Behin­de­rung leicht und bei­läu­fig erzählen

Wenn reale Vorbilder im Leben fehlen, wo bekommen wir sie dann her? Für René Schaar, stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter des Norddeutschen Rundfunks (NDR), ist die Antwort eindeutig: aus den Medien. Mit dieser Aufgabe geht eine große Verantwortung einher. Doch kommen die Programmmacher:innen dieser nach?

In sei­ner Key­note auf der OTWorld „Who cares about repre­sen­ta­ti­on?“ zeig­te der 32-Jäh­ri­ge zahl­rei­che Bei­spie­le, wie Men­schen mit Behin­de­run­gen in Film und Fern­se­hen dar­ge­stellt wer­den – mit einem kopf­schüt­teln­den Publi­kum als Fol­ge. Doch statt nur mit dem Fin­ger auf die Macher:innen zu zei­gen, lob­te er eben­so Posi­tiv­bei­spie­le, die deut­lich machen, dass es auch anders geht.

Zu Beginn gab es gleich ein „Worst-Case-Sze­na­rio“. Die ZDF-Show „Wet­ten, dass …“ hat­te einen Jun­gen ein­ge­la­den, der im Roll­stuhl sitzt oder – wie Mode­ra­tor Tho­mas Gott­schalk es nann­te – an sei­nen Roll­stuhl gefes­selt ist und dem er die­ses Auf­ge­weckt­sein des­we­gen gar nicht zuge­traut hät­te. Das Umfeld: eine Büh­ne, die mit Roll­stuhl nicht zugäng­lich war und Gäs­te, die den Jun­gen von die­ser her­un­ter begrüß­ten. Die­ses Bei­spiel soll­te stell­ver­tre­tend ste­hen für die Zah­len, die dann folg­ten. Schaar stell­te die Ergeb­nis­se ver­schie­de­ner Stu­di­en vor, die auf­zei­gen: Im deut­schen Fern­se­hen haben ledig­lich 0,4 Pro­zent der Men­schen eine sicht­bar schwe­re Behin­de­rung. Da über­rascht es wenig, dass sich der Groß­teil der Men­schen mit Behin­de­rung (46 Pro­zent) unter­re­prä­sen­tiert fühlt. „Wenn die Lage so schlimm ist, wie sieht dann die Lösung aus?“, frag­te Schaar. Um die­ser auf die Spur zu kom­men, erläu­ter­te er „drei Fett­näpf­chen, in die man tre­ten kann“ – also drei Ste­reo­ty­pe, die von Men­schen mit Behin­de­run­gen in den Medi­en vor­herr­schen. Ers­tens: Sie wer­den als bemit­lei­dens­wer­te Wesen dar­ge­stellt. Da gibt es z. B. den „Glöck­ner von Not­re-Dame“, der ver­steckt wer­den muss, weil er ent­stellt ist, die stum­me Putz­frau in „The Shape of water“, die sich nur in einer Bezie­hung mit einem abstru­sen Was­ser­we­sen gese­hen und geliebt fühlt, oder „For­rest Gump“, der sug­ge­riert, dass man „nur wol­len muss“, um eine Behin­de­rung zu über­win­den, und am Ende des Films eine „Wun­der­hei­lung“ erlebt und sei­ne Geh­hil­fe ein­fach weg­wer­fen kann.

Ins­be­son­de­re Hor­ror-Fil­me wür­den das zwei­te Ste­reo­typ för­dern: angst­ein­flö­ßen­de Mons­ter. Wäh­rend „Cap­tain Hook“ die rudi­men­tärs­te Pro­the­se aller Zei­ten – einen Haken – trägt, und Seri­en­mör­der Fred­dy Krue­ger mit ver­brann­tem Gesicht in Erschei­nung tritt, hat Anne Hat­ha­way in „Hexen hexen“ nur jeweils drei Fin­ger an den Hän­den. Als drit­tes Ste­reo­typ nann­te Schaar Superheld:innen. Er selbst sei für eine Sen­dung mal als „Pre­mi­um-Behin­der­ter“ ange­fragt wor­den, nach­dem bis zu dem Zeit­punkt nur „rich­tig behin­der­te“ Prot­ago­nis­ten gefun­den wor­den waren.

Was kann man dar­aus ler­nen? Wie macht man es bes­ser? Statt wie in der Vox-Fern­seh­sen­dung „Beson­ders ver­liebt“ nur Men­schen mit Behin­de­rung auf­ein­an­der tref­fen zu las­sen, sit­zen heu­te am Restau­rant­tisch von „First Dates“ Men­schen mit und ohne Han­di­cap – die Macher:innen haben dazu­ge­lernt, fin­det Schaar. Ein Aus­schnitt aus der ARD-Serie „In aller Freund­schaft – Die jun­gen Ärz­te“ fiel ihm eben­falls posi­tiv auf: Auf die Taub­heit und Gebär­den­spra­che der Dar­stel­le­rin stellt sich der Kol­le­ge ein und schätzt ihre fach­li­che Kom­pe­tenz. „Die Behin­de­rung wird leicht und bei­läu­fig erzählt“, so Schaar. Er lob­te wei­te­re Bei­spie­le wie die Net­flix-Pro­duk­ti­on „Sex edu­ca­ti­on“ oder Fil­me des Stu­di­os Pix­ar wie „Fin­det Nemo“ oder „Red“. Auch er selbst hat eine Figur erschaf­fen, die Inklu­si­on in den Medi­en vor­an­trei­ben soll: Elin ist die ers­te Bewoh­ne­rin der „Sesam­stra­ße“, die im Roll­stuhl sitzt. „Die Reso­nanz war rie­sig“, berich­te­te Schaar, beglei­tet von einem für einen öffent­lich-recht­li­chen Sen­der unty­pi­schen „Can­dy­storm“.

Um her­aus­zu­fin­den, ob und wie Geschich­ten Ste­reo­ty­pe repro­du­zie­ren, stell­te Schaar den „Tyri­on Lannister“-Test vor. Drei Fra­gen die­nen dafür als Grund­la­ge: Ist eine Figur mit einer Behin­de­rung Teil eines wich­ti­gen Aspekts der Hand­lung? Wer­den Behin­de­run­gen rea­lis­tisch beschrie­ben, also nicht grau­sam über­zeich­net, glo­ri­fi­ziert oder ver­nied­licht? Geben die­se Figu­ren so viel, wie sie auch neh­men – wie aktiv sind sie also? Das NDR-Team nahm sich Fra­ge zwei selbst zu Her­zen und jus­tier­te Elins Roll­stuhl nach eini­gen Beschwer­den nach. Gemein­sam mit Orthopädietechniker:innen und Betrof­fe­nen wur­de ihr zu gro­ßer Roll­stuhl so ange­passt, dass er zu ihr pass­te und gleich­zei­tig kei­ne Pro­ble­me bei der Pro­duk­ti­on berei­te­te. Damit folg­te der NDR Schaars Man­tra „Not­hing about us wit­hout us“ (deutsch: Nichts über uns ohne uns). Von vorn­her­ein soll­ten Expert:innen in eige­ner Sache mit ins Team geholt und in den Ent­wick­lungs­pro­zess ein­ge­bun­den wer­den, ist er über­zeugt. Der 32-Jäh­ri­ge mach­te deut­lich, dass Inklu­si­on ein Men­schen­recht und kei­ne Cha­ri­ty ist und dass sie sich nicht nur für die Betrof­fe­nen selbst lohnt, son­dern auch wirt­schaft­lich. Denn Inklu­si­on erwei­te­re die Nut­zer­ba­sis. Zum Schluss zeig­te Schaar einen Bei­trag (2024 gestal­tet zum Welt-Down-Syn­drom-Tag), der noch ein­mal deut­lich mach­te, war­um es wich­tig ist, Men­schen mit Behin­de­run­gen auf Augen­hö­he zu begeg­nen und ihnen nicht auf­grund ihres Han­di­caps Fähig­kei­ten abzu­spre­chen. Die Bot­schaft: „Assu­me that i can – so may­be i will“ (deutsch: Geh davon aus, dass ich kann, und viel­leicht wer­de ich es tun).

Pia Engel­brecht

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