem sage ich auch mit einem leichten Augenzwinkern: Wir lehnen keine Medaille ab, die erreicht werden kann und freuen uns mit unseren Top-Athleten. Wobei ich mir bei vielen einfach auch nichts anderes vorstellen kann als einen Platz auf dem Treppchen oder sogar ganz oben. Wenn unsere Athletinnen und Athleten auf den Punkt genau im Wettkampf das abrufen können, was sie jetzt über Jahre gezeigt haben, dann ist mir um die Erfolgsbilanz nicht bange.
OT: Mit Blick auf die Austragungsorte: Ist Paris für Para-Athlet:innen und deren Familien und Freunde vorbereitet?
Beucher: Paris hat die gleichen Defizite wie alle Großstädte dieser Welt: Sie sind nicht durchgängig behindertengerecht. Menschen mit Sehbehinderung stoßen auf viele Hürden oder es gibt beispielsweise Metro-Stationen, da kommen sie mit dem Rollstuhl nicht rein. Da ist zwar viel gemacht worden, aber am Ende muss es doch über Transportdienste sichergestellt werden. Grundsätzlich kann man aber sagen: Paris ist barrierefreier geworden. Fairerweise muss ich ergänzen: Die Stadt, die komplett barrierefrei ist, die muss erst noch geplant und gebaut werden.
OT: Sport und Politik sind zwei Themen, die gerne getrennt werden. Bei den Winterspielen in Peking begann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Nun geht ein starker Rechtsruck durch das Gastgeberland Frankreich. Muss der Sport sich auch politisch positionieren?
Beucher: Unsere Sportlerinnen und Sportler erleben immer wieder Diskriminierung. Sie erleben immer wieder Fremdenfeindlichkeit und sie erleben auch Rassismus. Vor diesem Hintergrund positionieren wir uns – vielleicht für den einen oder anderen deutlicher als andere – für Demokratie, gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Diskriminierung. Das ist einfach dem Umstand geschuldet, dass viele Menschen nicht demokratisch denken. Das gilt für Paris, das gilt mittlerweile in vielen Ländern auf der Welt, und das erleben wir ja auch hier bei uns in Deutschland mit den demokratiefeindlichen Bestrebungen der AfD.
OT: Zurück zum Sport: In Paris werden die besten Athlet:innen der Welt aufeinandertreffen. Wie sieht es aktuell im Nachwuchs in Deutschland aus? Gibt es genügend interessierte Kinder und Jugendliche, die den Weg in den organisierten Sport finden?
Beucher: Wir haben seit vielen, vielen Jahren ein grundsätzliches Nachwuchsproblem. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass es zu wenig Angebote in der Fläche für Behindertensport gibt und neun von zehn Sportstätten nicht barrierefrei sind. Vereinfacht gesagt: Viele, die Talente sein könnten, können ihr Talent nicht in ihrem Heimatort entwickeln, weil entweder der Weg zum nächsten Sportverein zu weit ist, kein Auto zur Verfügung steht, weil der Öffentliche Nahverkehr nicht funktioniert oder einfach keine Halle die nötigen Anforderungen erfüllt. Da haben wir aber in den vergangenen Jahren mehr als die Hausaufgaben gemacht und erfolgversprechende Projekte auf den Weg gebracht wie das Handbuch Behindertensport oder die Plattform parasport.de. Ein aktuelles Projekt heißt „Teilhabe VEREINfacht“. Das ist auf die Regelsportvereine ausgelegt, damit diese Angebote im Behindertensport oder im Kinder-Rehasport machen. Denn die rund 6.200 Behindertensportvereine können flächenmäßig auf das Gebiet der Bundesrepublik bezogen den Bedarf nicht abdecken, dass Jeder und Jede Gelegenheit zum Sport hat. Deshalb unser Appell an die Regelsportvereine: Öffnet euch für den Behindertensport, öffnet euch für inklusive Sportangebote!
OT: Welche Weichen müssen gestellt werden, damit diese Zahl noch anwächst?
Beucher: Grundsätzlich: Das ist nicht nur eine Aufgabe für uns, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Über 55 Prozent der Menschen mit Behinderung betreiben keinen Sport. Die sind nicht sportfaul, sondern in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen, können sie es schlichtweg nicht.
OT: Stichwort Hilfsmittel: Top-Athlet:innen werden mit den besten Versorgungen dank ihrer Kooperation mit der Industrie ausgestattet. Wie sieht es Ihrer Erfahrung nach bei Nachwuchssportler:innen aus?
Beucher: Es ist eigentlich ein Skandal, dass Menschen mit Behinderung mit vielen Krankenkassen um die Sporthilfsmittelversorgung kämpfen müssen und sehr oft die Anträge abgelehnt werden. Da kommen einige Krankenkassen ihrer Verpflichtung, die Menschen gleich zu behandeln, nicht nach. Und das ist ein Riesenproblem. Das wird dann immer dargestellt, als ob das nur Hobby sei, Sport zu treiben. Dabei geht es auch um gesundheitliche Prävention. Ich habe große Bedenken, dass die Zahl von 55 Prozent von Menschen mit Behinderungen, die keinen Sport treiben, nach oben ansteigt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass manche Vereine ihr Geld zusammenkratzen oder Crowdfunding machen. Die sind da sehr kreativ unterwegs, um jungen Menschen die Chance zu geben, Sport zu treiben.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), wurde am 21. Juli 1946 geboren. Nach dem Studium und Referendariat wurde Beucher zunächst Lehrer an einer Grundschule, von 1981 bis 1990 war er als Rektor an einer Gemeinschaftsgrundschule tätig. Anschließend zog er von 1990 bis 2002 in den Deutschen Bundestag ein, wo er von 1998 bis 2002 den Vorsitz des Sportausschusses innehatte. Nach seiner Zeit im Bundestag kehrte er bis zu seinem Ruhestand 2009 in den Schuldienst zurück und wurde erneut Rektor. Seit 2009 ist er Präsident des DBS. Er wurde für seine Verdienste u. a. für den Behindertensport mit dem Bundesverdienstorden 1. Klasse ausgezeichnet.
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